Zum Buch
Er, Helmut Hermann, wurde am 26. April 1931 als
Sohn seiner Mutter Gertrud und seines Vaters Hermann Rudolf, mehr noch als
Enkel Karl Stadelhoffs, des Stammvaters der Familie zu Berlin, geboren.
Die Sache war die, dass Karl nur Mädchen geboren waren, drei legitime und
eins außer der Ordnung, die gleichwohl als eine echte Stadelhoff galt. So
kam es, dass auf Helmut Hermann in den Händen seiner Mutter alle
Hoffnungen ruhten, obschon er den Namen Schulz der Familie seines
Erzeugers bekam, des Kohlekommissars, Fernmeldetechnikers und des
Siemens-Agenten und Nationalsozialisten, zuletzt als Senats-Beamter in den
Ruhestand versetzt und seiner Ehefrau Gertrud Klara Elisabeth, geborene
Stadelhoff, im Nordosten der übervölkerten Stadt Berlin geboren; das
wenigstens steht urkundlich fest. Hätte er schon eine Erinnerung an seine
Existenz und an das Umfeld gehabt, in das hinein er vermutlich gegen seine
Wünsche gestellt worden war, so könnte er jetzt die Straße, sein
Geburtshaus beschreiben und die Hausnummer angeben, Fasssade und
Fensterfront des Hauses als seinerzeit modern rühmen, in welchem sein
erster Schrei, der des Protestes, gehört wurde, aber ungehört verhallte.
Es war die Kastanienallee im Nordosten der Stadt Berlin und sein
Geburtshaus trug die Nummer drei, den Erzählungen nach, oder Haus Nummer
dreizehn, urkundlich, laut einem erhaltenen Mietvertrag jener Tage. Helmut
Hermann war als ein Kind des freien Willens im Vertrauen auf die Zukunft
gezeugt und mit sanfter Gewalt in das Licht der Welt gezerrt, in einem
Haus wie es zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden in Berlin um die Wende
vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert für die Ewigkeit eines zuvor
noch herzustellenden Sozialfriedens zwischen Vorder- und Hinterhaus, wie
es für die in Massen Zugezogenen erbaut worden ist. Mag die Idee der
Aussöhnung zwischen oben und unten, zwischen arm und reich von
Menschenfreunden ausgedacht, auch gut gemeint gewesen sein; es war
schlecht gemacht. Spekulanten hatten alles verdorben und in die überstürzt
errichteten billigen Wohnungen an Migranten aus Pommern und Schlesien
hineingestopft, was nur hineinging, den Erfordernissen des freien Marktes
gehorchend, nicht dem religiösen Gebot der Nächstenliebe oder der
humanistischen Philosophie, welche die Gleichheit aller Menschen früh
entdeckt und immer wieder verkündet haben, obgleich diese Gleichheit
nirgendwo zu beobachten und nicht einmal wünschenswert ist. Die erste
amtliche Handlung auf dieser Welt konnte HH nicht selbst vollziehen; sein
Vater Hermann Rudolf zeigte der Welt die Geburt eines Sohnes innerhalb der
vorgeschriebenen Frist, nämlich im Zeitraum von drei Tagen, auf dem
Katasteramt an und ließ den Namen des Kindes mit Helmut Hermann Karl in
einer Urkunde niederlegen. Daher wissen wir überhaupt authentisch, dass es
ihn gibt: Ab jetzt war HH eine Person; sein Name ist ihm beinahe neunzig
Jahre lang geblieben. Das war zunächst alles. War es das?
Vorausgestellt sind zwei Berichtigungen aus späterer Zeit anzubringen; die
Kastanienallee ist in die Hände von Hausbesetzern und Migranten gefallen,
auch einigen Grafitykünstlern, die an den Fassaden ihre farbigen Albträume
hinterlassen haben und Helmut H. wurde durch behördlichen Zugriff seines
urkundlichen Namen beraubt: Ein freiheitlicher Beamter entdeckte den
Mißgriff eines seiner Vorgänger. Der Antragsteller um den Erwerb eines
Reisepasses erfuhr, dass seine Vornamen vor siebzig Jahren vertauscht
worden waren, und dass er es nur einem Zufall verdankt, der Anklage wegen
Urkundenfälschung entgangen zu sein… Zur Warnung des Lesers, einem
Abstraktum, sollte es ihn überhaupt geben, sei vorausgeschickt, dass
nichts unsicherer ist als das für unfehlbar gehaltene menschliche
Gedächtnis, schlechterdings der menschliche Verstand. Der Kopf, das Gehirn
entwirft ein und dieselbe Sache immer wieder neu und reproduziert die
Begebenheit jeweils um ein geringes anders, je nach Stimmung und Umwelt
und dem physischen Befinden angepaßt und nennt den Vorgang: »Erinnerung«.
Jede Lebenserzählung, wenn sie denn überhaupt notwendig ist und berichtet
werden will, ist daher ein Problem des Umganges mit den äußeren
Wahrheiten, um das Wie es wirklich gewesen ist. Halten wir uns neben
den Dokumenten also an das Sichtbare, hier fürs erste an die
Kastanienallee, in der das Geburtshaus des HH, Nummer drei oder nach
Mietvertrag Nummer dreizehn stand und übrigens noch steht,
heruntergekommen und geschunden, durch die Zeiten gealtert, eine größere
Altbauwohnung im ersten Stockwerk zur Straße hin mit einer Kastanie vor
dem Erker, an die Familie, an seinen Vater Hermann Rudolf Schulz und an
seine Mutter Gertrud Schulz, geborene Stadelhoff, ihren Sippennamen.
Gertrud bedeutet in der germanischen Ursprache so viel wie die Speerstarke
und so hat sie der Sohn bis zum Ende ihrer Tage erlebt, streitbar oder
streitsüchtig, hart und unnachgiebig, aber zuverlässig treu, wenn es um
die Ihren ging, das heißt nicht immer leicht auszuhalten. Diese einst
mit Kastanien bepflanzte Allee gibt es also hundert Jahre später immer
noch, zum Zeichen, dass Dinge dauerhafter sein können als Menschen, aber
es ist nicht mehr die selbe Kastanienallee der in Frage stehenden Zeit von
1931 und schon gar nicht der Menschen. Nicht einmal die Kastanien, die
dort jemand für die Dauer gepflanzt haben mag, dürften heute noch stehen;
sie wurden abgeholzt und die noch vorhandenen oder neu gepflanzten fristen
ein kümmerliches Dasein im Schatten der mit Farbe beschmierten Wände.
Irgendwie aber scheint dem Erzähler die ihm vertraute Kastanie als Baum
weit eher der Berliner Mentalität zu entsprechen als Eichen oder Buchen,
des Eckenstehers Nante aus dem Glasbrennerbuch, wo es im Bezug auf die
Revolution heißt, inwendig tu ick die Fäuste ballen. Kastanien wachsen
schnell zu voller Größe, um auch schneller zu vergehen. Sie werden also
trotz ihrer imposanten Erscheinung und den großen mehrfingerigen Blättern
und der Fülle braunroter Früchte nicht sehr alt und ihr Holz wird auch
weniger geschätzt als das der Eiche oder Buche. Die Spanier fertigen
daraus ein Schlaginstrument, sogenannte Castagnetten, die
aneinandergeschlagen einen hellen Klang geben. Helmut Hermann hat den
Kastanien seine Gunst bewahrt; im Herbst, wenn diese Bäume ihre stachligen
Früchte abwerfen, hebt er eine Kastanie oder mehrere davon in dem Glauben
auf, dass sie ihm ein weiteres Jahr Gesundheit sichern werden, wenn er
Glück hat. Das Bild dieser Berliner Gegend im Nordosten der Stadt hat
sich ihm scharf eingeprägt. Aus dem Tunnelschacht der U-Bahn, der Linie 1
von Pankow nach Ruhleben, oder der Linie 2 nach Krumme Lanke erhebt sich
nach wie vor das Gleisbett auf seinen massiven Stützen aus Beton und
Stahl. Der Zug kommt als Hochbahn in einem Hochbahnhof Eberswalderstraße
zu kurzer Ruhe, ehe er sich weiter fortbewegt in Richtung
Pankow-Vinetastraße, den Bahnhof Schönhauser Allee passierend, um kurz
hinter der Wisbyerstraße wieder in seinen Tunnel einzutauchen. Vineta ist
das Synonym für eine längst versunkene Stadt an einem fraglichen Ort in
der Oderbucht, vielleicht auf eine der beiden Inseln, Usedom oder Wollin
angesiedelt. Drei große Verkehrsadern bildeten mit der Kastanienallee
damals und sie tun es immer noch, ein schiefwinkliges Dreieck mit der
Eberswalderstraße und Danzigerstraße, kurzfristig umbenannt in
Dimitrowstraße, endlich wieder Danzigerstraße, bis auf weiteres, und der
Schönhauser Allee, der Ausfallstraße nach Norden, parallel zur U-Bahn oder
eben Hochbahn. Berlin dürfte unter den Städten der Welt das Privileg
besitzen, seine Straßen und Plätze flugs der jeweiligen politischen
Konjunktur anzupassen und seine alten Straßen periodisch umzubenennen, ein
Zeichen der Ungewißheit seiner politischen Lenker, was ihre Zukunft
betrifft, mit der Hoffnung verbunden, etwas Dauerhaftes eingeleitet und
eine Spur im Gezeitensand hinterlassen zu haben; niemand will bei der
Neubewertung der Welt und ihrem Ausverkauf zu spät kommen. Der
Mittelpunkt dieses Dreiecks wie beschrieben, ist das eigentliche Zentrum
des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg, als Prenzelberg verhunzt und inzwischen
weltweit sowohl bekannt wie verrufen, als Hort absoluter
demokratisch-individueller Freiheiten. In dieser Gegend gilt immerhin
schon als revolutionär, wer öffentlich gegen alle Verhaltensregeln
verstößt, etwa die Zeitung neben den dafür bestimmten Papierkorb
abzulegen, anstatt sie hineinzuwerfen. Stadteinwärts in Richtung zum
Alexanderplatz hin steigt die Schönhauser Allee zuerst leicht an, nämlich
zum wirklichen Prenzlauer Berg, um dann wieder abzufallen, an der Terrasse
des Pfefferberg vorbei, in dem vielleicht wirklich einmal Gewürze gelagert
wurden und somit auch Pfeffer. Jedenfalls stand bis gestern noch auf der
anderen Seite der Straße das Denkmal des Erfinders Senefelder, dem Platz
seinen Namen gebend, Senefelderplatz. Ob das Denkmal noch da steht, wäre
zu überprüfen. Damals erhob sich auf der anderen Seite des Platzes ein
mächtiger Brauereikomplex bis zur Christinenstraße führend und in die
ursprüngliche Schönhauser, der sogenannten Alten Schönhauser Allee
aufgehend, ein Stück Straße aus der Altberliner Geschichte, und vom
Alexanderplatz in den Norden nach Prenzlau in der Uckermark, im Westen
nach Schönhausen weisend. Als besagter Helmut Hermann noch als Fötus
im Fruchtwasser der Gebärmutter schwamm, standen in den Boxen der Brauerei
auf ihren säulenartigen Beinen mächtige Rösser, die, vor Rollwagen
gespannt, Fässer mit Bier an die Kneipen der Stadt verteilten; als
Rollwagen wegen ihres rumpelnden Geräusches auf dem Kopfsteinpflaster
bezeichnet. Mit Mengen an Treber, eingeweichtem Getreide, Gerste zumeist
aus der Bierherstellung, gefüttert, bewegten diese Pferde enorme Lasten,
und genau das taten ihre Nachkommen noch bis in die fünfziger Jahren
hinein. Ältere Mitbürger des HH erinnern sich der pferdebespannten Wagen
der Müllabfuhr. Nach damaliger Sitte wurde Helmut Hermann von einer
staatlich geprüften Hebamme zu Hause und mit Hilfe einiger, in der
Geburtshilfe erfahrener weiblicher Hausgenossinnen an einem Sonntag kurz
vor Mitternacht entbunden. Der Überlieferung nach war es um zehn Minuten
gegangen, als der Sonntag schon in den Montag überzugehen drohte. Leicht
hätte Helmut H. wegen dieser Bummelei auf seinem Weg nach draußen das Ziel
verfehlen können ein Sonntagskind zu werden. In späterer Zeit sagten sie,
dass ihm daraus eine größere Aufmerksamkeit durch andere zustehe; seines
Wissens und seiner Erfahrung nach war damit aber nichts gewonnen. Kein
Mensch hat jemals seinem Rang nachgefragt und ihm besondere Rechte
eingeräumt, weil er zehn Minuten vor Mitternacht am 26sten April 1931, des
wetterwendischen Monats im Nordosten Berlins geboren wurde. Es hätte in
der Tat schlimmer kommen können, noch schlimmer als es schließlich
gekommen ist. Jedenfalls hat er keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen
können, nicht an einem Wochentag wie gewöhnliche Zeitgenossen geboren zu
sein, sondern an einem Sonntag, um zehn Minuten vor zwölf...
Inhaltsverzeichnis
ERSTES BUCH: KINDHEIT UND JUGEND. 7 1.
Kapitel: Dieses Buch ist ein Roman ist ein Roman ist ein Roman 11 2.
Kapitel: Wirtschaftskrise und die politischen Folgen 31 3. Kapitel:
Berichtigungen der Biographien der Eltern des Helmut H., wie sie in
Dokumenten beschrieben sind 41 4. Kapitel: Der alte Makler Schulz setzt
seinen Sohn vor die Tür und der junge Helmut H. kommt zu seinen Großeltern
Stadelhoff aufs Land 55 5. Kapitel: Ländliches Leben unterm Strohdach
eines pommerschen Anwesens 61 6. Kapitel: Heimkehr Stadelhoffs und die
Erziehung einer jungen Landfrau zu einem politisch denkenden menschen.
Allgemeine Betrachtungen über den Wert von fotografischen Wiedergaben 83 7. Kapitel: Aufstieg des zünftigen Handwerkers
Stadelhoff zum freien Unternehmer 93 8. Kapitel: Vertreibung
Stadelhoffs und des jungen HH aus der Heimat 113 9. Kapitel: Der junge
HH macht erste Erfahrungen mit der Großstadt. Großvater Stadelhoff bekommt
Arbeit bei den Gaswerken und findet eine Wohnung in der Stadt 129 10.
Kapitel: Einrichtung in ein sorgenloses Leben. Der Tod des alten Maklers
Schulz und die Folgen 145 11. Kapitel: Die Freunde des jungen Helmut H.
175 12. Kapitel: Segen und Fluch der Hinterlassenschaft des alten
Maklers Schulz 187 13. Kapitel: Vom Opel zum Volkswagen. Anmeldung in
ein Real-Gymnasium 193 14. Kapitel: Zoppot. Der letzte Sommer ohne
Krieg 203 15. Kapitel: Rückkehr nach Berlin 215 16. Kapitel: Vom
Eigenleben der Dinge 221 17. Kapitel: Vom Weg ins Leben und von den
Irrwegen ins Leben, des gesellschaftlichen Seins und einem großen
Entschluss 243 18. Kapitel: Die Kinderlandverschickung 261 19.
Kapitel: Die Oder und die Besonderheiten eines Kindertransports 295 20.
Kapitel: Mamelukkenstaat und ein geschützter Raum im Kriege 303 21.
Kapitel: Leben für Leben und Entfremdung vom Schulalltag 325 22.
Kapitel: Landsknechtleben in der KLV dreihundert Jahre nach dem Frieden
von Münster 333 23. Kapitel: Vom Fortgang der Dinge 349 24. Kapitel:
Meiner Großmutter Klaras einsames Sterben 369 25. Kapitel: Entfremdung
von der KLV. Neue Leute, die den Ton angeben 381 26. Kapitel: Die Garde
stirbt – sie ergibt sich nicht 399 27. Kapitel: Sonderschule und
Minnehof der jungen Frauen. Frühe Erfahrungen und Gefahren 415 28.
Kapitel: Der Verrat. Den Führer hat die Vorsehung unter ihren Schutz
genommen 445 29. Kapitel: Untergang der Stadt Oranienburg 469 30.
Kapitel: Letzte Begegnung mit meinem Vater 485 31. Kapitel: Vom Ende
der Dinge 493 32. Kapitel: Der Endkampf um Berlin 507 33. Kapitel:
Hilfsarbeiter bei einem Wohnausstatter 535 34. Kapitel: Interregnum.
Erste Schritte in eine andere Welt und das Scheitern meiner Umerziehung
549 35. Kapitel: Laut Befehl der sowjetischen Militärbehörde wieder
Pennäler in meinem alten Realgymnasium 561 36. Kapitel: Der Prozess
meiner Mutter 577 37. Kapitel: Leben in einer sterbenden Stadt. Der
mörderische Winter von 1945 zu 1946 601 38. Kapitel: Der Tod des alten
Major Winter 615
Über den Autor 649
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