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Engel, Gisela / Gruber, Malte-Christian (Hg.)

Bilder und Begriffe des Bösen

[= Salecina-Beiträge zur Gesellschafts- und Kulturkritik,  Bd. 7], trafo verlag 2007, zahlr., Abb. davon 11 farbige Abb., ISBN (10) 3-89626-574-1, ISBN (13) 978-3-89626-574-6, 188 S., 24,80 EUR

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Seit der Rede über die "Achse des Bösen" hat "das Böse" aktuelle weltpolitische Gestalt angenommen. Den "Bösen" stehen die "Guten", dem Bösen steht das Gute gegenüber. Wie wird diese Antithese medial vermittelt? Welche Bilder und Begriffe gibt es von/vom "Bösen" und "Guten"? Welche Beziehung gibt es zwischen "dem Bösen", der Sünde, der "Natürlichkeit" oder "Widernatürlichkeit"? Ist der Teufel böse? Gibt es böse Tiere oder Pflanzen? Wie wandelt sich die Wahrnehmung vom Bösen? Und wie wird dies in Bildern, in der Literatur, in Filmen usw. repräsentiert, kodifiziert und imaginiert - auch z.B. durch das Verdeutlichen des Nicht-Gezeigten?

Die aufgeworfenen Fragen deuten es an: Das Böse ist in allen menschlichen Denk- und Diskurswelten präsent. Selbst jenseits aller Darstellungs- und Vorstellungskraft zeigt sich das Böse und wird erfahren als das Unfaßbare. Die Unbegreiflichkeit dieses vielgestaltigen Phänomens ist schließlich auch der Grund für die besondere Faszination, welche das Böse zu allen Zeiten auf Menschen ausgeübt hat.

 

Inhalt

 

Einleitung 7

Gisela Engel und Malte-Christian Gruber

 

Das Böse und die Gerechtigkeit Gottes 13

Josef Bordat

 

Imaginationen des Bösen in Christentum und Islam 29

Susanne Schröter

 

Diesseits von Gut und Böse: Akteure und Achsen 45

Malte-Christian Gruber

 

"Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben." Hegels Bedingungen der Freiheit und die Rolle der Philosophie als Geisteswissenschaft: Ein Lehrstück für aktuelle Bosheiten zur

Hirnforschung als Popscience 61

Nicole C. Karafyllis

 

Er lässt sich nicht lesen. Poe, Galton, Herold und das unkenntliche Böse 89

Roland Meyer

 

Schmutzige Hieroglyphen. Ansichten des Bösen im physiognomischen Bedeutungsglauben 107

Martin Uebelhart

 

Copykids: Böse Bilder und tödliche Reproduktionen in Gore Verbinskis The Ring 123

Felix Holtschoppen

 

Male Coloratura – Klang des Bösen 141

Sylvia Mieszkowski

 

Bad Hair Day. Manifestationen des Bösen auf dem Haupt 161

Martina Sehring

 

Kurze Angaben zu den Autorinnen und Autoren 183

 

 

Einleitung

Gisela Engel und Malte-Christian Gruber

I. Erinnerung

Der Fater (ich schreibe ihn gern so, um auszudrücken, wie gern ich einen Vater gehabt hätte), ein milder, wie es schien, und von im Krieg erworbener Malaria geschwächter junger Mann fand nach der Kriegsgefangenschaft Verwendung bei der Zollverwaltung, indem er an der holländischen Grenze den illegalen Grenzübertritt von Schmugglern und Schmuggelwaren aller Art verhindern sollte. Dies tat er – ungern, wie er sagte, – mit einem furchteinflößenden Gewehr und einem Schäferhund, mit dem wir Kinder spielten. Die Uniform, sagte er, sei ihm unangenehm, das Gewehr desgleichen, den Hund aber liebte er. Außerhalb der Dienstgänge entlang der Grenze, in seiner Freizeit, bestellte er einen großen Garten, tatkräftig von der Mutter unterstützt, und sorgte so in der "Schlechten Zeit" für das tägliche Essen. Von einem Bauern besorgte er Küken, die in der warmen Spätfrühlingssonne in einem Glaskasten in den Garten gestellt wurden, damit sie in der Wärme besser wachsen sollten: Man betrachtete die Küken unter dem Aspekt der künftigen Hühnersuppe. Unsere Katze sah die Küken wohl unter einem ähnlichen Gesichtspunkt: Es gelang ihr, die Abdeckung des Glaskastens beiseitezuschieben, und sie fraß sie auf.

Nun war die Empörung groß, eine Versammlung der Erwachsenen in der Zöllnersiedlung fand statt, zu der den Kindern der Zutritt verwehrt wurde, und es wurde etwas beschlossen, von dem die Kinder auf ungefähre Art Kenntnis erhielten. Jedenfalls wussten wir, dass zu einer gewissen Stunde ein Ungewisses an einem gewissen Ort stattfinden sollte, zu dem uns der Zutritt ebenfalls insofern verboten wurde, als man uns ins Bett schickte. Die Kinder waren aber so aufgeregt wie die Erwachsenen, schlichen sich aus den Zimmern unter die Haselnuss-Sträucher, duckten und verbargen sich. Sie konnten die Szenerie nur ausschnitthaft sehen: Beine von Männern in Militär- bzw. Zollstiefeln, die auf einen Baum zugingen. Ein Sack hing herunter, der zugebunden war. In ihm zappelte die Katze. Die Männer mit den Militär- bzw. Zollstiefeln hingen den Sack an einen Baum, holten den Kopf der Katze heraus, wickelten ein Seil um ihren Hals und dann um einen Ast; der Fater zog an dem Seil, und die Katze war tot. Und den Kindern war beklommen, ängstlich und verworren. Sie schlichen sich wieder in die Betten, und die Erwachsenen trafen sich in einer der Wohnungen, um einen Schnaps zu sich zu nehmen.1

II. Fragen

Das Böse hat in jeder Kindheitserinnerung verschiedener Menschen verschiedene Gestalt. Die ersten bewusst erinnerten – von den unbewussten ganz zu schweigen – Erfahrungen mit dem Bösen, die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten – ist die Katze bös oder der F/Vater? –, die Abgrenzungsprobleme, das Finden des richtigen Maßes bei der Beurteilung des als bös Erfahrenen, der Umgang mit ihm angesichts all der Abhängigkeiten, Angewiesenheiten, Nöte und widersprüchlichen Bedürfnisse, am Ende das Vergessen, Verleugnen und Verdrängen aus eigener Lebensnot (man will doch einen Vater und keinen Fater): All dies führt zu einer ambivalenten Haltung gegenüber dem Bösen, zur Uneindeutigkeit, auch zur Lust am Bösen, zur Faszination.

Den "Bösen" stehen die "Guten", dem Bösen steht das Gute gegenüber. Wie wird diese Antithese medial vermittelt? Welche Bilder und Begriffe gibt es von/vom "Bösen" und "Guten"?

Welche Beziehung gibt es zwischen "dem Bösen", der Sünde, der "Natürlichkeit" oder "Widernatürlichkeit"? Ist der Teufel böse? Gibt es böse Tiere oder Pflanzen? Sind Kinder böse? Wie wandelt sich die Wahrnehmung vom Bösen? Und wie wird dies in Bildern, in der Literatur, in Filmen usw. repräsentiert, codifiziert und imaginiert – auch z.B. durch das Verdeutlichen des Nicht-Gezeigten?

Wie sieht das Konzept des Bösen in den verschiedenen Wissenschaften aus? Wie gehen Psychoanalyse, Soziologie, die Rechtswissenschaft usw. mit "dem Bösen" um? In welchen Kontexten wird das Böse generiert, begrifflich ausgearbeitet und dargestellt? Welche Rolle spielt eine Vorstellung vom Bösen, von bösen Menschen, Tieren oder Dingen im alltäglichen Handeln? Und worin liegt die Lust an Darstellungen des Bösen?

Die aufgeworfenen Fragen deuten es an: Das Böse ist in allen menschlichen Denk- und Diskurswelten präsent. Selbst jenseits aller Darstellungs- und Vorstellungskraft zeigt sich das Böse und wird erfahren als das Unfassbare. Die Unbegreiflichkeit dieses vielgestaltigen Phänomens ist schließlich auch der Grund für die besondere Faszination, welche das Böse zu allen Zeiten auf Menschen ausgeübt hat.

Ungeachtet des historischen Wandels von Begriffen und Bildern des Bösen könnten sich die verschiedenen Bilder des Bösen immerhin an einer gemeinsamen Aufgabe bewähren: An der Beantwortung der Frage, wie das Böse, welches für bestimmte Handlungen und Ereignisse anscheinend – oder nur scheinbar – grundlegend ist, eine eigene Akteursqualität erhalten kann. Auf welche Weise wird eine Handlung (oder ein Ereignis) zu einer bösen und wie kann man sie als solche identifizieren? Werden hierbei Regelmäßigkeiten und gemeinsame Strukturen erkennbar? Anders ausgedrückt: Hat das Böse ein "Wesen", und wie könnte dieses gegebenenfalls verstanden werden?

 

 

III. Themen

Aus der Fülle der möglichen Fragen und Themen2 haben wir auf einem Symposium in Frankfurt am Main (14. und 15. Juli 2006) einige diskutiert. Aus den dort vorgetragenen Überlegungen und den Diskussionen gehen die vorliegenden Beiträge hervor. Angeregt wurde die Thematisierung des Bösen von der Rede über die "Achse des Bösen", seit der "das Böse" aktuelle und bestürzende weltpolitische Gestalt angenommen hat. Freilich kommt dies nicht von ungefähr: In einem Vorgänger-Band zur Reihe Salecina-Beiträge zur Gesellschafts- und Kulturkritik, nämlich in Utopische Perspektiven3 hat David Katz die Bedeutung und den weitreichenden und beunruhigenden Einfluss amerikanischer fundamentalistischer christlicher Strömungen im vorpolitischen und im politischen Raum anhand der Rezeptionsgeschichte von Hal Lindseys Bestseller The Great Late Planet Earth (1970) verdeutlicht4: In dieser Perspektive ist die Rede von George W. Bush über die Achse des Bösen nicht überraschend.

Die Wahrnehmung des Bösen in der säkularen Gesellschaft belässt die Verantwortung vordergründig noch immer bei den Menschen. Doch je weniger den Betroffenen die ungeheuerlichen Katastrophen der Menschheitsgeschichte – etwa vom Erdbeben von Lissabon (1755) bis hin zu Ground Zero (2001) – rational verstehbar erscheinen, desto häufiger misslingen auch die menschlichen Erwartungs- und Zuschreibungsmuster. Wie Josef Bordat im ersten Beitrag ausführt, wird dann auch in westlichen Gesellschaften wieder die alte Frage der Theodizee vernehmbar: Wo ist Gott im Leid und warum lässt er das Böse zu? Bordat sucht nach einer Antwort in einer Zusammenschau von gegenwärtig erfahrenem Leid und der Erwartung künftigen Heils, wie sie im Kreuzestod Christi vereint scheinen.

Doch wie könnte das Böse angesichts unversöhnlich einander gegenüberstehender großer Erzählungen überwunden werden? Susanne Schröter zeigt anhand der Geschichte dauerhafter Konfrontationen von Orient und Okzident, dass diese mit einer lange zurückreichenden rhetorischen Tradition verbunden ist, die den jeweiligen Gegner als Personifizierung des Bösen imaginiert. Einen möglichen Ausweg aus dieser wechselseitigen Verteufelung sucht Malte-Christian Gruber in der Erkenntnis der beteiligten Akteure und Achsen des Bösen. Friedliche Lösungen erfordern, wie Gruber darlegt, die gegenseitige Anerkennung der Konfliktparteien und deren Verhandlungen über die gemeinsame Welt der Zukunft.

Konfligierende Geltungsansprüche treten allerdings nicht nur in gegensätzlichen Religionen und Gesellschaften ans Licht, sondern liegen auch den unterschiedlichen Bildern und Begriffen der Wissenschaften zugrunde. In diesem Sinne sieht Nicole C. Karafyllis in den Debatten um den biologischen Determinismus einen geistesgeschichtlich nachvollziehbaren Bezug zur Idee des Bösen. In der Tat muss die Auseinandersetzung um die Erkenntnisse der Hirnforschung immer auch die aufeinander treffenden Prämissen und Begrifflichkeiten reflektieren. Erst auf dieser Basis können sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse vor den Geisteswissenschaften bewähren und mit diesen in gemeinsamer Anstrengung ein zukünftiges Menschenbild erarbeiten.

Neben den genannten Erscheinungsformen des Bösen gibt es jedoch, wie Roland Meyer im nachfolgenden Beitrag zeigt, auch eine solche, die sich dem menschlichen Blick vollends entzieht: das unkenntliche Böse. Angesichts von Beispielen aus Literatur (Poe), Bildherstellung (Galton) und polizeilicher Fahndungsmethode (Herold) befinde sich das Böse letztlich nur in einem Gesicht, das sich nicht lesen lässt.

Bei der Unkenntlichkeit des Bösen angelangt, unternehmen die daran anschließenden Beiträge den erneuten Versuch, wieder Bilder des Bösen zu benennen: Martin Übelhart nähert sich den Bildern des Bösen dabei zunächst in der Weise, dass er den physiognomischen Bedeutungsglauben einer ausführlichen Kritik unterzieht. Felix Holtschoppen zeigt sodann die verschiedenen filmischen Darstellungsvarianten des Bösen anhand von Gore Verbinskis The Ring auf.

Sylvia Mieszkowski betont im nächsten Schritt die verbalen und klanglichen Zeichen und Symbole, in welchen sich das Böse zum Ausdruck bringt.

Wenn sich das Böse also in den vielfältigsten Klängen, Wörtern, Bildern und Begriffen entfaltet, so liegt die weitere Vorstellung nahe, dass das Böse eigenständig wächst, möglicherweise wie das Haar der Medusa sogar ein Eigenleben besitzt. Diesen Gesichtspunkt beleuchtet Martina Sehring in ihrem abschließenden Beitrag zur Funktion des Haares in der Gruselliteratur näher.

Mit dem beweglichen, fließenden Charakter des bösen Haares schließt sich der Kreis angesichts der Fluidität derer, die wir als böse Akteure wahrnehmen, (re-)konstruieren und für ihre (bösen) Handlungen verantwortlich machen. Tatsächlich besteht dabei auch die Gefahr, dass im Rahmen der gegenseitigen Attributionen die Zuschreibungssubjekte und -objekte mit ihren jeweiligen Handlungslegitimationen am Ende ununterscheidbar werden. Dies gilt sowohl auf der weltpoltischen Makroebene für das Verhältnis von Staaten und nicht-staatlichen Akteuren als auch auf der Mikroebene: Denn die Zurechnung von Verantwortlichkeiten erstreckt sich nicht nur auf menschliche Kollektive und Individuen, sondern kann auch nicht-menschliche Wesen erfassen. Tierstrafen und Tierprozesse5 sind daher jedenfalls aus rechtsgeschichtlicher Sicht nichts Ungewöhnliches, und noch bis in die Gegenwart hinein werden Tiere mitunter als "böse" Akteure bestraft. Selten ergeht es ihnen dabei besser als der eingangs erwähnten Katze.

Unter ungewissen Bedingungen – sei die Unsicherheit nun real oder bloß vorgestellt – finden Menschen immer wieder neue Strategien der Verantwortungs- und Schuldzuschreibung. Sie weisen dem Bösen einen neuen Ort zu und gewinnen dadurch Sicherheit, welche ihnen wiederum ein zukunftsorientiertes Handeln ermöglicht. Doch was, wenn die Schuldzuweisungen unbegründet und ungerecht sind? Neben dem Gewissen der Recht Schaffenden leidet unter dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis nur allzu oft ein weiterer, wesentlicher Aspekt des menschlichen Lebens: die Freiheit6 der Rechtschaffenen.

 

 

Anmerkungen

1 Aus den unveröffentlichten Memoiren von Cilly Eysenblum: Ghiribizzi für den Fater.

2 Vgl. etwa Gerhard Zacharias (Hg.), Das Böse. Dokumente und Interpretationen. München: Hanser, 1972, sowie den in erster Linie historisch ansetzenden Sammelband von Carsten Colpe und Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg.), Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen. Frankfurt: Suhrkamp, 1993.

3 Gisela Engel und Birgit Marx, (Hg.), Utopische Perspektiven. Dettelbach: Verlag J.H. Roell, 1998 (= Forum für Interdisziplinäre Forschungen, Bd. 18).

4 David Katz, »Nuclear Doomsday: The Fundamentalist Utopia«, in: Gisela Engel und Birgit Marx, (Hg.), Utopische Perspektiven. Dettelbach: Verlag J.H. Roell, 1998 (= Forum für Interdisziplinäre Forschungen, Bd. 18), S. 154-167.

5 Karl von Amira, Thierstrafen und Thierprozesse, Innsbruck: Wagner, 1891; Hans Albert Berkenhoff, Tierstrafe, Tierbannung und rechtsrituelle Tiertötung im Mittelalter, Leipzig: Heitz, 1937; Michael Fischer, Tierstrafen und Tierprozesse. Zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten. Münster: LIT, 2005.

6 Zu diesem Aspekt insbesondere Rüdiger Safranski, Das Böse oder das Drama der Freiheit, München/Wien: Hanser, 1997.