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trafo verlag 2007, 172 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-677-4
Einen schönen illustrierten Auszug zum Thema von Simone Labs finden Sie unter: http://www.schwarzaufweiss.de/spanien/gallocanta.htmll
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InhaltsverzeichnisProlog 9 Extremadura 13 Aragón 57 Creuse 105 Schweden 137 Echo 167 Dank 169
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PrologAm Morgen, als ich meinen Rucksack packte, begann es zu schneien. Schwere Flocken fielen hinab und verwoben sich zu einer weißen Decke, welche die Wiese hinter dem Haus bald ganz und gar einhüllte. Seit Tagen schon ruhte über allem ein bleischweres Himmelsgrau. Es legte sich auf mein Gemüt, auf meinen Körper, der wie wund auf dem Bett lag und mit der Seele seufzte. Aber an diesem Morgen war es anders. Etwas Außerordentliches begann. Ich zog aus, die Kraniche zu suchen, die in jedem Frühjahr, in jedem Herbst auf der Wiese, auf den Maisfeldern standen, ihr »gri gro« trompeteten und mit hellen Schwingen durch die Luft glitten. Ich wollte sie auf ihrer Route begleiten, von der spanischen Extremadura bis zum Hornborga See in Schweden. Einige der Gegenden, die auf ihrem Weg lagen, hatte ich schon besucht. Sie faszinieren mich ebenso wie die Menschen, die dort zu Hause sind. Sie wohnen mit der Stille und der Einsamkeit und sind doch sehr lebendig. Sie erzählen uralte Geschichten und behüten einzigartige Schätze, etwa die knorrigen Steineichen in der Extremadura, die salzige Lagune von Gallocanta im Aragón, an der Tausende Kraniche im Herbst und Frühling einkehren, die roten Felsen der Riglos de Mallos in den Prepyrenäen, die Châtagnier im Limousin, die blauen Seen in Västergötland. Nun wollte ich diese Landschaften im Rhythmus der Kranichschwingen durchmessen und war neugierig auf all das, was mir dabei begegnen würde. |
Grullas volando, calladas o cantando
señal de que el tiempo se está arrullando
Bis zu den Steppenwiesen, den Wassern und Dehesas der Extremadura ist es weit von Mecklenburg, über 2500 Kilometer. Zwei Drittel dieser Strecke absolviere ich wie die Kraniche in der Luft.
Im andalusischen Sevilla steige ich um, vom Flugzeug in den Bus und fahre auf der alten Handelsstraße der Römer, der Silberstraße nach Norden, heute die N 630. Ich blinzele in die Sonne, die die Luft bis auf 16 Grad erwärmt und vor lauter Glück füllen sich meine Augen immer wieder mit Tränen. Die anderen Mitreisenden ruhen in den Sitzen versunken, und nur zwei ältere Damen übertrumpfen sich gegenseitig mit Enkelgeschichten. »Meiner ist ja viel unterwegs, wissen Sie, er ist Bauingenieur …«
In der Ferne schimmern sanft die Bergketten der Sierra Morena. Das helle Grün der Wiesen und Felder steht in lebhaftem Kontrast zum Dunkel der Dehesas, dieser einzigartigen iberischen Eichenhaine, immer wieder unterbrochen von Eukalyptuswäldern.
Meine erste Station auf dem Weg zu den Kranichen ist Santa Olalla de la Cala. Kleine weiße Häuser, die Fenster fest geschlossen, ducken sich entlang der Nationalstraße. So trotzen sie den schweren Lastzügen, die durch den verstaubten Ort lärmen. Sie werden weiter getrieben. Ich gehe in das wenige Meter entfernte Hotel an der Straßenecke. Meinen schweren Rucksack setze ich neben den Tresen ab.
Die Wirtin erzählt mir, bei einem cortado, einem kleinen dunkelbraunen Kaffee, von den Attraktionen des Ortes. Die eine befindet sich in Sichtweite schräg gegenüber der Bushaltestelle. Es ist eine der typischen weiß getünchten Kirchen, wie sie hier oft zu finden sind. Aber diese hier ist über und über mit Storchennestern belegt. Vor einigen Jahren, so die Wirtin, hat der Pfarrer alle entfernen und die Kirche neu streichen lassen, aber es dauerte nicht lange und die Störche kamen wieder. »Jetzt hat er es wohl aufgegeben. Na ja, mich stört das nicht.« Ich stimme ihr zu und bemerke, dass neben den Störchen hier wohl auch die Stiere heimisch sind. Eine Wand des Gastraums ist dekoriert mit Fotos vergangener Stierkämpfe. »Unsere Stierkampfarena zählt zu den ältesten in Spanien. Du kannst sie dir anschauen, sie ist noch ganz gut erhalten.«
Also gehe ich ein paar Schritte die Seitenstraße hinunter und stehe vor diesem alten Rundbau. Die Zugänge sind schmal und steil. Wer auf die Ränge klettern möchte, sollte möglichst klein, schlank und sportlich sein. Wie das die Frauen mit ihren weit ausladenden Roben früher geschafft haben, bleibt mir ein Rätsel. Aber ohnehin sind die meisten Zuschauer gestern wie heute männlich. Mitte der 80er Jahre wurde der Innenraum mit einer Holzblende verkleidet. 1984 war in der Stierkampfarena im kleinen Pozoblanco der große Matador El Paquirri verunglückt, Mann der beliebten Folkloresängerin Pantoja. Er verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus nach Córdoba. Daraufhin erhob sich ein Riesentumult in ganz Spanien, einige Arenen wurden geschlossen andere mussten ihre Arenen umbauen und die Zufahrtswege sichern.
»In Santa Olalla«, erzählt die Wirtin, als ich ins Hotel zurückkehre, »findet einmal im Jahr noch der Stierkampf statt. Dann kommen die Helden durch die puerta grande, durch das große Tor der Arena und der ganze Ort feiert sie.« Ihr Blick schwenkt zum Fernseher: Präsident Aznar und der Irakkrieg. »Im Moment haben wir aber wenig Grund zu feiern. Was sollen wir im Irak?«
Die Wirtin nickt mit dem Kopf in Richtung der Glastür. »Da ist Ernestine.« Sie kommt herein. Schön, schlank und blond mit goldenen Ringen an Ohr und Finger. Ernestine erscheint mir nicht unbedingt wie eine Bäuerin. Später erfahre ich, dass sie früher Lehrerin war und 1991 das deutsche Kulturprogramm bei der 29. Weltausstellung in Sevilla organisiert hat. Wir sind verabredet und sie nimmt mich mit auf die fast 700 Hektar große »Dehesa San Francisco«, die einige Kilometer entfernt an der Nationalstraße liegt. Gemeinsam mit ihrem Mann Hans-Gerd Neglein hat sie dort 1993 die »Fundación Monte Mediterraneo« gegründet. »Ausgangspunkt unserer Überlegungen war: Wie kann man es erreichen, eine Kulturlandschaft wie die Dehesa, die sehr schön ist, aber nicht besonders wirtschaftlich, rentabel zu nutzen, in dem man aber gleichzeitig die Naturressourcen verbessert oder zumindest nicht schädigt. Und wir wollten uns im Bildungsbereich engagieren. Es musste also ein Ort sein, der auch erreichbar ist. Nach monatelanger Suche haben wir hier diese Finca gefunden.«
Nun leben und arbeiten sie inmitten von Stein- und Korkeichen mit einigen Angestellten, Praktikanten, zeitweilig mit mehr als 500 iberischen Schweinen, 40 Berrendakühen, 30 Mutterschafen, einem Esel, Pferden, Hühnern und einer jungen Hirschkuh.
Beim gemeinsamen Abendbrot in ihrem hellen großzügigen Haus darf ich paleta probieren, eine Art luftgetrockneter Schinken, der aus der Schweineschulter geschnitten wird. Sehr lecker, kräftig im Geschmack mit einer leichten nussigen Note, zart auf der Zunge. Nach dem Essen machen wir es uns in den Sesseln und auf dem Sofa bequem und kraulen abwechselnd die beiden Hunde, die zum Haus gehören. Ernestine redet intensiv, schnell, schaut einen direkt mit ihren hellgrau leuchtenden Augen an, während ihr Mann lächelnd zuhört und seine Gedanken ruhig fließen lässt. Die Gespräche kreisen um ihr Leben in Spanien, um Kraniche und die Dehesas. Mehr als acht Millionen Steineichen fielen unter dem Kreischen der Motorsägen, mussten Feldern oder Eukalyptuswäldern weichen. Doch vor einigen Jahren wurden die verbliebenen Dehesas unter Schutz gestellt und der Subventionshahn für Eukalyptusaufforstung zur Zellulosegewinnung abgedreht.
Es ist ein kühler Morgen. Nebelschwaden ziehen durch den lichten Wald der Stein- und Korkeichen. Wir besuchen die Schweine. Spaltbreit öffnet Ernestine das Gatter und wir schlüpfen hindurch. Gleich sind wir von einer dunkelbraunen Ferkelschar umzingelt. »Cochinos ibéricos de bellotas« – iberische Eichelschweine. Sie sind quiek-lebendig. Sie springen auf der aufgewühlten, regenfeuchten Erde wie Gummibälle, schnüffeln an den Jeans, schielen in die Gummistiefel und grunzen zufrieden, wenn sie gekrault werden.
Ernestines heller Pullover ist inzwischen erdbraun, die Hose auch. Zeit, die quiekende Meute zu verlassen. »Jetzt ist es relativ ruhig bei uns«, sagt Ernestine »aber im Herbst gleicht die Dehesa einem riesengroßen Verschiebebahnhof. Die Schweine werden im Herbst, wenn die montanera, die Eichelmast, anfängt, zu den Plätzen mit den meisten Eicheln getrieben, dort kann man natürlich nicht neu einsäen und es dürfen keine Rinder oder Schafe weiden. Diese Tiere fressen woanders, denn bei ihnen haben die Eicheln keinen Effekt. Gleichzeitig muss man darauf achten, dass die Schweine mehr Eicheln fressen, als sie an Bewegungsenergie wieder verlieren. Also beobachten wir ständig, wo die Eicheln fallen.«
Nicht nur auf die Eicheln kommt es an, sondern auch auf den Kork. Er sichert das Einkommen auf der Dehesa ebenso wie die Schweine. Aber bis ein »conorque« geschält werden kann, vergehen dreißig Jahre. Dieser erste Kork lässt sich jedoch nicht verwenden, er wird gemahlen und steht so als Mehl für die weitere Verarbeitung zur Verfügung. Erst die dritte Ernte beschert einen qualitativ hochwertigen Kork. Gibt es genug Regen, kann er dann aller neun Jahre während der Sommermonate geschält werden. Jedes Mal etwa einhundert Kilo pro Baum. Allerdings verkürzt sich auf diese Weise seine Lebensdauer um die Hälfte. Zur Ernte kommen – wie seit Mitte des 19. Jahrhunderts – Arbeiter mit ihren Maultierwagen und den langen Schälmessern. Perignon war es, der damals mit der Produktion seines Champagner auch den Korken weltweit beliebt machte. Gleichwohl war der Kork viel früher bekannt, denn bereits die Römer fertigten aus dieser Rinde Kunst- und Haushaltsgegenstände an.
Während Ernestine und ich durch die Dehesa fahren, wird mir bewusst, welche Arbeit hier in den letzten Jahren geleistet wurde. Allmählich sehe ich, begreife die Philosophie. Hier greift eins ins andere – die Bäume, die Tiere, die Menschen: alles bildet eine Einheit, einen Kreis. Der Kreis des Lebens.
...
Die Extremadura ist für Kraniche, genauer gesagt für den Grauen Kranich mit lateinischem Namen Grus Grus, das wichtigste Überwinterungsgebiet auf ihrer westlichsten Route durch Europa. In manchen Jahren werden hier 50.000 bis 55.000 gezählt.
»Bislang ist es nicht gelungen, die Hauptüberwinterungszonen der Kraniche legal zu schützen. Viele Steineichenhaine, die ihnen hier als Quartiere dienen, sind zerstört. Der Bewässerungsfeldbau wurde eingeführt. Viele Bauern gingen von einer extensiven Viehhaltung zum Getreideanbau über, der immer intensiver und immer mechanisierter wird. An diese Entwicklung müssen sich die Kraniche irgendwie anpassen und das gelingt ihnen auch ganz gut. Am gefährlichsten sind die Hochspannungsleitungen. Die Vögel prallen dagegen und verletzen sich meist so schlimm, dass sie sterben.«
»Gibt es denn auch etwas positives zu berichten?«, frage ich, als ich sehe, dass sich sein Gesicht mehr und mehr verdüstert Atanasio muss lächeln: »Schon. Immerhin ist es unserer Vogelschutzorganisation ADENEX gelungen, 15 Kranichreservate einzurichten. Diese Dehesas umfassen eine Fläche von 11.096 Hektar, also 110 Quadratkilometer! Das kommt natürlich nicht nur den Kranichen zugute, sondern der Flora und Fauna überhaupt.«
Ende der Leseprobe