Inhalt
Kapitel 1: Das
Schiff 7 Kapitel 2: Dunkle Geheimnisse 33 Kapitel 3: Die Schaukel 38
Kapitel 4: Der Tisch für Alleinreisende 61 Kapitel 5: Wir treffen uns
am Ende der Pier 93 Kapitel 6: Schwarze Korallen 112 Kapitel 7:
Abendliche Gespräche 131 Kapitel 8: Das antike Kohunlich 155 Kapitel
9: Verführungen und Versteckspiele 194 Kapitel 10: Finale 241
Über die Autorin 247
Leseprobe aus
Kapitel 2
Dunkle Geheimnisse
Dass Carola vor weiteren medizinischen Untersuchungen ausgerechnet auf
dieser Schiffsroute reiste, hing mit einem alten Wunsch aus ihrer Jugend
zusammen: sie wollte einen Ort in Mexiko besuchen, der schon lange ihre
Phantasie beschäftigte. So trug sie im Gepäck eine Ansichtskarte der
mexikanischen Insel Cozumel, die sie vor fast fünfzig Jahren von der
Mutter einer ehemaligen Mitschülerin bekommen hatte. Auf der Karte war der
Strand von Cozumel abgebildet und in die rechte untere Ecke hatte der
Gestalter das kleine Foto eines filigranen, fächerförmigen Gebildes, einer
Schwarzen Koralle, eingefügt. Die Abbildung dieses dunkel gefärbten
Lebewesens war Carola zum ersten Mal in ihrer Jugend in einem bebilderten
Zeitungsartikel begegnet. Harry hatte ihn ihr gezeigt und sie beide
träumten sehnsuchtsvoll davon, eines Tages jenes Land zu bereisen, wo
diese Korallen wuchsen, Mexiko. Der Fotograf hatte diese geheimnisvollen
Gebilde effektvoll in Szene gesetzt und auch ihre Lebensweise erklärt –
sie, schön wie Blumen, kommen in tropischen Meeren in mehr als hundert
Metern Tiefe vor. Carola hatte viele Einzelheiten behalten: sie bestehen
aus einzelnen Polypen, die sich von vorbeischwimmenden Lebewesen ernähren,
indem sie ihre Beute mit klebriger Flüssigkeit umschließen und
anschließend verdauen. Ihre schöne Farbe, die von sehr dunklem Blau über
Braun bis zum tiefsten Schwarz reichen kann, so der Verfasser, erhielten
die Korallen von den bunten Algen, mit denen sie eine für beide Organismen
lebenswichtige Symbiose eingehen. Daran, so mahnte er, solle sich der
Mensch stets erinnern. Am Schluss des Artikels hatte der Autor erwähnt,
dass die Verarbeitung dieser seltenen Korallen zu teurem Schmuck auch der
Finanzierung der Armutsbekämpfung diene – Einzelheiten hatte er nicht
erklärt. Seitdem beschäftigten diese Korallen Carolas Phantasie. Dass
sie Teil jener riesigen, geheimnisvollen und größtenteils unerforschten
Welt war, die sich nun vor dem Balkon ihrer Kabine ausbreitete,
faszinierte sie und lenkte von ihrer Krankheit ab. Auch der Gedanke, dass
unter der Wasseroberfläche – der Kapitän sprach zuweilen von mehr als
zehntausend Metern Tiefe – vieles lauerte, was niemand kannte und das
sicher alle an Bord unterschätzten, beschäftigte sie: waren es außer
Schwarzen Korallen aggressive Tiefseelebewesen und unterirdische Vulkane?
Oder lag das Tiefe, Unberechenbare vor allem in den Menschen selbst, die
an Bord waren? Als Psychotherapeutin glaubte sie an die Gefährlichkeit von
Menschen, schließlich hatte sie jahrelang Straftäter therapiert. Nun
genoss sie das Schweigen, wer schwieg, log immerhin nicht. Obwohl sie eher
streng wirkte, hatte sie eine Ausstrahlung, die Menschen dazu verleitete,
ihr weiterhin ihr Leben zu erzählen, auch wenn Carola lediglich zuhörte.
Selbst zu schweigen hatte sie sich in der ärztlichen Praxis angewöhnt.
Sie war gern allein, wollte sich nicht in einem der Restaurants
stundenlang an einen weißgedeckten Tisch setzen. Deshalb ging sie ins
Büfett-Restaurant, nahm dort auf einem der Barhocker Platz und schaute
aufs Meer. Manchmal tauchten zwischen Suppe und Dessert vor dem Fenster
kleine Inseln auf. Vor allem die unbewohnten, und das waren die meisten,
regten ihre Phantasie an. Wer oder was versteckte sich dort? Reiche Leute?
Aussteiger? Seeräuber? Entflohene Sträflinge? Diese großen Fenster
erinnerten sie an Kinoleinwände und wenn sie in einem der tiefen Sessel
saß, schaute sie auf die Welt da draußen aus einer Art Froschperspektive.
Carola nahm an Vorträgen teil, die an Bord angeboten wurden, unter
anderem über den Panama-Kanal, die Geschichte Kolumbiens und den
Drogenhändler Pablo Escobar, der 1993 erschossen worden war und den noch
viele Menschen als Wohltäter verehrten. Bei einer Präsentation fiel
ihr im Publikum eine Frau auf, die stets zu spät kam, geräuschvoll die
Hilfe anderer in Anspruch nahm, sich mühevoll am Geländer hochzog und am
Rand sitzen blieb, um ihr krankes Bein ausstrecken zu können. Auf ebener
Strecke schob sie einen Rollator vor sich her, dennoch schien es Carola,
als brauche sie das Gerät eigentlich nicht. Im Verhalten der Frau lag
etwas Demonstratives, alles an ihr sagte: seht her, wie gebrechlich ich
bin. Oder wollte sie sagen: ich bin ungefährlich, weil alt und krank?
Carola behielt sie von nun an im Blick und sie bemerkte, dass die Fremde,
sobald sie sich unbeobachtet fühlte, leichtfüßig dahinschritt. Eines war
offensichtlich – sie war etwa so alt wie sie, Carola, also Anfang siebzig.
Aber welchen Grund hatte sie, ihre Umgebung zu täuschen und Hinfälligkeit
zu simulieren? Carola fielen eine Narbe an der rechten Hand der Frau und
ein seltsamer Kettenanhänger auf, offensichtlich die Hälfte eines
Amuletts. Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr war sie davon
überzeugt, diese Frau schon einmal gesehen zu haben. War es eine
Patientin, eine Mitschülerin, eine frühere Nachbarin? Carola beschloss,
sich das Amulett genauer anzuschauen, aber die Frau trug es nicht mehr.
Hatte sie sich getäuscht? Carola überlegte, dass es sich um eine
Schulkameradin aus der Grundschule handeln könnte. Sie beschloss, sie
nicht anzusprechen, sondern zu beobachten. Alles war lange her, trotzdem
war Carola davon überzeugt, dass es außer biometrischen Daten des Gesichts
auch andere Merkmale gibt, die für Menschen ein Leben lang
charakteristisch sind, dazu zählen Körperhaltung, Gang, die Bewegung der
Hände und die des Kopfes. Auch die Stimme gehörte dazu. Im Falle der Frau
war sich Carola nicht sicher. Trog sie die Erinnerung? Wollte sie sehen,
was sie sah? Oder entsprach diese Frau einem bestimmten Typ, den sie seit
ihrer Kindheit kannte? ...
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