Doris Bewernitz

Glückskörner

Erzählungen, trafo verlag 2007, 165 S., ISBN (10) 3-89626-695-0, ISBN (13) 978-3-89626-695-8, 12,80 EUR

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Rezensionen

 

„Und wie sie da vor mir laufen, höre ich, wie eine zur anderen sagt:

‚Neunundneunzig, das ist aber ein stolzes Alter!’

Und ich denke: Neunundneunzig! Donnerwetter. Wenn ich so alt werde, hab ich noch fünfzig Jahre Arbeitslosigkeit vor mir!“

 

Doris Bewernitz schreibt Geschichten voller Leichtigkeit und Tiefe, Geschichten, in denen Brisantes nicht schöngeredet, ein persönliches Glück aber dennoch als „Wärmespeicher von der Größe eines Weizenkorns“ aufgespürt wird und Bedeutung gewinnt. Dass jeder von uns in diesen Erzählungen vorkommen könnte, das macht sie so skurril, so glaubhaft und so herzerwärmend.

 

„Renè wippt heute nur ganz leicht. Er hält den Oberkörper aufrecht und schiebt den Kopf vor und zurück wie ein Huhn. Seine Stirn ist im seltenen Zustand von Verbands- und Pflasterlosigkeit. Er hat sich mehrere Tage nichts angetan. Plötzlich hält er mit dem Schaukeln inne und sieht Lisa mitten ins Gesicht. Seine braunen Augen bekommen einen ungewöhnlich klaren und wachen Ausdruck. Lisa ist wie hypnotisiert. Die Härchen auf ihren Unterarmen stellen sich auf. Sie rührt sich nicht. ‚Renè’, sagt sie leise.“

 

Die Autorin Doris Bewernitz, geboren 1960, stammt aus Mecklenburg und lebt in Berlin. Sie ist Diplompädagogin und Kinderkrankenschwester und war in den verschiedensten medizinischen und sozialen Berufen tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete.

Bisher veröffentlichte sie ihre Kurzgeschichten, Erzählungen, Reisereportagen und Gedichte in diversen Anthologien und Zeitschriften.

„Glückskörner“ ist ihr erstes Buch im Trafo-Verlag.

Weitere Informationen unter: http://www.doris.bewernitz.net

 


 

Leseprobe

 

Onkel Theodor

Beerdigungen sind eine unangenehme Sache.

Besonders, wenn man gar nicht weiß, wer eigentlich gestorben ist.

Ein Brief kommt mir ins Haus geflogen mit schwarzem Rand: Unser geliebter Onkel Theodor … Theodor? Nie gehört, denke ich. Und drei Tage später der Beerdigungstermin.

Da der Brief von meiner Tante Friedel ist, fühle ich mich unbedingt verpflichtet, hinzugehen. Und da ihm keine Erklärung anhängt, geht sie wohl davon aus, dass ich einen Mann namens Theodor kenne.

Peinlichkeit breitet sich in mir aus. Wie nur erfahre ich, wer Theodor war? Wen kann ich fragen? Niemanden. Alle werden es sofort Friedel weitererzählen: »Stell dir vor, Harald hat mich gefragt, wer Theodor ist!«

Am Begräbnistag begebe ich mich zur angesetzten Zeit auf den Friedhof. Mit meinem schwarzen Anzug und einem mulmigen Gefühl. Eine Erinnerung an Theodor hat sich bis jetzt nicht eingestellt. Ich schüttle Hände, spreche wildfremden Menschen mein Beileid aus und sehe mich verstohlen nach Tante Friedel um, in der Hoffnung, dass sich nach ihren ersten Sätzen alles aufklären wird. Theodor, ach ja, natürlich, es wird mir sofort wieder einfallen. Doch Friedel erscheint nicht.

Ich begebe mich mit den anderen in die Kapelle. Die meisten sind alte Damen. Ein junger Kerl, sehr dünn und mit verpickelter Nase, läuft unglücklich zwischen ihnen herum. Dann ist da noch ein Greis, der sich auf einen Stock mit Elfenbeinknauf stützt. Die Stimmung ist ziemlich bedrückt. Ich forsche in den Gesichtern nach etwas Bekanntem. Wie kann ich so viele Verwandte haben, ohne sie zu kennen? Ich habe die familiären Beziehungen zu lange schleifen lassen. Das kommt dabei heraus.

Es ist eine schlichte Feier. Ohne Redner. Sogar ohne Pfarrer. Das wundert mich, denn unsere Familie ist eigentlich sehr religiös. Außerdem bedauere ich es, weil ich aus der Rede etwas zu entnehmen gehofft hatte, was meinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft.

Vorn steht eine schwarze Urne mit Goldrand. Die Musik ist unerträglich, sie kommt vom Band und das Gerät hakt alle zwei Minuten. Dann erscheint der Urnenträger. Ich fühle mich schuldig und bitte diesen ominösen Theodor um Verzeihung, dass mir auch in der letzten halben Stunde nichts aus seinem Leben eingefallen ist. Mit einem merkwürdigen Gefühl trotte ich hinter den schwarz gekleideten Damen her, als Letzter. Und wie sie da so vor mir laufen, höre ich, wie eine zur anderen sagt:

»Neunundneunzig, das ist aber auch ein stolzes Alter!«

Und ich denke: Neunundneunzig! Donnerwetter. Wenn ich so alt werde, hab ich noch fünfzig Jahre Arbeitslosigkeit vor mir!

Ein Bläsertrio steht auf der Wiese der anonymen Gräber. Sie spielen »Ich hatt einen Kameraden« und »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss«. Sehr getragen.

Der Urnenträger versenkt das goldgerandete Stück und sagt: »Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Und ich stehe da und denke: So geht’s. Du stirbst und an deinem Grab stehen Leute, die dich nicht kennen, die sich noch nicht einmal an dich erinnern. Üble Gedanken. Ich werfe mir vor, mich in den letzten zwanzig Jahren zu wenig um meine Verwandtschaft gekümmert zu haben. Ein Eigenbrödler geworden zu sein, ja, ein Egoist. Horrorvisionen von totaler Vereinsamung tauchen vor meinem inneren Auge auf: Ich, alt und gebrechlich, zusammengesunken auf dem Fußboden, völlig hilflos. Niemand, der nach mir schaut, nach mir fragt, niemand, den ich anrufen kann. Weil ich keinen mehr kenne. Mich fröstelt. Ich beschließe, diesen Zustand augenblicklich zu ändern. Noch heute werde ich nach Friedel sehen. Sicher ist sie krank. Sonst wäre sie doch gekommen. Schließlich hat sie mich eingeladen!

Ich stelle mich in die Reihe, um wie die anderen Sand in das kleine Loch zu werfen, drei Hände voll. Niemand weint. Ob die ihn auch alle nicht kannten, frage ich mich. Aber das geht wohl nicht an.

»Und nun«, sagt die füllige Frau, die als erste nach dem Urnenträger aus der Kapelle kam, »nun liebe Freunde und Verwandte, lade ich euch noch zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen zu Ehren Theodors ein, in das griechische Restaurant, direkt gegenüber dem Friedhof.«

Das geht zu weit, denke ich, wenn ich mich bis jetzt diesen Menschen nicht zuordnen konnte, wird es mir auch beim Kaffeetrinken nicht gelingen, im Gegenteil, das Übel wird sich zuspitzen, womöglich verrate ich mich noch und die Bloßstellung wird umso schrecklicher. Ich will niemanden verletzen, am wenigsten mich selbst, also gebe ich allen die Hand, verabschiede mich höflich, bedanke mich für die Einladung, »aber die Arbeit, die Arbeit«, es täte mir leid. Sie nicken verständnisvoll, und es kommt mir fast so vor, als wären sie erleichtert: »Natürlich, alles Gute …«

Niemand spricht mich mit Namen an. Niemand scheint zu wissen, dass ich seit drei Jahren arbeitslos bin. Irgendwie tröstet mich das.

Und dann rutscht sie mir doch noch heraus, diese vermaledeite Frage. Hätte ich mir doch die Zunge abgebissen! Es muss an der Erleichterung liegen, an der Aussicht, diesen qualvollen Ort bald verlassen zu können, oder daran, dass die letzte Dame, der ich die Hand drücke, mich so freundlich ansieht.

»Was ist denn mit Friedel?«, frage ich. »Geht es ihr sehr schlecht?«

Man will eben dazugehören, es ist immer dasselbe.

»Friedel?«, sagt die Frau und sieht plötzlich gar nicht mehr so freundlich aus. »Ja, sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich?«

Ich winde mich, komme mir vor wie ein gescholtenes Kind und stottere, womit ich alles noch schlimmer mache: »Na, ich meine doch nur, weil sie nicht da ist.«

Jetzt steigt eine bedrohliche Zornesröte in das Gesicht der alten Dame. »Ach, so einer sind Sie, ja? Ich soll nicht mehr da sein? Finden Sie solche Witze wirklich passend an diesem Ort?«

Langsam kommen die anderen näher. Nun stehen sie um uns herum, wie früher auf dem Schulhof, wenn zwei Streithälse kurz davor waren, sich die Köpfe einzuschlagen.

Gemurmel erhebt sich: »Ich hab mich auch schon gewundert.« – »Kennst du den?« – »Beerdigungstouristen, ganz üble Sorte.« – »Sieht ’n bisschen verrückt aus, oder?«

»Verzeihen Sie, wirklich, bitte …«, stoße ich hervor und renne, vorbei an bösen Blicken, dem schmiedeeisernen Tor zu. Meine Verstörung ist vollkommen. Ich kenne doch Friedel! Sie ist meine Tante, oder? Werde ich verrückt? Wirkt es sich derartig aus, drei Jahre nicht mehr unter Kollegen gewesen zu sein? Ich habe so was schon gehört. Desorientierungen treten auf. Zum Ort, zur Zeit, am Ende zur eigenen Person! Einsamkeitskoller. Verfremdung. Soziale Untauglichkeit.

Außer Atem lange ich zu Hause an. Ich lehne den Rücken von innen gegen die Wohnungstür. Dann befühle ich mich, finde mich vollständig, besehe mich im Spiegel und stelle erleichtert fest, dass ich das Gesicht noch kenne, ja, auch mein Name fällt mir noch ein. Und dann greife ich zum Telefon.

»Friedel?«

»Harald, mein Junge, das ist aber nett, dass du dich mal meldest! Wie geht’s dir denn?«

»Mir? Sag erst mal, wie es dir geht. Ist alles in Ordnung, Friedel?«

»Bestens. Danke der Nachfrage. Brauchst du Geld? Oder wieso sorgst du dich plötzlich um deine alte Tante?«

»Nein. Ich muss was aufklären. Ich dachte … vorhin auf dem Friedhof … Sag mal, warst du heute bei ner Beerdigung?«

»Na Harald, dir scheinst was zu fehlen! Hast du getrunken? Auf wessen Beerdigung sollte ich gewesen sein?«

»Auf der von Onkel Theodor.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich kenne keinen Theodor!«

»Und warum hast du mir dann den Brief geschickt?«

»Welchen Brief?«

»Ich komme rum und zeige ihn dir. Ja?«

»Mach das.«

Friedel wohnt sechs Straßen weiter. Ich lege die Strecke im Laufschritt zurück. Sie wirft einen Blick auf den Umschlag. Dann hält sie ihn mir vors Gesicht.

»Der ist gar nicht an dich! Wie kommst du denn zu dem?«

Ich muss mich setzen.

»War in meinem Briefkasten.«

»Also diese Postboten heutzutage«, meint sie gutgelaunt, und holt neugierig die Karte heraus. »Ist doch gar nicht meine Handschrift! Und du warst tatsächlich da?«

Ich nicke und komme mir wie ein Idiot vor.

»Mensch, Harald«, lacht Friedel, »auf ’ner Beerdigung von ’nem völlig Fremden! Das ist ja ’n Ding.« Sie amüsiert sich köstlich. »Aber mach dir nichts draus. Wenn man’s genau besieht, sind wir ja alle ein bisschen verwandt, so von Adam und Eva her, oder?« Dann stellt sie Wasser auf den Herd. »Nett eigentlich, dieser Theodor«, meint sie. »Immerhin hat er dafür gesorgt, dass wir uns mal wieder sehen. Wir sollten auf ihn anstoßen. Wie alt ist er denn geworden?«

»Neunundneunzig«, sage ich.

»Donnerwetter! Na, da haben wir ja noch ’n bisschen Zeit. Da können wir ja noch den Nachmittag zusammen verbringen. Ich mach uns mal ’n schönen Kaffee, einverstanden?«

 

* * *