Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

Till Sailer

Ein unsichtbares Feuer. Vermischte Texte 1963-2006

Essaysammlung, trafo verlag 2007, 345 S., engl. Broschur: ISBN 978-3-89626-686-6, 19,80 EUR,  Hardcover: 978-3-89626-683-5, 26,80 EUR

 

 => Lieferanfrage

Zu den Besprechungen

   Inhalt

 

   Leben in Geschichten/Statt eines Vorworts 7

 

   Schloß Bergfried 15

   Heckenrosen 31

   Lehrstunde mit Albert Ebert 43

   Ein Engel kommt zu Besuch 46

   Die Dame mit dem Hermelin 60

   Der Antrag 72

   Begegnung in Weimar 84

   Die Schwester 97

   Die Laute des Hans Lautenschläger 122

   Distler im Drachenhaus 130

   Ein unsichtbares Feuer 144

   Ein Tag Pirosmani 168

   Helle Nächte 181

   Erben 187

   Der Weg nach Golzow 218

   Abstieg vom Stramboula 238

   Freundinnen 248

   Die Schweineschnauze im Sowjetgarten 261

Nach der Ankunft im Supermarkt 273

Verirrung 284

Scheherezade 1001 291

Das Gastgeschenk 299

Wald, Wald, Wald 311

Hundert Gedichte, nicht von Brecht 322

Späte Aufklärung 326

 

Anhang 341

Quellennachweis 341

Zum Autor 344

 

Leben in Geschichten

Statt eines Vorworts

Das vorliegende Buch besteht überwiegend aus autobiographischen Arbeiten. Es sind kurze Stücke verschiedener Art, die im Lauf von über vierzig Jahren entstanden und die Suche des Autors nach dem eigenen Standort authentisch belegen. Etwa die Hälfte dieser Kurzgeschichten, Miniaturen, Essays, Skizzen oder Dialoge sind hier zum ersten Mal abgedruckt. Darunter befinden sich vor allem solche Texte von 1963 bis 1985, deren Veröffentlichung mir wegen der damals vorherrschenden ideologischen Enge nicht geraten erschien. Andere Beiträge kamen verstreut an die Öffentlichkeit, in Zeitschriften, im Radio, in Anthologien. Vor der Wende waren das fast nur Texte, die sich der Suche nach antifaschistischen Vorbildern widmeten. Die nach der Wende geschriebenen Stücke sind dagegen beinahe alle einmal oder mehrfach erschienen. Sie spiegeln die Auseinandersetzung mit den Bedingungen für Literatur im vereinten Deutschland. Obwohl jeder Text für sich steht, gehen Autor und Verlag davon aus, daß diese Anthologie einen Bogen schlägt und so ein vielfältiges Ganzes ergibt. Hinter den einzelnen Lebensstationen scheint eine innere Biographie hindurch, so daß sich dem Leser aus einzelnen Wegstrecken ein Leben in Geschichten erschließt.

Beim Schreiben, so meinte ein großer Schreiber, gehe es eigentlich immer um Autobiographie. Diese Behauptung Thomas Manns habe ich über die Jahre immer wieder kritisch hinterfragt. So gesehen würden etwa die Geschichten zu Meistern der Musikgeschichte, die bei mir den Schwerpunkt der künstlerischen Produktion bilden, auch über mein Leben Auskunft geben. Wohl konnten sie nur entstehen, weil ich schon früh ein Musikstudium begann und zunächst als Musiker, später als Musikredakteur im Rundfunk tätig war. Dennoch sehe ich deutliche Unterschiede zwischen den historischen Texten über andere und den parallel entstandenen Versuchen über mich selbst.

Die Neigung, mit literarischen Mitteln große Musikerpersönlichkeiten zu schildern, und das Bedürfnis, den eigenen Mikrokosmos auszuloten, hängen in nicht geringem Maß mit Weimar zusammen, der Stadt, in der ich zur Welt kam und begann, den Weg in die Welt zu erkunden. Weimar ist eine Institution, eine Enzyklopädie, eine Weltanschauung, in jedem Fall ein übermächtiger Erziehungsfaktor. In „Begegnung in Weimar" bewohnt der Ich-Erzähler, Student der Weimarer Musikhochschule, ein möbliertes Zimmer mitten in der kleinen Stadt der großen Berühmtheiten. Gemeint waren vor allem tote Künstler und Philosophen, was den Friedhof zu einem bevorzugten Ort und die Geschichte zur Lieblingssphäre der Phantasie machte. Weimar, das war neben Goethe, dem Unausweichlichen, auch Bach und Liszt, Cranach und Klee, Herder und Nietzsche, Schiller und Wieland sowie Scharen von Kleinmeistern, was unzählige Gedenktafeln bezeugen. Daneben gab es Zeugen der Zeugen, die sich durch die Begegnung mit Berühmtheiten geadelt fühlten.

In „Heckenrosen", einer meiner frühesten Geschichten, findet der Student Nohl Weimar klein und übersichtlich wie eine Spielzeugstadt. Er betrachtet sie nämlich von oben, vom Konzentrationslager Buchenwald aus, der häßlichen Kehrseite der Heimstatt geistiger Elite.

Weimar lag scheinbar außerhalb des geteilten Deutschland. Es wirkte wie etwas Drittes, war beinahe selbst Literatur geworden. In meiner Kindheit und Jugend verkörperte Weimar nach dem Willen der neuen Macht zu gleichen Teilen die Gipfel humanistischer deutscher Literatur und die Abgründe nationalistischer deutscher Politik. Das, was die Arbeiter- und Bauernregierung als sozialistische Revolution verstand, ging hier moderater ab als andernorts. Die autoritären und dogmatischen Strömungen, die zumindest in der ersten Periode des osteuropäischen Sozialismus stets präsent waren, wurden hier behutsam verschleiert. So gab es Amtsleiter wie Rudolf Liedke in „Der Antrag" vielleicht nur in Weimar. Meine Mutter, eine studierte Reformpädagogin, sah sich dennoch in diesem moderaten Weimar außerstande, eine angemessene Stellung zu finden. Es schien so, als wäre im Osten des gevierteilten Landes kein Platz für sie und ihre Kinder. So zog sie dorthin, wo es ihre Freunde bereits hingezogen hatte, in den Westen. Die Übersiedlung, lange beschlossen, bis ins Kleinste geplant und bereits eingeleitet, mißlang jedoch im letzten Augenblick. Ich, der schon die erste Klasse einer Internatsschule nahe Braunschweig begonnen hatte, kam 1949 zurück und blieb bis zum Ende des Staates in der DDR.

Weimar, der Ort, der mich formte, beherbergte viele der Menschen, die mich nachhaltig prägten. In dem Essay „ERBEN" werden jene, die den engsten Kreis einer behüteten Kindheit bildeten, näher vorgestellt. Da war der Großvater, der einst bei Wahlkampffahrten per Auto zwischen dem Kandidaten der KPD und dem der NSDAP saß. Da war der schwierige Vater, über den ich kaum mehr erfuhr, als das, was Freunde und Verwandte schwerzüngig über einen Nazi-Anhänger und früh verstorbenen Kriegstoten sagten. Da war schließlich die Mutter, die im Mangel der Nachkriegsjahre ihre drei Söhne durchbringen mußte. Sie durchlief im östlichen Deutschland mehrere politische Positionen, von der Ablehnung zum Bekenntnis bis zu einem Zustand innerer Zerrissenheit.

Daneben gab es in der Nachbarschaft einige Schriftsteller, die sich einen Lebenstraum erfüllten, indem sie nach Weimar zogen. Einer von ihnen war der böhmisch-jüdische Poet Louis Fürnberg (1909–1957). Die Hommage „Begegnung in Weimar" schildert, wie er mir dank seines gütigen Wesens, aber auch dank seiner antifaschistischen Erfahrung die Augen für die schöne Literatur sowie für seine Sicht der neueren Geschichte öffnete. Nachdem ich Weimar in Richtung Berlin verlassen hatte, begegneten mir noch weitere Menschen, die mir ihre linke politische Weltsicht nahebrachten. Dazu gehörte vor allem das Vorbild für die Alte Frau im Hörspiel „Die Schwester", die Kommunistin Minna Ewert (1888–1977), mit der mich viele Jahre lang eine enge freundschaftliche Beziehung verband.

Dem Leser der nachfolgenden Texte wird auffallen, welch bevorzugte Rolle darin Persönlichkeiten spielen, die, anders als meine Eltern, vor der Nazi-Barbarei geflohen waren, sie abgelehnt oder bekämpft hatten. Dagegen taucht mein Vater, lange ein zentraler Gegenstand meines Denkens und Fühlens, erstmals in Texten der 80er Jahre auf und wurde erst 1996 zur handelnden Person. Der Grund liegt nahe. Die politische Ausrichtung meines Vaters, die in der Anstellung als Erzieher einer sogenannten Adolf-Hitler-Schule ihren eindeutigen Ausdruck fand, war für mich unannehmbar und gehörte zu meinen bestgehüteten Geheimnissen.

In der DDR war die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazis allgegenwärtig. Die Art der Auseinandersetzung verhinderte und tabuisierte jedoch weitgehend die individuelle Beschäftigung mit dem Anteil nächster Angehöriger an solchen Verbrechen. Man kann sich nach sechzig Jahren das Ausmaß der Tabuisierung, wie sie im östlichen Nachkriegs-Deutschland gang und gäbe war, kaum noch vorstellen. Unter solchen Umständen mußte jemand wie mein Vater so gut wie möglich verschwiegen werden, vor allem, weil er neben Gedichten aller Kategorien auch solche auf den Führer, den heiligen Krieg und den Heldentod verfaßt hatte. Nachdem es mir allmählich gelang, nach außen mit diesem Geheimnis zu leben, blieb die heikle Aufgabe, damit im inneren Zwiegespräch zurechtzukommen. Die notwendige wie schmerzhafte Beschäftigung mit der schuldig gewordenen Vätergeneration schlug sich in meinem Schreiben wiederholt als Suche nach einem Alternativ-Vater nieder. Sowohl Louis Fürnberg als auch der Amtsleiter Liedke fungierten als solche Wunschväter. Auch die dreiteilige Skizze „Distler im Drachenhaus" hat unterschwellig mit dem Wunsch des Autors nach einem anderen Herkommen zu tun. Denn das tragische Ende des Komponisten Hugo Distler (1908–1942), wovon ich Näheres nach 1992 durch dessen Angehörige erfuhr, hätte für mich zum Bild eines annehmbaren Vaters gepaßt. Selbst die frühe Groteske „Die Dame mit dem Hermelin" steht indirekt in Beziehung zu jener Generation, deren Söhne ihre Väter nie befragen und schon gar nicht zur Rede stellen konnten.

Aufgrund der Entscheidung meiner Mutter und anderer Gründe während der Zeit meiner Kindheit brachte ich den größten Teil meines Lebens in einem gesellschaftlichen Umfeld zu, das mich zwar immer anzog und in seinen Bann schlug, mir im Innersten aber lange fremd blieb. Ich hatte ja nicht nur eine falsche politische Herkunft, sondern ich gehörte auch nicht zur richtigen Klasse. Eine Partei, die Arbeitern und Bauern historische Gerechtigkeit verschaffen wollte, wies Bürgerlichen eine Existenz am Rand zu. Da nahezu alle Handlungen und Träume durch den vormundschaftlich umsorgenden Staat gelenkt und kontrolliert wurden – nicht zuletzt beim Schreiben –, erschien mir diese Republik, die ihre demokratischen Absichten so demonstrativ im Namen trug, vorerst als recht befremdendes Ländchen. Mit den Jahren änderte sich das jedoch. Allmählich lernte ich sehen und schätzen, daß im Getriebe dieser Maschinerie neben einer Menge Halbgewalktem einige Elemente wirklich neu, ungewöhnlich und richtungweisend waren.

Mehrere Stücke der ersten Hälfte des vorliegenden Buches spiegeln meine berufliche Entwicklung vom Musiker zum freiberuflichen Autor. Die nach der Orchesterpraxis übernommene Tätigkeit als Rundfunkredakteur ist zum Beispiel Gegenstand der Kurzgeschichte „Ein unsichtbares Feuer", die 1982 im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf entstand. Hier sind die intensiven kollegialen Beziehungen eingebracht, die aus meiner Sicht für die DDR-Zeit charakteristisch waren. Dabei schwingt jenes spezifische Engagement mit, das nicht allein von Geld und Erfolg geleitet wird, sondern auch von einer Leidenschaft für die Gestaltung einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz. Die Metapher vom unsichtbaren Feuer ist mir deshalb so wichtig, weil sie in meiner Sicht die positiven Züge des gescheiterten Sozialismus aufbewahrt.

Im politischen System der DDR galt es für den Schriftsteller stets, die Balance zwischen Anpassung und Abstoßung zu halten, aber trotzdem der Chronistenpflicht zu genügen. Statt des Strebens nach Marktgängigkeit oder experimenteller Stilsuche war es erforderlich, seismographische Schwingungen einer Gesellschaft zu dokumentieren, die, bei unbestreitbaren Teilerfolgen, selbst nach Jahrzehnten noch am Anfang ihrer Entwicklung stand. Da mußte, trotz kollektiver Verlautbarungen im Verband, jeder Schriftsteller seine individuelle Bahn finden und den ohnehin vagen Berufsstand nach seinen eigenen Vorstellungen ausgestalten.

Bei mir drängte es sich auf, die im Lauf der Zeit erworbenen musikgeschichtlichen Kenntnisse zu nutzen und der erwähnten Neigung zur Darstellung historischer Persönlichkeiten zu folgen. Anders, als bei der Behandlung aktueller Stoffe, sicherte das weitgehend geschützte Räume und traf außerdem auf elementares Interesse. Statt der Übersättigung eines kunstsinnigen Bildungsbürgertums gab es bei breiten Schichten der Bevölkerung im Osten einen elementaren kulturellen Bildungshunger. Den stillen zu helfen, war eine dankbare Aufgabe.

Daß in meine Geschichten über Bach und Händel, in die Hörspiele zu Mozart und Schubert, das Fernsehspiel zu Hanns Eisler oder in andere Texte zahlreiche Anspielungen zu aktuellen Konflikten eingeflossen sind, kann hier nur angedeutet werden. Jedenfalls trafen ironische oder kritische Bemerkungen zwischen den Zeilen auf ein sensibles Gespür bei den gemeinten Lesern und Hörern. Damit scheint sich Thomas Manns Wort vom autobiographischen Charakter allen Schreibens ein wenig mehr zu bestätigen.

Im zweiten Teil der Anthologie folgen Beiträge, die sich unmittelbar mit der sogenannten Wende befassen, der Implosion des kleineren deutschen Staates und der nicht unproblematischen Einfügung von Land und Leuten in das System der größeren und robusteren Republik der Brüder und Schwestern. Erst als die DDR nicht mehr existierte, erschien sie mir in „Der Weg nach Golzow" (frei nach Mörike) als mein Land, das ferne leuchtet. Damit waren wirkliche Verluste, aber noch mehr uneingelöste Erwartungen gemeint. Denn bei mir, wie bei vielen, hatte das bisherige Leben die permanente Hoffnung genährt, das Ländchen werde irgendwann, vielleicht in ferner Zukunft, einmal zur wirklichen Heimat.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Abschied und Ankunft fielen zusammen. Über die „Ankunft im Supermarkt" erarbeitete ich 1993 eine Studie „zur sozialen Situation der Autoren im Land Brandenburg". Ein Kapitel dieser Studie ist hier unter dem Titel „Nach der Ankunft im Supermarkt" einbezogen. Das Thema Stasi, das im Blätterwald vielfach alle Erinnerung an die DDR überwuchert, ist bei mir auf zwei Texte konzentriert, auf „Freundinnen" und „Die Schweineschnauze im Sowjetgarten".

Schon Anfang der 90er Jahre deutete sich an, daß jemand wie ich im größeren Deutschland wieder in Randnähe leben würde, so wie es mein Freund und Kollege Richard Pietraß in dem Gedicht „Randlage" so schön ausgedrückt hat. Auch wenn mir die neue, alte Gesellschaft weniger befremdlich vorkommt, so fehlt mir doch manches und stört mich vieles. Eine Errungenschaft allerdings hält meine Unzufriedenheit in Grenzen. Es ist die Existenz der verbürgten individuellen Grundrechte, ohne die jede moderne Zivilisation zum Scheitern verurteilt ist.

Dem Wendeabschnitt schließen sich kleinere Texte der Zeit nach 1996 an. Sie entstanden neben größeren Arbeiten, insbesondere neben dem Roman „In Liebe – Ihr Johannes Brahms" (2005), einem zentralen Punkt meiner bisherigen literarischen Bemühungen. Die zum Teil für aktuelle Anlässe bestimmten kürzeren Stücke sind wiederum Texte verschiedener Genres. Dabei finden sich in Kurzgeschichten wie „Verirrung", „Scheherezade 1001" und „Das Gastgeschenk" Spuren des nationalen wie des europäischen Zusammenwachsens.

Den Abschluß bildet ein Aufsatz über den Arbeitersänger und Schauspieler Ernst Busch, der östlich der Elbe einmal fast den Platz eines Nationalhelden einnahm. Eine aufklärende Publikation zur Legendenbildung war der Anlaß zu Reflexionen über vierzig Jahre DDR, also auch über wichtige Lebensjahre des Autors. Der Titel „Späte Aufklärung" ist offenen Wünschen geschuldet, deren Erfüllung zumeist aussteht. Viel ist noch zu klären und aufzuklären über den Gang der Dinge im östlichen Deutschland, nach dem Krieg, in den Jahren der Teilung und danach.

Durch die in dieser Anthologie versammelten Texte möge der Leser ein wenig von der Vielschichtigkeit wahrnehmen, die ein Leben im Osten Deutschlands in sechs bewegten Jahrzehnten ausgemacht hat.

Till Sailer

Bad Saarow, im Frühjahr 2007