[= Autobiographien, Bd. 33], 2008, 484 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-687-3, 34,80 EUR
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Gerda Zorn wird 1920 in Berlin geboren, erlebt wie viele andere ihrer Generation vier deutsche Systeme. Die Schulzeit verläuft in der Weimarer Zeit. 1934 beginnt ihr beruflicher Weg. Auf Empfehlung kann sie bei der Tobis Filmgesellschaft anfangen. Als sie sich weigert, dem BDM beizutreten, muß sie die Firma verlassen, kommt aber als Sekretärin im Reichsverband der Presse unter. Das Kriegsende erlebt sie in Berlin bei der deutschen Propaganda-Nachrichtenagentur Transocean. Nach Kriegsende findet sie Arbeit bei der Presse der russischen Allierten in Berlin, 1950 wird sie Redakteur im Amt für Information in Ost-Berlin. Für einen Kinobesuch in West-Berlin bestraft man sie und schickt sie zur ‚Bewährung’ in eine Fabrik. Sie wehrt sich und erhält quasi ein Berufsverbot. Als ein alter Freund aus der Bundesrepublik sie besucht und ihr einen Heiratsantrag macht, folgt sie ihm 1956 in die Bundesrepublik. Beide engagieren sich hier stark in der linken politischen Bewegung. Gerda Zorn arbeitet unter anderem als freie Journalistin, ist ehrenamtlich in der VVN und dem Schriftstellerverband tätig, engagiert sich in der Friedensbewegung und leistet wichtige publizistische Beiträge zur kritischen Aufarbeitung der deutschen Vor- und Nachkriegsgeschichte. Heute lebt sie in Hamburg. Die erste Auflage Ihrer Autobiographie fand großes Interesse. Ihre Freunde drängten sie, ihre Lebensgeschichte fortzuschreiben. Nun ist es geschafft!! Gerda Zorn versteht das Buch zugleich als Dank und Erinnerung an all die Menschen, die sie auf ihrem kämpferischen Weg begleitet haben. |
Inhaltsverzeichnis
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Schicksal, nimm deinen
Lauf 174 Der Sturz 257 |
Zweites Buch 395
Hamburg 451
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Nach meiner Übersiedlung in die BRD 1956 habe ich manches,
was mich aus der DDR forttrieb, neu gesehen. Aufgewachsen mit der inneren
Ablehnung der braunen Diktatur, erlebte ich die Befreiung 1945 als Chance, mich
endlich für etwas einsetzen zu können. Sozialismus hieß für mich: Nie wieder
Krieg, nie wieder Faschismus! Ich fühlte mich eins mit der Jugend der Welt, die
1951 zu den Weltfestspielen in die DDR kam. Gemeinsam sangen wir: »Du hast ja
ein Ziel vor den Augen, damit Du in der Welt Dich nicht irrst.«
Bis heute können viele nicht begreifen, ob, wie und warum sie einem Irrtum
erlagen.
Natürlich trug immer die andere Seite Schuld, wenn etwas schief ging. Für die
nazistische Jugend waren nicht Hitler und seine Mannen dafür verantwortlich,
dass Deutschland den Krieg verlor. Für den Großteil der Bevölkerung, der unter
jeder Führung sich irgendwie arrangierte, war – und ist es bis heute –
selbstverständlich, dass man das tat, was von oben befohlen wurde. Soldaten
halten bis heute an dem Irrtum fest, für das Vaterland zu kämpfen.
In der östlichen »Neuen Welt« wuchsen Generationen im Glauben auf, der
Sozialismus löse alle Probleme. Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen,
hieß es im Ostblock und besonders in der DDR. In dem Irrtum, selbst entscheiden
zu können, wo sie Freiheit finden und wofür es sich lohnt, zu kämpfen, trennten
sich Menschen und ganze Völker. Die Mehrheit blieb und trottete wieder mit. Hier
Ost, dort West, hier Sozialismus, dort Kapitalismus.
Die Schuldfrage stellte sich vor allem für die Politiker und ihre Claqueure,
sprich Meinungsmacher in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Für sie waren immer die
anderen schuld. So wie Mann es am Biertisch diskutierte (Frauen hielten sich
meist zurück), wurde es an den eckigen oder runden Tischen der Diplomaten und
auf Pressekonferenzen verlautbart. Für uns waren es die USA und die Amis, der
Kalte Krieg, Adenauer und die Bonner. Kritik und »Selbstkritik« im eigenen Lager
gab es nur von oben nach unten. Was und wie sich unter diesen Bedingungen eine
neue Diktatur entwickelte, können viele bis heute nicht begreifen.
(Parteisoldaten halten weiter an dem Irrtum fest, für Sozialismus-Kommunismus
gekämpft zu haben.) Wie viele daran zerbrachen und warum eine für die
sozialistische Weltmacht begeisterte Jugend schließlich abhaute, versuchte ich
an persönlichen Schicksalen zu verdeutlichen.
Ob es mir gelungen ist, können nur die Leserin und der Leser beurteilen. Ich
fürchte, viele, die mich als Journalistin und Autorin des Widerstandes gegen die
braune Diktatur kennen, werden enttäuscht sein, es vielleicht sogar als Verrat
ansehen, dass ich ausspreche, was viele von ihnen seit Jahren und weiterhin
versuchen, unter den roten Teppich zu kehren. Sie mögen bitte verstehen, dass
ich mit meiner autobiographischen Erzählung neuer Schönfärberei, neuen
Schuldzuweisungen, neuen Verfolgungen und Lügen vorbeugen möchte.
Der Kampf gegen das Böse ist nicht zu Ende – er kann nur siegreich beendet
werden, wenn alle politisch aktiven und interessierten Menschen unseres Landes
der Wahrheit ins Auge schauen, sich nicht mehr verführen und verdummen lassen.
Von welcher Seite auch immer.
Gerda Zorn
Hamburg, im Februar 2008
Sonne, Mutti, Sonne
Berlin N. Hinterhof. Gotlandstraße, die von der Bornholmer abzweigt. Jener
Bornholmer, die später bekannt wurde als Grenze zwischen Ost-und West-Berlin.
Einst führte sie über die schön geschwungene Eisenbahnbrücke. Dort, wo die
S-Bahn ihren Bahnhof hatte. 28 Jahre lang war sie gesperrt – abgesperrt für
alle, die keinen Passierschein hatten. Der Bahnhof verfiel. Die »Neubauten«
bestanden aus Baracken, in denen Menschen aus West überprüft wurden, ob man sie
hereinlässt. Rein in das, was als Hauptstadt der Deutschen Demokratischen
Republik in die Geschichte einging. Später durften Omas und Opas, die Bürger der
DDR waren, auch über die Brücke nach West-Berlin. Natürlich nicht ohne vorher in
eine Baracke zu gehen, in der sie von ihren Grenzpolizisten überprüft wurden, ob
man sie herauslassen kann. Lange glaubte Jenny an die Notwendigkeit dieser
Grenze.
Gotlandstraße, im letzten Haus am Ende der Straße wurde sie geboren. Ein
Sonntagskind, das eigentlich ein Junge werden sollte. Hinter den Häusern begann
eine Laubenkolonie. Dazwischen ein Stück Freiland. Eines Tages standen dort
Zigeunerwagen. Jenny inzwischen sechs Jahre alt und sehr neugierig, wollte
wissen, wie es darinnen aussieht. Ihre Neugier wurde geschürt durch das, was die
Leute redeten. »Zigeuner klauen – auch deutsche Kinder! In einem Wagen wohnt der
Zigeunerbaron. Geht da nicht hin.« Da sich keiner der Straßenkinder in die Nähe
wagte, ging sie allein hin. Die Tür war offen. Sie sah Wandteppiche – so etwas
kannte sie nicht. In ihrer Arme-Leute-Gegend gab es nur Fußabtreter. Die
Einrichtung des Zigeunerbarons wurde in der Erinnerung immer schöner, glänzender
reichhaltiger, komfortabler. So wollte sie leben. In einem Wohnwagen von Ort zu
Ort ziehen, immer der Sonne nach.
»Sonne, Mutti, Sonne«, waren ihre ersten Worte als Kleinkind. Sie stand am
Küchenfenster, die Händchen ausgestreckt, und zeigte auf die gegenüberliegende
Seite des Hauses, da – Sonne Mutti. Nie kam ein Sonnenstrahl in ihre Wohnung.
Küche und Stube lagen an der Nordseite. Die Außenwand war feucht. Die Stube
wurde nur an hohen Festtagen beheizt. Kohlen waren teuer. Der Vater war
arbeitslos. Mutter saß in der Küche an der Nähmaschine und nähte Mäntel in
Heimarbeit für eine Firma. Neben dem Herd – auch er wurde mit Holz und Kohle
befeuert – stand der Kohlenkasten. Hier saß Jenny, wenn sie Schularbeiten
machte.
Der Vater versuchte durch Schwarzarbeit etwas dazu zu verdienen, die 28 Mark
Arbeitslosenunterstützung reichten gerade für die Miete. Wie es ihnen trotzdem
gelang zu sparen, um ein kleines Grundstück am Stadtrand in Pankow-Heinersdorf
zu kaufen, ist Jenny noch heute ein Rätsel. Sie erinnert sich nur, dass sie,
sobald es Frühling wurde, mit Sack und Pack hinauszogen. Vater hatte einen
großen zweirädrigen Karren. Auf ihn wurden die Nähmaschine, die Betten, Stühle
und etwas Geschirr geladen. Dann spannte sich Vater davor und zog den Wagen von
der Bornholmer in die Schönhauser Allee über Pankow, Granitzstraße zur
Laubenkolonie »Feuchter Winkel«.
Jeder Berliner war – wenn er nur konnte – ein Laubenpieper. Vater pflanzte
Blumen und Obstbäume, während die Mutter nähte. Julius, dem die Kneipe nebenan
gehörte, holte ihn öfter zum Bierausschank oder als Rausschmeißer. Mit seiner
Größe von 1,85 Metern und den breiten Schultern war das für ihn kein Problem. Er
brauchte keine Gewalt – er sah die Leute nur an und schob sie raus.
Jenny liebte ihren Vater. Für sie war er der schönste Mann.
Als die Nazis nach dem von Göring inszenierten Reichstagsbrand im Berliner
Norden, in der Schönhauser Allee, der Bornholmer- und Gotlandstraße
sozialdemokratische und kommunistische Genossen aus den Wohnungen holten,
fürchtete er, sie kommen auch eines Tages zu ihm. Er machte die Laube
winterfest, und sie zogen für immer nach Heinersdorf. Hanni fand es feige. Jenny
hatte oft mit ihr auf dem Hof gespielt. Ihr Vater war bei der Kommune. Jennys
Vater war Sozi. Gemeinsam gingen sie in die Weltliche Schule Sonnenburger
Straße. Hier lernten vorwiegend Kinder aus Arbeiterfamilien, die mit Kirche und
Religion nichts am Hut hatten. Jenny gehörte zur Kindergruppe der Roten Falken.
Hanni wollte so werden wie Rosa Luxemburg. Eine rote Frauenführerin, das war ihr
Ziel. Sie war auch die einzige, die noch den Mut hatte, illegal an einer
Jugendweihe teilzunehmen, die wir eigentlich alle gewollt hatten. Aber der
braune Führer hat es nicht erlaubt. Er hat unseren Rektor und Lehrer Knief
rausgeschmissen. Ein Reformer dessen Plan es war, uns in einer Aufbauklasse zur
mittleren Reife weiterzuführen. Er wollte, dass Arbeiterkinder, die aus
Geldmangel keine höhere Schule besuchen konnten, die Chance einer besseren
Ausbildung bekamen. Damit war dann auch Schluss – wir mussten zum
Religionsunterricht und wurden eingesegnet. Und das obwohl mein Vater viel auf
die Pfaffen schimpfte, die in seinem Dorf immer auf der Seite der Gutsherren
standen. Diese und ähnliche Geschichten erzählte sie später gern Freunden, die
aus gut bürgerlichen Familien kamen. Sie provozierte die in ihren Augen
bornierten Gymnasiasten mit ihrem Stolz auf ihre proletarische Abstammung. Dass
sie damit immer beliebter wurde und Erfolg hatte, fand sie selbstverständlich
und verstand nicht, warum andere Mädchen sich ihrer armen Eltern schämten.
Sie hörte die Geschichten ihres Vaters, wenn er aus seiner Jugend erzählte, wie
andere Kinder die Märchen von Hänsel und Gretel.
»Iskrut, der Gutsbesitzer, bei dem ich als Kind schwer arbeiten musste, schickte
den Pfarrer zu meinen Eltern, als ich heulend nach Haus gelaufen war, weil
Iskrut mich geschlagen hatte. Der Pfarrer forderte, dass mein Vater mich sofort
zu Iskrut zurückschickt, sonst würde er den Jungen nicht einsegnen! Vater
antwortete: »Wenn sie ihn nicht einsegnen, Herr Pfarrer, dann schicke ich ihn zu
der Katholischen, die werden ihn schon einsegnen.« Der Pfarrer wurde ganz klein
mit Hut – er hatte Angst, sein Schäflein zu verlieren und redete dem Gutsherrn
ins Gewissen. Papa war stolz auf seinen Vater und Jenny auf ihren.
Jenny liebte diesen Großvater, den sie nie kennengelernt hatte, schon allein
wegen dieser Heldentat, die es unter den damaligen Umständen auf einem kleinen
westpreußischen Dorf war. Umso größer war ihre Enttäuschung über die Eltern, die
ihr nicht die illegale Jugendweihe erlaubten. Auch wenn es eine Teilung zwischen
den Mädchen der Sozis und der KPD gab, gegen die Nazis hielten sie zusammen.
Eigentlich wusste Jenny von den Kommunisten nichts anderes, als das Hanni, immer
wenn es um Geld ging, dieses umrechnete in Schrippen. Sollten sie für einen
Ausflug ein paar Pfennige mitbringen, dann sagte sie, das macht fünf Schrippen.
Jennys Vater rechnete nicht in Schrippen, er legte Pfennig für Pfennig zurück
und baute aus der Laube ein Haus in eigener Initiative. Allerdings musste er der
Baubehörde eine Zeichnung von einem Architekten vorlegen. Die bestimmte, dass
das Haus nur eine gewisse Höhe haben dürfe. Das bedeutete, dass der Dachboden,
auf dem ein Zimmer für Jenny entstand, so niedrig war, dass sie mit ihrer Größe
von 1,64 Metern nur in der Mitte stehen konnte. Ihre diversen Freunde und
Verehrer, die es wagten – besser gesagt denen sie erlaubte, die Hühnerleiter zu
ihr zu erklimmen, mussten fast auf Knien rutschen. Was ihr sehr recht war, denn
so stellte sie sich die Liebe vor. Freunde unter 1,80 Metern Größe kamen für sie
ohnehin nicht in Frage. Und schwarzhaarig mussten sie sein, mit braunen
Rehaugen. Wie Henry! Als er ihr Geliebter wurde, durfte er in ihrer »Hütte«
schlafen. Der Regen prasselte auf das Dach, sie war glücklich.
Die »Hühnerleiter« war eine geniale Idee ihres Vaters. Sie führte von dem
vorderen Raum nach oben zur Bodenklappe. Henry war ihre erste Liebe. Sie
schwärmte von dem »schwarzen Zigeuner«.
»Dein Gipsy« schrieb er unter seine poetischen Liebesbriefe.
Das war während des Krieges, als er an der Front war. Später übernachtete Baja,
ihre Freundin, im »Heim zur bebenden Erde«. Sie hatten die »Skihütte« während
der Bombennächte umgetauft, nach einem Text von Eule, der auch die Melodie dazu
schrieb.
»Hufschlag dröhnt, es bebt die Erde, weiter, weiter immerzu rasen wir auf wilden
Pferden, neuen Abenteuern zu.«
Sie sangen es in Erinnerung an Jennys Afrika-Clique, während am Himmel die
Bomber nach Berlin rein flogen.
Doch das ist eine andere Geschichte.
Liebe 1936
Das Jahr der Olympiade. Berlin war Internationaler Treffpunkt. Wie viele hinter
der glänzenden braunen Fassade als Gegner des Regimes verhaftet wurden, wussten
sie nicht. Sie waren jung und verliebt. Auch als er ihr das Abzeichen mit der
weißen Lilie zeigte, liebte sie ihn. Er trug das Abzeichen versteckt und
flüsterte geheimnisvoll: »Verboten«! Sie flüsterte zurück, dass ihr Vater
Sozialdemokrat sei und sie vor 1933 bei den »Falken« war, die auch verboten
seien. Dann malte sie in den Sand drei Pfeile. »Die trug mein Vater bei den
Reichsbannern!«
Vergessen war, dass sie die Bündischen mit der weißen Lilie als »bürgerlichen
Verein« verachtet hatte. Jetzt war Jenny froh, einen zu treffen, der auch
»verboten« war. Sie machten sich wichtig voreinander. Beide fanden es
interessant, anders zu sein als die breite Masse – die sie nun gemeinsam
verachteten. Sie lebten vom Anderssein. Wie, warum, woher war gar nicht mehr so
wichtig. Hauptsache anders. Es stärkte ihr Selbstbewusstsein. Jenny machte schon
immer aus ihrer Not eine Tugend. Die meisten Bündischen waren Oberschüler. Jenny
und ihre Falken übertrumpften sie, indem sie betonten: »Wir« sind keine
»Spießer«. So züchtete jeder seinen Standesdünkel. Jetzt lernte sie einen
kennen, der ein »Bündischer« war und trotzdem kein Spießer. Ein »Bündischer« der
zum Verbündeten wurde.
Sie hatte sofort das Bedürfnis, ihm alles von sich zu erzählen. Endlich einer,
vor dem sie keine Geheimnisse haben musste. Sie erzählte von ihrer Schule: »Wir
hatten zwei politische Gruppen in der Klasse – die Falken bildeten eine Clique,
die Kommunisten die andere. Etwas zu missachten, ohne es zu kennen, war in jeder
Clique üblich, wie bei unseren Eltern und ihren Parteien. Bis die Nazis uns alle
verboten und gleichschalteten. In unserer Schule fing es damit an, dass unser
sozialdemokratischer Rektor und Klassenlehrer Knief der Gewalt weichen musste.
Nie werde ich vergessen, wie er zum letzten Male vor uns stand. Klein, die
gebeugten Schultern noch hängender als sonst. Die guten grauen Augen auf uns
gerichtet, so als ob er sich das Gesicht jeder seiner Schülerinnen noch
einprägen müsse. Seine feinen schmalen Hände umklammerten den Stuhl, als wenn er
sich festhalten wollte. Wir sahen ihn fassungslos an. Wir konnten und wollten
nicht begreifen, was er gesagt hatte: »Ich möchte mich von euch verabschieden.
Ich verlasse den Schuldienst und wünsche euch für Euer weiteres Leben alles
Gute.« Jenny schluckte noch in der Erinnerung, bevor sie weitersprach.
»Wir wollten fragen. Zögernd hoben sich unsere Finger. Da wurde die Tür zu
unserem Klassenzimmer aufgerissen. Ein Mann stampfte herein. Hohe Stiefel,
Reithosen, krumme Beine. Vom Rockaufschlag seines Jacketts sprang uns das
Hakenkreuz entgegen. Laut knallten die Hacken: »Heil Hitler!« Zum ersten Male
hörten wir diesen Gruß in unserer Schule. Hasserfüllt sahen wir ihn an. Er
merkte es. Siegessicher wandte er sich an Knief: »Nun Herr Kollege, haben Sie
sich von Ihrer Klasse verabschiedet? Dann darf ich Sie bitten, mich
vorzustellen!« Es klang wie Hohn. Mit abgehackter Stimme sprach er uns an: »Von
heute ab bin ich Euer Klassenlehrer. Wie Ihr wisst, hat das deutsche Volk
unseren Führer am 30. Januar zum Kanzler gewählt. Er hat damit ein schweres Amt
übernommen. Aber wir werden es schaffen! Deutschland wird wieder groß und
mächtig sein! Und Ihr, Deutschlands Jugend, werdet dem Führer helfen. Eine
herrliche Zukunft liegt vor euch«. Er machte eine Pause. Berauscht von seinem
eigenen Wortgeklingel. Uns konnte er damit nicht imponieren. Dieses Hakenkreuz!
Es hatte in unserer Schule nichts zusuchen. Wir wollten unseren drei Pfeilen
treu bleiben – wie die anderen ihrem Hammer mit Sichel. Wenn wir auch nichts
mehr davon zeigen durften. »Tja, Herr Kollege, dann darf ich Sie wohl bitten –
ich möchte mit dem Unterricht beginnen.« Breitbeinig stand er da, die Hände in
die Hüften gestützt, während Knief sich noch immer am Stuhl festhielt. Wir
empfanden es als glatten Rausschmiss. Warum ließ er sich das bieten? Wir wollten
ihm doch beistehen, wir fühlten uns doch mit unserem alten Knief verbunden. Aber
er schlich hinaus und überließ uns, seine Klasse, diesem Nazi. Ich hatte eine
wahnsinnige Wut. Mir kam es vor wie Verrat, dass er so von uns ging. Einige
wischten sich verstohlen die Augen.
»Na, Ihr scheint nicht sehr erfreut, einen neuen Lehrer zu bekommen? Haben euch
wohl ganz schön verhetzt in dieser weltlichen Schule?« Er spuckte das Wort
verächtlich aus und schnarrte im militärischen Tonfall: »Das wird jetzt alles
anders hier. Der Führer will eine starke, geistig und körperlich gesunde Jugend
– keine Waschlappen, keine Duckmäuser. Wir treffen uns jetzt jeden Morgen zum
Appell. Ich denke, dass wir euch auch noch hinbiegen werden. Ein neues
Deutschland erwartet euch.«
»Wie du das erzählst«, meinte ihr neuer Freund. »Mir kommen fast die Tränen.
Drei-Pfeilchen-Baby.« Er lachte über seine Erfindung. Ihr war es aber verdammt
ernst. Sie hasste die Nazis und ihre Ohnmacht. Sie hätte gern etwas gegen dieses
System unternommen. Aber von ihr verlangte niemand eine Tat. Im Gegenteil. Zu
Hause hatten sie ständig Angst, sie könnte etwas sagen, was alle hinter Gitter
brächte. »So schnell sperren die auch nicht ein«, meinte Henry. Er ließ sich
Henry rufen, das war seine Art Widerstand gegen die Nazis. Ein englischer Name
und Swingmusik. »Für die ist die Hauptsache, dass sie die Macht haben.«
Jenny fragte ihn, warum sie uns und unsere Organisationen dann wohl verboten
hätten. »Na, damit wir diese Macht nicht gefährden«, lachte er. Er kam sich wohl
ungeheuer klug vor. Seine ganze Art reizte sie zum Widerspruch. Er war eben doch
nur ein »Bündischer« und kein Verbündeter. Sie war maßlos enttäuscht. »Ihr? Dass
ich nicht lache. Romantiker mit der Unschuldslilie. Was ist denn aus euch
geworden? Die meisten ordnen sich doch ein in die neue Stramm-Steh-Richtung. In
die hirnlose Masse, zack-zack und steh. Stramm-Steh-Männchen!«
Sie musste sich rächen für das Drei-Pfeilchen-Baby. Er war begeistert über ihren
Temperamentsausbruch. »Kleiner roter Falke, nimm nicht alles so tragisch. Wo
mache ich zack-zack und steh? Doch höchstens bei Dir«, lachte er. Dann küsste er
sie, und sie war froh einen zu haben, mit dem sie reden konnte.
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