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Petra Werner

 

 

Reise zu den Schwarzen Korallen
 

 

Roman

 

 

 

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2024, 248 S., ISBN 978-3-86465-195-3, 13,80 EUR

lieferbar

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Inhalt


Kapitel 1: Das Schiff 7
Kapitel 2: Dunkle Geheimnisse 33
Kapitel 3: Die Schaukel 38
Kapitel 4: Der Tisch für Alleinreisende 61
Kapitel 5: Wir treffen uns am Ende der Pier 93
Kapitel 6: Schwarze Korallen 112
Kapitel 7: Abendliche Gespräche 131
Kapitel 8: Das antike Kohunlich 155
Kapitel 9: Verführungen und Versteckspiele 194
Kapitel 10: Finale 241

Über die Autorin 247

Leseprobe aus

Kapitel 2
Dunkle Geheimnisse

Dass Carola vor weiteren medizinischen Untersuchungen ausgerechnet auf dieser Schiffsroute reiste, hing mit einem alten Wunsch aus ihrer Jugend zusammen: sie wollte einen Ort in Mexiko besuchen, der schon lange ihre Phantasie beschäftigte. So trug sie im Gepäck eine Ansichtskarte der mexikanischen Insel Cozumel, die sie vor fast fünfzig Jahren von der Mutter einer ehemaligen Mitschülerin bekommen hatte. Auf der Karte war der Strand von Cozumel abgebildet und in die rechte untere Ecke hatte der Gestalter das kleine Foto eines filigranen, fächerförmigen Gebildes, einer Schwarzen Koralle, eingefügt.
Die Abbildung dieses dunkel gefärbten Lebewesens war Carola zum ersten Mal in ihrer Jugend in einem bebilderten Zeitungsartikel begegnet. Harry hatte ihn ihr gezeigt und sie beide träumten sehnsuchtsvoll davon, eines Tages jenes Land zu bereisen, wo diese Korallen wuchsen, Mexiko. Der Fotograf hatte diese geheimnisvollen Gebilde effektvoll in Szene gesetzt und auch ihre Lebensweise erklärt – sie, schön wie Blumen, kommen in tropischen Meeren in mehr als hundert Metern Tiefe vor. Carola hatte viele Einzelheiten behalten: sie bestehen aus einzelnen Polypen, die sich von vorbeischwimmenden Lebewesen ernähren, indem sie ihre Beute mit klebriger Flüssigkeit umschließen und anschließend verdauen. Ihre schöne Farbe, die von sehr dunklem Blau über Braun bis zum tiefsten Schwarz reichen kann, so der Verfasser, erhielten die Korallen von den bunten Algen, mit denen sie eine für beide Organismen lebenswichtige Symbiose eingehen. Daran, so mahnte er, solle sich der Mensch stets erinnern. Am Schluss des Artikels hatte der Autor erwähnt, dass die Verarbeitung dieser seltenen Korallen zu teurem Schmuck auch der Finanzierung der Armutsbekämpfung diene – Einzelheiten hatte er nicht erklärt.
Seitdem beschäftigten diese Korallen Carolas Phantasie. Dass sie Teil jener riesigen, geheimnisvollen und größtenteils unerforschten Welt war, die sich nun vor dem Balkon ihrer Kabine ausbreitete, faszinierte sie und lenkte von ihrer Krankheit ab. Auch der Gedanke, dass unter der Wasseroberfläche – der Kapitän sprach zuweilen von mehr als zehntausend Metern Tiefe – vieles lauerte, was niemand kannte und das sicher alle an Bord unterschätzten, beschäftigte sie: waren es außer Schwarzen Korallen aggressive Tiefseelebewesen und unterirdische Vulkane? Oder lag das Tiefe, Unberechenbare vor allem in den Menschen selbst, die an Bord waren? Als Psychotherapeutin glaubte sie an die Gefährlichkeit von Menschen, schließlich hatte sie jahrelang Straftäter therapiert. Nun genoss sie das Schweigen, wer schwieg, log immerhin nicht. Obwohl sie eher streng wirkte, hatte sie eine Ausstrahlung, die Menschen dazu verleitete, ihr weiterhin ihr Leben zu erzählen, auch wenn Carola lediglich zuhörte.
Selbst zu schweigen hatte sie sich in der ärztlichen Praxis angewöhnt. Sie war gern allein, wollte sich nicht in einem der Restaurants stundenlang an einen weißgedeckten Tisch setzen. Deshalb ging sie ins Büfett-Restaurant, nahm dort auf einem der Barhocker Platz und schaute aufs Meer. Manchmal tauchten zwischen Suppe und Dessert vor dem Fenster kleine Inseln auf. Vor allem die unbewohnten, und das waren die meisten, regten ihre Phantasie an. Wer oder was versteckte sich dort? Reiche Leute? Aussteiger? Seeräuber? Entflohene Sträflinge? Diese großen Fenster erinnerten sie an Kinoleinwände und wenn sie in einem der tiefen Sessel saß, schaute sie auf die Welt da draußen aus einer Art Froschperspektive.
Carola nahm an Vorträgen teil, die an Bord angeboten wurden, unter anderem über den Panama-Kanal, die Geschichte Kolumbiens und den Drogenhändler Pablo Escobar, der 1993 erschossen worden war und den noch viele Menschen als Wohltäter verehrten.
Bei einer Präsentation fiel ihr im Publikum eine Frau auf, die stets zu spät kam, geräuschvoll die Hilfe anderer in Anspruch nahm, sich mühevoll am Geländer hochzog und am Rand sitzen blieb, um ihr krankes Bein ausstrecken zu können. Auf ebener Strecke schob sie einen Rollator vor sich her, dennoch schien es Carola, als brauche sie das Gerät eigentlich nicht. Im Verhalten der Frau lag etwas Demonstratives, alles an ihr sagte: seht her, wie gebrechlich ich bin. Oder wollte sie sagen: ich bin ungefährlich, weil alt und krank? Carola behielt sie von nun an im Blick und sie bemerkte, dass die Fremde, sobald sie sich unbeobachtet fühlte, leichtfüßig dahinschritt. Eines war offensichtlich – sie war etwa so alt wie sie, Carola, also Anfang siebzig. Aber welchen Grund hatte sie, ihre Umgebung zu täuschen und Hinfälligkeit zu simulieren? Carola fielen eine Narbe an der rechten Hand der Frau und ein seltsamer Kettenanhänger auf, offensichtlich die Hälfte eines Amuletts. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr war sie davon überzeugt, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. War es eine Patientin, eine Mitschülerin, eine frühere Nachbarin? Carola beschloss, sich das Amulett genauer anzuschauen, aber die Frau trug es nicht mehr. Hatte sie sich getäuscht?
Carola überlegte, dass es sich um eine Schulkameradin aus der Grundschule handeln könnte. Sie beschloss, sie nicht anzusprechen, sondern zu beobachten. Alles war lange her, trotzdem war Carola davon überzeugt, dass es außer biometrischen Daten des Gesichts auch andere Merkmale gibt, die für Menschen ein Leben lang charakteristisch sind, dazu zählen Körperhaltung, Gang, die Bewegung der Hände und die des Kopfes. Auch die Stimme gehörte dazu. Im Falle der Frau war sich Carola nicht sicher. Trog sie die Erinnerung? Wollte sie sehen, was sie sah? Oder entsprach diese Frau einem bestimmten Typ, den sie seit ihrer Kindheit kannte? ...