Baugatz, Christian-Ulrich

 

Das Zauberwort oder Neun Tage abseits der Zeit

 

 

Erzählung, 2010, 274 S., mehr als 70, teils farb. Aquarelle des Autors, ISBN 978-3-89626-651-4, 19,80 EUR

 

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Die Erzählung, 1976 geschrieben, konnte damals auf Grund der politischen Umstände nicht erscheinen.
Sie liegt nun erstmals im Druck vor. Der Autor hat 70 Grafiken aus seiner Hand dazugegeben.

 

Das Wirkliche ist oft nur ein Traum, und ein Traum ist etwas Wirkliches.
Dieser Gedanke zieht sich durch die gesamte Erzählung. Mit den Augen eines jungen Malers werden die Insel Rügen, ihre Bewohner und das Meer betrachtet.
Schönheit und Eigenwilligkeit der Natur, Kunst und Liebe, Jugend und Vergänglichkeit sind Themen, die anklingen.
Die beigefügten Zeichnungen ergeben zusammen mit dem Text ein Malertagebuch. Ein stilles Buch, geeignet zur Lektüre in der Ruhe eines Ostseeurlaubes. Obwohl der Text bereits 1976 verfasst wurde, erweist sich erst heute seine ganze Aktualität.


Christian-Ulrich Baugatz, geboren 1941 in Potsdam, Dr. theol., ist freiberuflicher Maler, Privatgelehrter und Chorleiter. Er lebt im Oderbruch und versucht sich als Biogärtner. Die Malerei ist ihm als Anschauung der Welt zugleich Weltanschauung im Sinne Goethes.
 

 

 

»Beim Betrachten des Bildes auf dem Buchumschlag – drei Badende, die auf einem Felsbrocken sitzen und das Meer betrachten – erinnere ich mich an ein verwandtes Motiv bei Caspar David Friedrich, das Bild: ›Mondaufgang am Meer‹. Die Begegnung mit dem Meer wird damals wie heute zur Begegnung mit dem Leben. Die Grenzenlosigkeit der Meeresfläche einerseits und das Drama der Brandung andererseits zeigen den Gegensatz, den der Romantiker austragen muss: Die Sehnsucht nach dem Einssein mit der Unendlichkeit und die Verpflichtung zur Bewährung im Irdischen.
Wie dieser Gegensatz auf unaufdringliche, aber anschauliche Weise dargestellt wird, qualifiziert dieses Buch möglicherweise zum Kultbuch für moderne Romantiker.«
Friedrich Lehmann

 

»Gewöhnliche Tatsachen sind der Zeit eingeordnet, hängen an ihrem Ablauf wie an Fädchen … Was jedoch mit Ereignissen anfangen, die keinen eigenen Platz in der Zeit haben, mit Ereignissen, die zu spät kamen, erst kamen, da alle Zeit vergeben, verteilt und vertan war …?«
Bruno Schulz
 




 

Leseprobe

 

Erstes Kapitel

Auf einem Erdwall, der wie ein Berg aus dem flachen Land aufsteigt, stand einst Charenza, die mächtigste Burg der Insel Rügen.
Sie wurde vor achthundert Jahren zerstört, nachdem das Land von den Dänen erobert worden war. Heute findet man dort oben, wo das Schloss der Inselfürsten und die Tempel für verschiedene Götter standen, eine große Wiese. Sie ist von allen Seiten umgeben von hohen Eichen- und Buchenbäumen, die auf dem Wall wachsen.
Der Weg, der dort hinauf führt, windet sich zwischen Stämmen und Wurzeln. Auf diesem verschlungenen Pfad fand an einem stürmischen Tag eine Begegnung statt: Drei bärtige Männer, von denen einer eine Gitarre umhängen hatte, mit dem Daumen über die Saiten strich und dazu summte, stiegen dort hinab. Plötzlich machten sie halt, vor einem jungen Mann, der mitten auf dem Weg stand und zeichnete.
Er war etwas mehr als mittelgroß. Über seine braunen Hosen hing ein grüner Anorak. Er hatte mittellanges, kastanienbraunes Haar und trug eine Brille, durch die ein Paar sanfter brauner Augen blickten. Er war sicher noch nicht dreißig Jahre alt.
Die drei begrüßten ihn:
„Tag!“
„Darf man mal sehen?“
„Du malst wohl die Bäume hier?“
„Die Wurzeln.“
„Sieht ja alles aus wie in Natur.“
„Haste da oben auch schon gemalt?“
„Ja.“
„Zeig’ mal.“
Alban Günther, so hieß derjenige, der hier überfallen wurde, öffnete seine Zeichenmappe und zeigte ein kleines Blatt, die Zeichnung einer Wiese, von Eichenbäumen umgeben und dunkle Wolkenballen darüber schwebend.
„Is’ ja toll!“
„Wenn ich das so könnte, würde ich damit mein Geld verdienen.“
„Womit verdient Ihr es denn?“
„Mit Musik.“ Der Gitarrenspieler klopfte auf sein Instrument.
„Im Auto unten haben wir eine ganz neue Anlage. Aber wir machen das nur nebenbei.“
„Und wo wollt Ihr jetzt hin?“
„Heute nach Rosengarten, morgen sind wir in Göhren.“
Er klopfte noch einmal auf seine Gitarre.
„Dann wünsch’ ich Euch viel Erfolg!“
„Dir auch.“
„Mach’ weiter so!“
„Wiedersehen!“
Die drei gingen hinunter, wenig später hörte Alban Günther das Geräusch eines abfahrenden Autos.
Er vertiefte sich noch eine Weile in seine Zeichnung. Dann nahm er das Blatt, das er wegen des Windes mit zwei Gummiringen an der Mappe befestigt hatte, und legte es in deren Inneres zwischen grünes Durchschlagpapier. Anschließend spannte er die Gummis wieder um die Mappe und ging hinunter zu seinem Fahrrad, das an einem Baum lehnte. Er schob es über den Parkweg zur Straße und fuhr über grobes Pflaster zur Hauptstraße von Garz, dem Ort, der am Fuß des Wallberges liegt.
Vor einem Geschäft, in dessen Schaufenster er dicke rote Bauernpflaumen gesehen hatte, hielt er an und kaufte eine große Tüte voll, um während des Fahrens davon zu essen.
Am Ortsausgang nahm ihn eine Lindenallee auf. Die Äste bildeten flache Bogen über der Straße, so dass man an das Gewölbe alter Burgen erinnert wurde.
Nachdem Alban eine Weile gefahren war, säumten nur noch einzelne Bäume die Straße, und der Wind konnte ihn mit ganzer Kraft treffen. Mühsam kämpfte er sich voran. Mit Anstrengung drückte er
das eine, dann das andere Pedal nach unten, danach wieder das rechte und wieder das linke. Büsche und Bäume schüttelten sich, das längere Gras stand schräg, es wogte ruckartig hin und her, als wenn jemand mit einer Bürste darüber striche. Es war kalt. Das Wetter hatte sich schon am Vormittag wechselhaft und unfreundlich gezeigt. Aber solange er im Zug saß, hoffte er immer noch, es würde sich aufhellen. Doch als er dann mit seinem Fahrrad über den Rügendamm fuhr, begrüßte ihn der erste Regenschauer. Anschließend lichteten sich die grauen und weißen Wolken an manchen Stellen, machten Platz für ein Fleckchen blauen Himmels und ließen sogar einige Sonnenstrahlen passieren.
Doch auch dieser Zustand hielt nicht lange an. Wieder schoben sich dunkle Wolkenhaufen zusammen, und es begann erneut in Strömen zu regnen. Danach fing das Spiel von vorn an. Gleichmäßig blieb allein der Wind, der sich dem Radfahrer entgegenstemmte und ihn nur im Schneckentempo vorankommen ließ. Bisweilen brachte eine Bö das Fahrrad ins Schwanken und Schlingern, so dass es fast Zickzack fuhr. Das war unangenehm, wenn ein Auto überholte. Ein Lastwagen erzeugte einen Sog, so dass der junge Mann die Lenkstange gut festhalten musste, um nicht unversehens entweder zu weit auf die Fahrbahn zu geraten oder in den Straßengraben zu fahren.
Als er schließlich Putbus, die weiße Stadt erreichte, stieg er nicht ab, um sich Häuser und Park anzusehen, sondern kämpfte sich weiter voran, um bald die letzten Kilometer bis Altenhagen hinter sich zu bringen.
Wieder fuhr er durch eine Allee. Zur rechten und zur
linken Seite dehnten sich wellige Felder.
Jetzt Mitte August war das Korn größtenteils abgeerntet. Bald erblickte er in der Ferne das Ziel seiner Reise:
Über hohen Baumkronen wurde eine Kirchturmspitze sichtbar. Schließlich traf er auf ein gelbes Schild an der rechten Straßenseite:

Altenhagen
Kreis Rügen
Bezirk Rostock
Vor ihm stand eine große grüne Wand aus Bäumen. Das Alleegewölbe führte in sie hinein. Die Straße wurde abschüssig, er sah die ersten Häuser und fand alles so, wie es sein Freund beschrieben hatte: an der linken Seite erst die Friedhofsmauer aus Feldsteinen, dann einen Sandweg, einige Wohnhäuser und schließlich das Anwesen von Frau Elsa Dahmke. Auf einer Böschung lag dicht an der Straße hinter zwei großen Kastanienbäumen, deren gewaltige Kronen ineinander wuchsen, ein eingeschossiges mit Ried gedecktes Haus. Die Wände waren weiß verputzt und durch dunkle Balken gegliedert. Fensterlose Brettertüren verschlossen die beiden Eingänge. Das Dach, welches so weit herabreichte, dass man mühelos die Schilfspitzen berühren konnte, war an den Giebelfeldern oben zu einem kleinen Walm abgeschrägt, wie man ihn an der Küste überall sieht.
Alban hielt an, sah eine Weile auf das Haus, schob dann sein Fahrrad auf die andere Straßenseite hinüber und über die drei Feldsteinstufen auf die Böschung hinauf. Einen Zaun gab es nicht. Er lehnte das Fahrrad an die Hauswand und klopfte an die Tür, neben der ein Briefkasten angebracht war. Niemand rührte sich. Dann merkte er, dass er an der Außentür geklopft hatte. Sie war nur angelehnt. Er öffnete sie und sah nun die eigentliche Haustür mit einer Fensterscheibe und einem Namensschild: Dahmke.
Er klopfte erneut. Auch diesmal hörte ihn niemand. Immerhin gab ihm das Türschild die Gewissheit, dass er sich nicht geirrt hatte.
Vor dem Haus stand eine Bank – ein Brett auf zwei Pfählen als Sitz und der Hauswand als Rückenlehne. Er setzte sich und überlegte.
In diesem Augenblick fuhr ein Omnibus vorbei, dann kamen einige Leute die Straße herauf. Eine Frau löste sich aus der Gruppe und ging über die steinerne Stiege auf das Haus zu. Sie war mittelgroß, untersetzt und etwa sechzig Jahre alt. Das kurze Haar, das ihr frisches Gesicht umgab, war teilweise schon ergraut. Sie trug einen altmodischen braunen Mantel und hatte eine Einkaufstasche bei sich. Sie blickte erstaunt auf den unbekannten Mann vor ihrer Haustür: „Nanu, wat will’n Sei denn hier?“
Er stellte sich vor: „Mein Name ist Günther – mein Nachname. Mein Freund hat Ihnen geschrieben, dass ich heute hier eintreffe.“
„Nein. Er hat mir nur geschrieben, er hätte die Absicht für drei Wochen herzukommen; da habe ich ihm sofort geantwortet, das würde jetzt nicht gehen. Denn die Handwerker sind bestellt. Das Zimmer, das ich bisher im Sommer vermietet habe, wird Badezimmer, und die beiden anderen Räume, die Gästezimmer werden sollen, müssen erst noch hergerichtet werden.
Aber die Karte hat er wohl nicht rechtzeitig gekriegt. Was machen wir da bloß? Aber nun kommen Sie erst mal rein. Sie sind ja ganz nass geregnet.“
Sie sah ihn freundlich an: „Ick war mol ierst ’n goden Kaffee moken. – Von wo kommen Sei denn?“
„Ich bin in Stralsund aus dem Zug gestiegen und von dort mit dem Fahrrad gefahren. Ich ahnte doch nicht, dass unterwegs so ein Wind bläst.“
„Das sind fast dreißig Kilometer. Beim nächsten Mal müssen Sie in Bergen aussteigen oder bis Putbus fahren. Das ist viel näher.“
„Hier ist wohl öfter so ein Sturm?“
Während sie sprach, hatte sie den Briefkasten geöffnet und ihm eine Karte entnommen.
„Kiek an, hier ist die Karte von Ihrem Freund. So fix geit dat all nich.“
Sie traten in den Hausflur. Dessen Fußboden bestand aus Ziegelsteinen, die Wände waren gekalkt. Links neben der Tür war Holz gestapelt, an der rechten Wand stand ein Schrank. Frau Dahmke ging voran. Am Ende des Flures führte auf der linken Seite eine Tür in die Küche, und durch die Küche gelangten sie in das Wohnzimmer, dessen Fenster beide zur Straße hinausgingen.
„Es ist der erste in diesem Sommer. Aber es ist Ostwind. Der bringt gutes Wetter. Bis zum Abend wird er nachlassen.“
„Setten sich man hier dal. Ick mok schnell den’n Kaffee.“
Der junge Mann hatte seinen Anorak ausgezogen und setzte sich. Er schob seine feuchten Hosenbeine etwas hoch, damit sie an den Knien nicht ausbeulten. Dabei bemerkte er, dass er mit seinen nassen Schuhen auf dem Teppich stand, der unter dem großen runden Holztisch in der Mitte des Zimmers lag. Er erhob sich, um seinen Stuhl auf die Dielen zu rücken. Da fiel sein Blick auf das braune, mit Schnitzleisten verzierte Buffet. Darauf stand ein Plattenspieler. Daneben lag ein Stoß Schallplatten. Er trat näher und las die Schrift auf der obersten Plattenhülle. Es waren einige Operettentitel angegeben.
Er hob den Blick – über dem Büffet prangte in einem stattlichen Goldrahmen das Bild einer silbernen Schale, aus der Rosen quollen.
Nachdem er eine Weile sinnend davor gestanden hatte, wandte er sich neugierig der anderen Zimmerhälfte zu. An der Wand gegenüber befand sich neben einer Liege eine Vitrine, die ähnlich wie das Buffet gearbeitet war. Sie enthielt neben Likör- und Weingläsern in verschiedenen Farben, Sammeltassen, Reiseandenken und zwei kolorierte Fotos. Alban neigte sich vor, um sie besser betrachten zu können. Aus dem einen Wechselrahmen lächelte ein Hochzeitspaar, das andere Bild zeigte eine Konfirmandin vor dem Kircheneingang im dunklen Kleid und mit einem Blumenstrauß.
In diesem Augenblick malte die Nachmittagssonne helle Streifen auf den Fußboden und einen Fleck auf das kalte Weiß des Kachelofens an der hinteren Wand.
Alban stellte seinen Stuhl vor eines der Fenster und blickte hinaus zu den Bäumen und auf die Straße. Er machte sich Gedanken, wie es jetzt weitergehen könnte. Würde er hier bleiben können? Würde er woanders eine Unterkunft finden? Oder würde er wieder zurückfahren müssen? Er dachte an die Anstrengungen der letzten Stunden und war verstimmt.
Er bekam immer schlechte Laune, wenn er dort, wo er hinwollte, nicht gleich die gewünschte Aufnahme fand.
So widerstrebte es ihm, sich etwa in eine Gaststätte hineinzudrängeln, und sich dort einen Platz zu erkämpfen; er ging dann lieber. Frau Dahmke betrat das Zimmer:
„Ich hab’ in Bergen frischen Kuchen eingekauft; oder mögen Sie lieber was Kräftiges?“
„Nein danke. Kuchen ist mir gerade recht.“
„Ich hab’ eben nachgedacht. Im Zimmer meiner Tochter können Sie ja auch nicht schlafen, die kommt am Donnerstag oder Freitag von ihrer Reise zurück. Das lohnt sich nicht groß für drei Tage. Ich könnte Ihnen höchstens das eine Zimmer vorn anbieten. Das ist aber noch nicht gemacht. Sie dürfen da nicht anspruchsvoll sein. Aber wenn schönes Wetter ist – zum Schlafen geht es vielleicht. Allerdings fangen in der nächsten Woche am Donnerstag die Handwerker auch dort an, um alles in Ordnung zu bringen. Da können Sie also auch nicht drei Wochen bleiben. Aber neun Tage sind es schon. Im nächsten Jahr, wenn alles schön ist, können Sie dann kommen, solange Sie wollen.“
Sie schenkte Kaffee ein.
„Sei moken ja so ’n Gesicht?“
„Ach, nein. Es ist schon was wert, wenn ich nicht gleich wieder abreisen muss. Neun Tage sind besser als gar nichts. Da kann ich wenigstens etwas sehen.“
„Wissen Sie was, junger Mann: Ich will Ihnen was zum Trost sagen. Manch einer ist den ganzen Sommer hier gewesen und hat nix mitgekriegt. Und ein anderer ist nur drei Tage hier und erlebt so viel wie sonst nicht in einem halben Jahr. Dat ’s all verschieden!“
„Sie haben Recht. Man kann die Zeit nicht nach der Uhr messen.“
„Ja es gibt bei uns eine alte Geschichte von den drei Musikanten in der Garzer Burg. Vor langen Zeiten einmal gingen drei Musikanten von Rambin nach Rosengarten, um dort zum Erntefest aufzuspielen. Sie nahmen den Weg über den Garzer Burgwall. Als sie dort oben hinaufkamen, wo früher einmal das Schloss gestanden hatte, fanden sie eine lustige Gesellschaft beim Feiern. Sie wurden eingeladen mitzuhalten, und zum Dank spielten Sie eins auf. Dann aber dachten sie an das Erntefest in Rosengarten und machten sich auf den Weg. Als sie in Rosengarten ankamen, kannten sie den Ort nicht wieder. Alles war anders. Und die Leute wunderten sich über die langen Bärte der drei Männer und fragten sie, wo sie denn spielen wollten. „Na zum Erntefest!“ sagten die. Es wurde aber kein Erntefest gefeiert. Schließlich erinnerte sich ein alter Bauer, dass sie vor über fünfzig Jahren ein Erntefest gefeiert hatten, zu dem drei Musikanten bestellt gewesen, aber nicht erschienen waren. Da merkten diese, dass sie sich fünfzig Jahre lang auf dem Burgwall aufgehalten hatten. Es war ihnen aber vorgekommen, als ob es sich nur um ein paar Stunden gehandelt hätte.“
„Sie werden staunen, Frau Dahmke, wenn ich Ihnen sage, dass ich den dreien begegnet bin. Vor gut zwei Stunden zeichnete ich am Burgwall, und da kamen von oben drei bärtige Musikanten herunter. Sie erzählten mir, sie wollten in Richtung Rosengarten weiterfahren; und sicher sind sie auch von Rambin gekommen.“
„Dat ’s ja woll nich’ möglich! Und das waren richtige Musikanten, die Sie gesehen haben?“
„Ja. Einer hatte eine Gitarre umhängen, die Instrumente der anderen befanden sich im Auto.“
„Na wissen Sie! Das hat was zu bedeuten! Da gibt es nämlich noch eine andere Geschichte von dem Wallberg. Das werden Sie dann sicher auch erleben.“
„Was ist das für eine Geschichte?“
„Hören Sie zu: Bevor das Garzer Schloss von den Dänen erobert wurde, lebte dort ein alter König, der unermesslich viel Gold und Edelsteine zusammengebracht hatte und Tag und Nacht nix anners tat, als auf seine Schätze aufzupassen und sie zu zählen. Er saß dabei tief unter der Erde in einem großen Saal versteckt, den er sich hatte bauen lassen. Und als die Dänen das Schloss zerstörten, da wurde auch der Zugang zu diesem Saal verschüttet, und niemand hat ihn mehr gefunden. Der alte König aber saß unten zwischen seinen Goldhaufen, und vor lauter Gier schrumpelte er immer mehr zusammen, bis er nur noch ein kleines Männchen war, und er wurde dürr wie ein Gerippe. Aber er starb nicht. Denn vor solchen Leuten ekelt sich sogar der Tod. Und so bewacht er immer noch, wie vor vielen Jahrhunderten, seine Schätze. Manche Leute sagen, er würde sich manchmal in einen grässlichen Hund verwandeln und oben auf dem Wall herumlaufen. Und er hat mit List seine Ururenkelin, die Prinzessin Svanvithe, gefangen und hält sie bei sich dort unten eingeschlossen. Da sitzt sie nun, muss die Schätze zählen und weint dabei immerzu. Einmal aber im Jahr muss er sie herauslassen, und wenn dann ein Junggeselle sie trifft und sagt das richtige Wort zu ihr, dann ist sie erlöst. Und er bekommt die Prinzessin zur Frau und dazu noch alle Schätze, die unten im Berg liegen.
Es sind schon viele der Prinzessin begegnet. Aber nicht alle haben sie erkannt; und die sie erkannt haben, die haben nicht das richtige Wort gewusst. Und so sind auch sie dem Zauber verfallen, sitzen unten im Berg und müssen die Schätze hüten; solange bis die Prinzessin Svanvithe erlöst wird. Erst dann kommen sie wieder frei.
So wiet de olle Geschicht. Und wo sie schon den Musikanten
begegnet sind, vielleicht haben sie auch mit der Prinzessin Glück.“
„Aber was soll aus mir werden, wenn mir das Zauberwort nicht einfällt? Dann muss ich mich für den Rest meines Lebens dort unten zum Staubwischen verpflichten.“
„Ja, junger Mann, ein Risiko muss man schon auf sich nehmen, wenn man was erreichen will. Was man umsonst kriegt, das taugt oftmals nicht viel.“
„Da können sie schon Recht haben. Ich werde also aufpassen. – Wie weit ist es eigentlich von hier zum Strand?“
„Zu Fuß eine halbe Stunde. Eine Viertelstunde bis Dubendorf, und von da noch eine Viertelstunde bis Wudlitz. Da baden viele aus unserem Ort.
Sogar unsere Gemeindeschwester ist vor ein paar Jahren dort einmal baden gegangen. Ich kann Ihnen sagen: Der ganze Ort rannte hinterher, um Schwester Bertha in ihrem langen schwarzen Badeanzug zu sehen.
Ja, und wenn Sie mit Ihrem Fahrrad fahren, dann geht es ein bisschen schneller. Aber wer es nicht gewöhnt ist, der bleibt dauernd im Sand stecken, und dann braucht er genauso lang wie zu Fuß.“
„Das kenne ich. Das ist bei uns in der Mark genauso.“
„Sie wohnen wohl bei Berlin?“
„Mitten drin. – Übrigens gibt es bei uns auf dem Land noch alte Leute, die Plattdeutsch sprechen, das märkische Platt. Ich höre es gern.“
„Na dann werden Sie die Leute hier auch verstehen, und ich brauche mich auch nicht anzustrengen, um dauernd vornehm zu sprechen.
Manche sind bei uns nicht so sehr für die Fremden, weil sie viel Unruhe mit sich bringen. Für die meisten ist es aber ’ne Abwechslung, wenn sie nicht das ganze Jahr über Geschichten hören müssen, die sie schon kennen. Ich freue mich immer über Besuch, unser Pastor Rohrbach auch und der alte Brenzendorf.“
„Wer ist das?“
„So ’n ehemaliger Musiklehrer. Spielt jetzt nur noch die Orgel in der Kirche, meistens schwere Stücke. Ist häufig ’n bisschen aufgeregt und redet viel von Kunst und so was. Awer ’n goden Kierl. Und wenn Sie unsern Pastor kennenlernen sollten – den möt man giern hem. All die Jahre, wo mein Mann so krank war, hat Rohrbach ihn jede Woche besucht; und als es zu Ende ging, war er jeden Tag bei ihm.
Mein Mann war ja nicht sehr für die Kirche, aber vor dem
alten Rohrbach hatte er große Achtung und hat immerzu nach ihm
gefragt.“
„Dann ist der Pastor Rohrbach wohl sehr beliebt?“
„Bei den meisten, aber nicht bei allen. Mit dem Lukas hatte er sich immer in der Wolle. Der konnte ihn nicht ab. Das kam so: Walter
Lukas war einer unserer reichsten Bauern. Er hatte den besten Acker. Im ersten Weltkrieg war er Ulan. Bei ihm zu Hause hing ein großes Bild, wo man das sehen konnte. Lukas in der gewöhnlichen Uniform, in der Sonntagsuniform und auf ’m Pferd. So ’n Bild kriegte jeder Ulan.
Das war schon fertig gedruckt. Da wurden dann nur die Fotos von den Köpfen aufgeklebt. Im Krieg wurde Lukas verwundet, und der linke Unterarm musste ihm abgenommen werden. Das ist für einen Bauern schlimm. Aber er hatte seine Leute, die die Arbeit machten. Er hatte nur keine Frau, und so ist er immer komischer geworden. Dann hat er sich das Trinken angewöhnt. Das Korn stand noch auf ’m Feld, da hatte er die Hälfte schon für Schnaps verkauft. Das fing so nach dem zweiten Krieg an.
Als ihn unser Pastor fragte, warum er nicht mehr in die Kirche käme, da hat er zu ihm gesagt: „Ick heff bloß noch ein’ Arm. Dormit kann ick nich’ mehr de Hänn’ falten und bäden.“
Später stieß einmal Pastor Rohrbach morgens auf der Straße mit dem Fuß gegen was Schwarzes. Es war noch dämmrig, denn es war Winter. Er bückte sich; und wissen Sie was es war?“
„Nein“
„Eine schwarze Hand. Die Hand von Lukas. Die hatte der Kerl im Suff verloren. Rohrbach schickte die kleine Susa, eine seiner Töchter, zu Lukas; und die machte sich nu ’n Spaß und band die Hand mit ’m bisschen Tannengrün zusammen, so dass das Ganze aussah wie ’n Strauß. Und den gab sie bei Lukas ab. Der verstand aber keinen Spaß und ärgerte sich mächtig. Dann kam das Dollste: Lukas fand auf seinem Grundstück zwei Granaten, die jemand im Krieg vergessen hatte. Er steckte sich eine rechts in die Jackentasche und die andere links. Nun ging er erst mal in die Kneipe damit. Dort stellte er die beiden Dinger auf ’n Tresen, und er passte auf, dass sie keiner wegnahm.
Da war was los! Alle redeten ihm zu, das Zeug wieder wegzuschaffen. Da kam ihm eine Idee. Er steckte die beiden Granaten wieder ein, ging damit zum Pfarrhaus und legte sie vor die Haustür. Dann klingelte er und schrie:
“Ick dank uk schön für de Bloomen von vörgistern. Dor hest Eier und Speck daför!“ Und dann ging er weg. Keiner traute sich raus. Unser Pastor telefonierte nach der Polizei. Aber als die kamen, waren die Bomben verschwunden. Keiner hat rausbekommen, wo sie abgeblieben sind.“
„Vielleicht hält sie der Lukas in seinem Kühlschrank versteckt?“
„Der lebt ja nun nicht mehr. Er ist im vorigen Jahr gestorben. Aber ich kann Ihnen sagen: Sein Haus sieht aus, als ob da ’ne Bombe explodiert wäre. Es war ein prächtiges Haus, aber er hat nie was dran machen lassen. Erst ist die Scheune eingefallen. Er hätte sie verpachten können, aber er wollte nicht. Unser LPG –Vorsitzender war ein paar mal bei ihm und wollte auch die Dreschmaschine kaufen, weil sie die dringend benötigten. Sie stand nutzlos auf dem Hof rum und begann zu verrosten. Aber er bekam immer die gleiche Antwort: “De kann dor stohn blieben, de stürt doch kein ’n!“
Das Schilf auf dem Haus fing an zu verfaulen. Lukas wollte, dass das Haus über ihm zusammenstürzte. Und stellen Sie sich vor! So ist es fast gekommen. Er wurde krank, kam ins Krankenhaus und dort ist er dann auch gleich gestorben. Einen Tag nachdem er weg war, ist die Zimmerdecke runtergestürzt, genau auf die Stelle wo er gelegen hatte.“
„So wollte er ’s ja haben.“
„Aber denken Sie mal: So ’n schönes Haus! Der Neffe, der alles geerbt hat, kann nichts mehr damit anfangen. Das Ganze ist fast nur noch ein Trümmerhaufen.
Mit ihm sollte eben alles zu Ende sein. So war ihm immer zumute.“
„Ist das Haus hier in der Nähe?“
„Sie brauchen bloß da unten an der Kreuzung rechts rum zu gehen. Aber zuerst zeige ich Ihnen Ihr Schlafquartier. Ist fast so schlimm wie bei Walter Lukas. Aber es kommt bald in Ordnung.“
Frau Dahmke stand auf und trug das Kaffeegeschirr in die Küche.
Alban half ihr. Dann nahm sie einen Schlüssel vom Wandbrett und
ging hinaus, um den anderen Eingang aufzuschließen.
„Wir wurden am Ende des Krieges ausgebombt und sind dann später hierher gezogen. Da mein Mann fast acht Jahre lang schwer krank war, konnten wir noch nicht viel in Ordnung bringen. Auch die Wasser-
leitung wird jetzt erst gebaut.“
Der Fußboden des Flures den sie betraten, bestand wie beim anderen Hauseingang aus roten Backsteinen. Er endete aber nicht wie dieser in einer Tür, sondern hatte als Abschluss ein Fenster. Zwei Maurerböcke standen da, Bretter, ein Holztrog und andere Gerätschaften.
Der Gast wurde ins vordere Zimmer geführt, dessen Fenster sich auf der Straßenseite befand. Ein Schrank, ein Bett, eine Kommode und ein transportabler Kachelofen stellten die Einrichtung dar. Die Wände waren weiß, zum Teil schon grau, die Decke verrußt und brüchig.
Alban kam sich tatsächlich vor wie im Haus von Walter Lukas und machte ein betretenes Gesicht. Die Wirtin entschuldigte sich noch einmal:
„Das Licht ist leider auch kaputt. Ich bringe Ihnen nachher ’ne Kerze. Frühstück und Abendbrot essen Sie bei mir drüben.
Ich stelle Ihnen alles hin. Wasser holen wir immer an der alten Schule. Das ist das rote Haus auf der anderen Straßenseite. Einen Eimer habe ich auch für Sie.“
Sie ging wieder hinaus und ließ ihren Gast allein. Er stand unentschlossen in dem dumpfen Raum. Schließlich öffnete er mit einiger Mühe das Fenster, welches klemmte. Von draußen strömte frische Luft herein.
Dann holte er sein Fahrrad, stellte es neben die Tür und brachte seine Sachen herein. Er hatte nicht viel mitgebracht. Die beiden Satteltaschen und die Reisetasche hatten ausgereicht, um alles unterzubringen.
Die Schachteln mit den Farben und zwei Fläschchen mit einer Flüssigkeit zum Malen stellte er auf den Ofen. Seine Malpappen und Zeichenblöcke schob er auf den Schrank, die hölzerne Staffelei, deren Einzelteile er gleich zusammenschraubte, lehnte er an den Schrank. Seine Wäsche kam auf die Kommode, zwei Handtücher hängte er an einen Nagel. Ein Schreibheft, ein Füller, Bleistifte und zwei kleine broschierte Bücher, die sich schon in einzelne Teile aufgelöst hatten, wurden auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand, gelegt.
Frau Dahmke kehrte zurück, brachte einen Kerzenleuchter, Streichhölzer und einen Wassereimer.
„Fehlt Ihnen noch was? Das Bett bringe ich nachher in Ordnung.“
„Darf ich ein paar Postkarten an die Wände pinnen?“
Alban zeigte ihr Karten mit Gemäldewiedergaben.
„Aber sicher. Ich gebe Ihnen Reißnägel. Sie sammeln wohl Postkarten?“
„Nein. Die sind nur zur Anregung. Ich male nämlich.“
„Das dachte ich mir doch fast. Na, dann werden Sie sich hier nicht langweilen. Wenn Sie alles malen wollen, was hier schön ist, dann sind Sie für ’ne Weile beschäftigt. Sie müssen mal da hoch gehen, wo die Kirche steht. Da haben Sie den besten Ausblick. Es ist gerade erst sechs Uhr, um diese Zeit kann man noch was sehen.“
Alban nahm seine Zeichenmappe und einen Kreidestift, verließ das Zimmer und ging die Steinstiege hinunter zur Straße. Dort schlug er die Richtung ein, aus der er vor ein paar Stunden gekommen war.
Als er vorhin auf dieser Straße ins Dorf einfuhr, wusste er noch nicht, was ihn erwartete, und er konnte seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen. Jetzt stand inzwischen fest, wo er in den nächsten Tagen schlafen, frühstücken und das Wasser holen würde; er kannte schon einige Namen und Geschichten, die seine Fantasie weiter ausspinnen konnte. Sollte daraus auch eine Geschichte für ihn werden?
Im Kirchturm wurde eine Glocke geläutet. Sie klang weich und dunkel. Alban sah das Kirchengebäude zwischen den hohen Bäumen und erreichte die Feldsteinmauer, durch die der Kirchhof von der Straße abgegrenzt war. Zwischen zwei gemauerten Pfeilern befand sich das Eingangstor. An dem einen Pfeiler hingen die Reste eines hellblauen Plakates, auf dem für die Ostseewoche geworben wurde.
Der eine Torflügel stand offen. Alban ging hinein und sah vor der Kirche drei Jungen zwischen den Grabsteinen und Grabkreuzen
hin und her springen. Sie hatten Stöcke in der Hand und bewarfen sich mit Steinen. Als sie bemerkten, dass ein Erwachsener im Gelände erschien, ließen sie voneinander ab und verschwanden hinter dem Gebäude.
Alban sah sich um. Gleich neben dem Eingang befand sich auf einem Platz, der von Gras überwuchert war, ein altes Kriegerdenkmal in Form einer Feldsteinpyramide. Eine Platte war darin eingelassen, auf der die Worte standen:

Den Gefallenen des Weltkrieges 1914–1918
Die Gemeinde Altenhagen.

Als er weiter ging, fiel ihm unter den Grabmalen, die in der Wiese standen, eine Steinstele auf. Sie endete oben in einer Rundung. Diese Rundung war außen mit einem Rankenornament, in der Mitte mit einem achtzackigen Stern geschmückt. Darunter war folgende Inschrift zu lesen:

„Gott eilet mit den seinen, läst sie nicht lange Weinen
in diesem tränen thal. ein schnel und Seelig sterben
ist schnell und glücklig Erben des schönen Himmels Ehren saal.“

Die andere Seite der Stele, die eigentliche Vorderseite, war oben mit einem Engelsköpfchen geschmückt, das von einem Flügelpaar umschlungen wurde. Die Inschrift darunter lautete:

Hier ruhet in Gott der Seelig verstorbene
JOHANN CHRISTIAN KINGREEN
gebohren den 21ten JULI 1781
gestorben den 1ten JULI 1818
sein Alter 36 Jahr 11 Monat 10 Tage


 

 

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