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Inhaltsverzeichnis Andere Zeiten 9 Günther H. W. Preuße Mosaik 15 Edith Toepper Man bekommt mit der Zeit Hornhaut und ein dickes Fell 31 Hanna Buchholz Beirut – statt Bayreuth! 73 Helga Jamal Ich wollte nur eines: – Raus! 89 Christel Barreck Dieses Gefühl, dass wir aufgehoben sind … 113 Dr. Günter Krusche Am Ende ist die Spiritualität wichtig und dass man sich lieb hat …! 131 Sandra Sebastian Halleluja! 143 Günther H. W. Preuße Nachwort 155
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Einleitung
Lebenswege gäbe es, die verliefen absolut geradlinig. Von der Wiege bis zur Bahre. Vom Anfang bis zum Ende eine ununterbrochene Linie. Geprägt von den Wünschen und Maßstäben vielleicht der Eltern oder befördert vom eigenen unstillbaren Ehrgeiz. So ließe sich das einmal gefasste Lebensziel sieghaft erreichen. Aber solches Leben bedeutet wohl eine Seltenheit! Mir ist in meiner biografischen Arbeit, noch kein so golden-glatter Weg begegnet.
Eher treffen Lebenswege auf Kreuzungen oder Gabelungen. Da stellt sich dem Menschen ganz plötzlich etwas an die Seite, fällt ihm vor die Füße, versperrt unerwartet den Weg. Ein Ereignis, eine Krankheit, der Zu-Fall …
Manchmal treten auch Menschen in unser Leben, die nicht erklärbar sind, die uns dafür aber auf ungeahnte Weise weiterbringen. Ein bis dahin unbekannter Mensch oder ein – wie man meinte – Unerreichbarer! Winziges, nicht erwartetes Geschehen oder übermächtige Ereignisse stoppen den gewohnten Lebensschritt, halten die Zeit an und verweisen uns des bisherigen Weges. Richtungen wechseln.
Gewohntes verliert seine Bedeutung. Neues, Lockendes, Furchteinflößendes, Sehnsuchtsvolles, meist Ungewolltes treiben uns weiter. Fremde Kräfte und Mächte bremsen oder schieben uns.
Oder lassen wir uns schieben?
Eine neue Lebenserkenntnis führt zu unbekannten Pfaden. Erfolg wird plötzlich zu Misserfolg, aus Krisen wachsen Hoffnungen. Glück zerfließt zu Trauer. Aus der Trauer wächst Glück …
Was ist das für ein Spiel, dieses Leben?
Wie unterschiedlich können solche Brüche im Leben sein? Ist es wirklich so, wie Hesse schrieb: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben?
Stirbt die Hoffnung tatsächlich erst, wenn sich ihre Erfüllung naht? Oder ist sie die Daseinsform des großen Irrtums? Ist alles längst klar da oben, im Universum – was uns betrifft?
Andere Zeiten – wir hören von ihnen, wir erinnern uns ihrer, erleben oder sehnen sie herbei.
Das waren andere Zeiten damals, schwatzt gewichtig die Großmutter.
Wir haben jetzt andere Zeiten, belehrt der Sohn.
Es kommen auch wieder andere Zeiten, tröstet die Mutter.
Von meiner kleinen Zeit im Licht schreibt die Dichterin Eva Strittmatter in einem ihrer Gedichte. Es so zu sehen und einzuordnen, darauf kommt es vielleicht wirklich an.
Sieben sehr unterschiedliche Menschen, berichten aus ihrer Lebenszeit. Von Brüchen, Wegkreuzungen, Wenden und prägenden Momenten. Sie erzählen von dem, was ihnen dort begegnete. Und vor allem, wie sie diese Einflussnahme wahrnahmen: als Schicksal, Zufall, Prüfung oder Auftrag. Auf mancherlei Weise: unbarmherzig hart oder kaum merklich. Gar über den Trick eines Irrtums griff der Weltgeist in ihr Leben ein und zwang sie an andere Orte, zu neuer Erkenntnis oder ungewohntem Tun.
Kein Leben verläuft so gerade wie der Strahl des Lichts. Mancher Weg gleicht den Linien im Gewirr eines Schnittmusterbogens.
Die für ANDERE ZEITEN ausgewählten Berichte und Gespräche künden von Stärken, von Zäsuren und erwachten Talenten, von Leiden und Berufungen, die auf uns warten. Oft erst aus diesen Lebensbrüchen steigen sie empor. Das Erzählte ist so vielfältig, wie es die Menschen sind, die davon berichten. Hinter dem Gegebenen suchten die Berichtenden manchmal lange nach dem Idealen. Sie trafen schließlich auf ihre Wegmarke, von der an sie begannen, aus dem Gegebenen etwas Ideales zu machen.
Nichts ist vergleichbar mit unserem wundervollen, seltsamen Leben, so kurz oder lang, so glücklich, verquer, erfolgreich oder tragisch es auch verlaufen mag.
Es ist unsere Zeit im Licht während der zuweilen ANDERE ZEITEN auf uns warten.
Die hier gesammelten Erinnerungen erzählen eigentlich von nichts anderem, als von unserer beständigen Suche nach dem jeweils GUTEN ENDE und dass es dann und wann durchaus an der Zeit ist, sich vor dem Leben zu verneigen … Aber das kann ja jeder ganz heimlich tun.
Günther H. W. Preuße
im Herbst 2009
Ein Städtchen in Hessen – Sommer 1982
Friederike – 22. Januar 2000
Leech in Hessen – Anfang der sechziger Jahre
Jim – USA – Texas
Friederike – 23. Januar 2000
Wieder in Leech – in den Sechzigern
Ein Traum
Freuden, Pflichten und Leiden
Alltag heute
Flügge werden
Judith
Bob
Anthony
2002 im August
Ein Vater für Anthony
Auf und ab
2002 – Besuch
Alles wieder auf Anfang
Dunkle Zeiten
Endoskop
Jahresläufe
Jims Resümee
Der Rabe
1982
Milde Nachmittagssonne übergießt das Pflaster der Gasse und verwandelt ihre uralten Steine in Perlmutt. Dicht aneinander gerückt flankiert hier ein schmaleres, da ein breiteres Fachwerkhaus den schmalen Bordstein. Schmuck erstrahlend im feiertäglichen Kontrast ihrer schwarzhölzernen Balken und Bohlen, den weißen Putzfüllungen und vieler roter Dächer. Geputzt, gefegt, geleckt harrt die Gasse ihrer Passanten. Blanke Fenster halten Ausschau. Türen klappen. Eine hübsche junge Frau in hellem Sommermantel tritt vor eines der Häuser. Sie verschließt sorgfältig die Tür. An ihrer Hand ein Kind. Ihr Sohn. Etwas über vier Jahre alt, flitzt er springend und singend um sie herum. Schwatzt emsig auf sie ein und greift schließlich nach ihrer Hand. Beide gehen durch die Gasse. Die junge Frau trägt einen Einkaufskorb über der Schulter. Ihre linke Hand umschließt die des Sohnes. Aus den kurzen Ärmeln seines Sommerhemdes und den ledernen Höschen schauen samtbraune Arme und Beine. Sein dunkles Gesicht strahlt. Sie streicht ihm im Laufen liebevoll über das krause schwarze Haar. Auf dem Weg in die Stadt, zum Einkauf, macht Anthony gelegentlich ein Hüpfer, einen Ausfallschritt, einen Dreher. Er ist fröhlich, freut sich, dass Mutter heut Nachmittag Zeit für ihn hat. Selten sind diese Tage. Oft lebt er wochenlang bei der Oma, wenn Mutter in langen Früh-, Spät- oder Nachtschichten im Krankenhaus ihrer Arbeit nachgeht. Aber er ist stolz auf Mama! Immerhin ist sie Krankenschwester. Tag für Tag damit beschäftigt anderen zu helfen, Blut abzuwischen, sie wieder gesund zu machen. Toll! Hinter den halb geöffneten Fenstern der Häuschen erwacht Leben. Weiße, gestärkte Gardinen werden sacht bewegt. Augenpaare verfolgen die junge Frau mit dem kleinen Sohn. Köpfe werden geschüttelt. Zeigefinger weisen spitz auf die Straße. Münder bewegen sich flüsternd, und zischend: Dort! Da läuft sie wieder, durch unsere Straße – die Negerhur’. Beide hören das Geifern nicht. Aber Friederike weiß davon. Manchmal spürt sie den freundlich verzogenen Mienen der Nachbarn ihr Denken ab. Liest aus den verkniffenen Blicken die Ablehnung. Anthony weiß davon nichts. Noch nicht! Sie erreichen den Marktplatz. Er ist buntbewegt. Marktstände zeigen ihre Waren. Gemüse, Obst, alle möglichen Artikel für einheimische und Gäste. Leder, Holz, Wein, Keramik, Blumen … es ist ein freundliches Städtchen. Sauber, ordentlich, gepflegt. Fast alle Fenster der Fachwerkhäuser schmücken blühende Blumenkästen. Der Wind streicht sanft über den Platz. Am Rande entlädt ein Bus elegante Damen und Herren mit Hut und Spazierstöckchen. Die Stimme ihres mit schrillfarbenem Schirm bewaffneten Stadtführers gellt über die Gruppe: Hier befinden wir uns im historischen Zentrum der Stadt. An dem Gebäude Nr. 7 erkennen sie die Gedenktafel für einen hier hoch verehrten Standesherrn, der im Jahre 1732 beim damaligen großen Stadtbrand durch sein hochherziges Tun zu – bis heute – unvergessenen Ehren kam … Friederike hört im Vorbeischlendern beifälliges Touristengemurmel, beobachtet andächtiges Kopfnicken. Anthony zuckelt an ihrer Hand und strebt zu einem Marktstand mit buntem Spielzeug. Blicke folgen ihnen. Eine der Busdamen stößt ihren Mann an: Schau mal dort! Blicke wechseln. Sie folgen der jungen Frau und betrachten den farbigen lustigen Jungen. Tasten aus der Distanz über seinen schwarzen Wollkopf und die schokoladenbraunen Glieder. Friederike schaut sich um, Anthony blickt fragend hoch. Entschuldigung, der Bub ist ja wirklich allerliebst. Wir tragen uns seit Jahren mit dem Gedanken, zu adoptieren. Ja, ja. Wissen Sie, wir Deutschen, uns geht’s ja wieder gut. Fleiß, Fleiß, das liegt eben so in uns, nicht war? Und Ordnung natürlich. Also man soll dann auch was tun, für die armen Neger in der Welt. Nicht war? Also – den Buben würden wir gern nehmen. Wir haben ein Haus, großes Grundstück. Er hätt’ es sehr schön bei uns. Sie wären sicher froh, ihn gut versorgt zu wissen? Schöne Kindheit, gute Ausbildung später … Friederike schaut fassungslos. Zwei drängende Augenpaare taxieren Anthony:
Also, kurzum: Was soll er kosten? Wir können uns leicht einig werden. Wir nehmen ihn gern …junge Frau … hallo! Schroff reißt Friederike an Anthonys Hand und läuft vom Marktplatz. Seine Beine fliegen hinterher. Ihr graust es vor diesen dummen Wohlstandstypen. Das hier geschah ihr nicht zum ersten Mal. Warten Sie doch, schrillt es unter dem Hut der Dame noch hinter ihr her. Die beiden schauen sich an. So ist es meist, spricht der Herr zu seiner Frau, erst kriegen’s net genug, erst treiben’s diese Nutten mit den Schwarzen und dann laufen’s mit dem kleinen Negerpack hier durch die Gegend. Will man ihne dann helfe, rennen’s einfach weg. Schlampe – zischt die Frau. Negerhur’!
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