Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages                   Stand: 14.02.2022


Schulz, Helmut H.



Stadelhoffs Erben. Ein deutsches Dilemma.

 

Band I

 

 

2022, Familiensaga, 652 S., ISBN 978-3-86465-171-7, 26,80 EUR

 

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Er, Helmut Hermann, wurde am 26. April 1931 als Sohn seiner Mutter Gertrud und seines Vaters Hermann Rudolf, mehr noch als Enkel Karl Stadelhoffs, des Stammvaters der Familie zu Berlin, geboren. Die Sache war die, dass Karl nur Mädchen geboren waren, drei legitime und eins außer der Ordnung, die gleichwohl als eine echte Stadelhoff galt. So kam es, dass auf Helmut Hermann in den Händen seiner Mutter alle Hoffnungen ruhten, obschon er den Namen Schulz der Familie seines Erzeugers bekam, des Kohlekommissars, Fernmeldetechnikers und des Siemens-Agenten und Nationalsozialisten, zuletzt als Senats-Beamter in den Ruhestand versetzt und seiner Ehefrau Gertrud Klara Elisabeth, geborene Stadelhoff, im Nordosten der übervölkerten Stadt Berlin geboren; das wenigstens steht urkundlich fest. Hätte er schon eine Erinnerung an seine Existenz und an das Umfeld gehabt, in das hinein er vermutlich gegen seine Wünsche gestellt worden war, so könnte er jetzt die Straße, sein Geburtshaus beschreiben und die Hausnummer angeben, Fasssade und Fensterfront des Hauses als seinerzeit modern rühmen, in welchem sein erster Schrei, der des Protestes, gehört wurde, aber ungehört verhallte. Es war die Kastanienallee im Nordosten der Stadt Berlin und sein Geburtshaus trug die Nummer drei, den Erzählungen nach, oder Haus Nummer dreizehn, urkundlich, laut einem erhaltenen Mietvertrag jener Tage. Helmut Hermann war als ein Kind des freien Willens im Vertrauen auf die Zukunft gezeugt und mit sanfter Gewalt in das Licht der Welt gezerrt, in einem Haus wie es zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden in Berlin um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert für die Ewigkeit eines zuvor noch herzustellenden Sozialfriedens zwischen Vorder- und Hinterhaus, wie es für die in Massen Zugezogenen erbaut worden ist.
Mag die Idee der Aussöhnung zwischen oben und unten, zwischen arm und reich von Menschenfreunden ausgedacht, auch gut gemeint gewesen sein; es war schlecht gemacht. Spekulanten hatten alles verdorben und in die überstürzt errichteten billigen Wohnungen an Migranten aus Pommern und Schlesien hineingestopft, was nur hineinging, den Erfordernissen des freien Marktes gehorchend, nicht dem religiösen Gebot der Nächstenliebe oder der humanistischen Philosophie, welche die Gleichheit aller Menschen früh entdeckt und immer wieder verkündet haben, obgleich diese Gleichheit nirgendwo zu beobachten und nicht einmal wünschenswert ist.
Die erste amtliche Handlung auf dieser Welt konnte HH nicht selbst vollziehen; sein Vater Hermann Rudolf zeigte der Welt die Geburt eines Sohnes innerhalb der vorgeschriebenen Frist, nämlich im Zeitraum von drei Tagen, auf dem Katasteramt an und ließ den Namen des Kindes mit Helmut Hermann Karl in einer Urkunde niederlegen. Daher wissen wir überhaupt authentisch, dass es ihn gibt: Ab jetzt war HH eine Person; sein Name ist ihm beinahe neunzig Jahre lang geblieben. Das war zunächst alles. War es das?
Vorausgestellt sind zwei Berichtigungen aus späterer Zeit anzubringen; die Kastanienallee ist in die Hände von Hausbesetzern und Migranten gefallen, auch einigen Grafitykünstlern, die an den Fassaden ihre farbigen Albträume hinterlassen haben und Helmut H. wurde durch behördlichen Zugriff seines urkundlichen Namen beraubt: Ein freiheitlicher Beamter entdeckte den Mißgriff eines seiner Vorgänger. Der Antragsteller um den Erwerb eines Reisepasses erfuhr, dass seine Vornamen vor siebzig Jahren vertauscht worden waren, und dass er es nur einem Zufall verdankt, der Anklage wegen Urkundenfälschung entgangen zu sein…
Zur Warnung des Lesers, einem Abstraktum, sollte es ihn überhaupt geben, sei vorausgeschickt, dass nichts unsicherer ist als das für unfehlbar gehaltene menschliche Gedächtnis, schlechterdings der menschliche Verstand. Der Kopf, das Gehirn entwirft ein und dieselbe Sache immer wieder neu und reproduziert die Begebenheit jeweils um ein geringes anders, je nach Stimmung und Umwelt und dem physischen Befinden angepaßt und nennt den Vorgang: »Erinnerung«. Jede Lebenserzählung, wenn sie denn überhaupt notwendig ist und berichtet werden will, ist daher ein Problem des Umganges mit den äußeren Wahrheiten, um das Wie es wirklich gewesen ist.
Halten wir uns neben den Dokumenten also an das Sichtbare, hier fürs erste an die Kastanienallee, in der das Geburtshaus des HH, Nummer drei oder nach Mietvertrag Nummer dreizehn stand und übrigens noch steht, heruntergekommen und geschunden, durch die Zeiten gealtert, eine größere Altbauwohnung im ersten Stockwerk zur Straße hin mit einer Kastanie vor dem Erker, an die Familie, an seinen Vater Hermann Rudolf Schulz und an seine Mutter Gertrud Schulz, geborene Stadelhoff, ihren Sippennamen. Gertrud bedeutet in der germanischen Ursprache so viel wie die Speerstarke und so hat sie der Sohn bis zum Ende ihrer Tage erlebt, streitbar oder streitsüchtig, hart und unnachgiebig, aber zuverlässig treu, wenn es um die Ihren ging, das heißt nicht immer leicht auszuhalten.
Diese einst mit Kastanien bepflanzte Allee gibt es also hundert Jahre später immer noch, zum Zeichen, dass Dinge dauerhafter sein können als Menschen, aber es ist nicht mehr die selbe Kastanienallee der in Frage stehenden Zeit von 1931 und schon gar nicht der Menschen. Nicht einmal die Kastanien, die dort jemand für die Dauer gepflanzt haben mag, dürften heute noch stehen; sie wurden abgeholzt und die noch vorhandenen oder neu gepflanzten fristen ein kümmerliches Dasein im Schatten der mit Farbe beschmierten Wände. Irgendwie aber scheint dem Erzähler die ihm vertraute Kastanie als Baum weit eher der Berliner Mentalität zu entsprechen als Eichen oder Buchen, des Eckenstehers Nante aus dem Glasbrennerbuch, wo es im Bezug auf die Revolution heißt, inwendig tu ick die Fäuste ballen.
Kastanien wachsen schnell zu voller Größe, um auch schneller zu vergehen. Sie werden also trotz ihrer imposanten Erscheinung und den großen mehrfingerigen Blättern und der Fülle braunroter Früchte nicht sehr alt und ihr Holz wird auch weniger geschätzt als das der Eiche oder Buche. Die Spanier fertigen daraus ein Schlaginstrument, sogenannte Castagnetten, die aneinandergeschlagen einen hellen Klang geben. Helmut Hermann hat den Kastanien seine Gunst bewahrt; im Herbst, wenn diese Bäume ihre stachligen Früchte abwerfen, hebt er eine Kastanie oder mehrere davon in dem Glauben auf, dass sie ihm ein weiteres Jahr Gesundheit sichern werden, wenn er Glück hat.
Das Bild dieser Berliner Gegend im Nordosten der Stadt hat sich ihm scharf eingeprägt. Aus dem Tunnelschacht der U-Bahn, der Linie 1 von Pankow nach Ruhleben, oder der Linie 2 nach Krumme Lanke erhebt sich nach wie vor das Gleisbett auf seinen massiven Stützen aus Beton und Stahl. Der Zug kommt als Hochbahn in einem Hochbahnhof Eberswalderstraße zu kurzer Ruhe, ehe er sich weiter fortbewegt in Richtung Pankow-Vinetastraße, den Bahnhof Schönhauser Allee passierend, um kurz hinter der Wisbyerstraße wieder in seinen Tunnel einzutauchen. Vineta ist das Synonym für eine längst versunkene Stadt an einem fraglichen Ort in der Oderbucht, vielleicht auf eine der beiden Inseln, Usedom oder Wollin angesiedelt. Drei große Verkehrsadern bildeten mit der Kastanienallee damals und sie tun es immer noch, ein schiefwinkliges Dreieck mit der Eberswalderstraße und Danzigerstraße, kurzfristig umbenannt in Dimitrowstraße, endlich wieder Danzigerstraße, bis auf weiteres, und der Schönhauser Allee, der Ausfallstraße nach Norden, parallel zur U-Bahn oder eben Hochbahn.
Berlin dürfte unter den Städten der Welt das Privileg besitzen, seine Straßen und Plätze flugs der jeweiligen politischen Konjunktur anzupassen und seine alten Straßen periodisch umzubenennen, ein Zeichen der Ungewißheit seiner politischen Lenker, was ihre Zukunft betrifft, mit der Hoffnung verbunden, etwas Dauerhaftes eingeleitet und eine Spur im Gezeitensand hinterlassen zu haben; niemand will bei der Neubewertung der Welt und ihrem Ausverkauf zu spät kommen.
Der Mittelpunkt dieses Dreiecks wie beschrieben, ist das eigentliche Zentrum des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg, als Prenzelberg verhunzt und inzwischen weltweit sowohl bekannt wie verrufen, als Hort absoluter demokratisch-individueller Freiheiten. In dieser Gegend gilt immerhin schon als revolutionär, wer öffentlich gegen alle Verhaltensregeln verstößt, etwa die Zeitung neben den dafür bestimmten Papierkorb abzulegen, anstatt sie hineinzuwerfen. Stadteinwärts in Richtung zum Alexanderplatz hin steigt die Schönhauser Allee zuerst leicht an, nämlich zum wirklichen Prenzlauer Berg, um dann wieder abzufallen, an der Terrasse des Pfefferberg vorbei, in dem vielleicht wirklich einmal Gewürze gelagert wurden und somit auch Pfeffer. Jedenfalls stand bis gestern noch auf der anderen Seite der Straße das Denkmal des Erfinders Senefelder, dem Platz seinen Namen gebend, Senefelderplatz. Ob das Denkmal noch da steht, wäre zu überprüfen. Damals erhob sich auf der anderen Seite des Platzes ein mächtiger Brauereikomplex bis zur Christinenstraße führend und in die ursprüngliche Schönhauser, der sogenannten Alten Schönhauser Allee aufgehend, ein Stück Straße aus der Altberliner Geschichte, und vom Alexanderplatz in den Norden nach Prenzlau in der Uckermark, im Westen nach Schönhausen weisend.
Als besagter Helmut Hermann noch als Fötus im Fruchtwasser der Gebärmutter schwamm, standen in den Boxen der Brauerei auf ihren säulenartigen Beinen mächtige Rösser, die, vor Rollwagen gespannt, Fässer mit Bier an die Kneipen der Stadt verteilten; als Rollwagen wegen ihres rumpelnden Geräusches auf dem Kopfsteinpflaster bezeichnet. Mit Mengen an Treber, eingeweichtem Getreide, Gerste zumeist aus der Bierherstellung, gefüttert, bewegten diese Pferde enorme Lasten, und genau das taten ihre Nachkommen noch bis in die fünfziger Jahren hinein. Ältere Mitbürger des HH erinnern sich der pferdebespannten Wagen der Müllabfuhr.
Nach damaliger Sitte wurde Helmut Hermann von einer staatlich geprüften Hebamme zu Hause und mit Hilfe einiger, in der Geburtshilfe erfahrener weiblicher Hausgenossinnen an einem Sonntag kurz vor Mitternacht entbunden. Der Überlieferung nach war es um zehn Minuten gegangen, als der Sonntag schon in den Montag überzugehen drohte. Leicht hätte Helmut H. wegen dieser Bummelei auf seinem Weg nach draußen das Ziel verfehlen können ein Sonntagskind zu werden. In späterer Zeit sagten sie, dass ihm daraus eine größere Aufmerksamkeit durch andere zustehe; seines Wissens und seiner Erfahrung nach war damit aber nichts gewonnen. Kein Mensch hat jemals seinem Rang nachgefragt und ihm besondere Rechte eingeräumt, weil er zehn Minuten vor Mitternacht am 26sten April 1931, des wetterwendischen Monats im Nordosten Berlins geboren wurde. Es hätte in der Tat schlimmer kommen können, noch schlimmer als es schließlich gekommen ist. Jedenfalls hat er keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen können, nicht an einem Wochentag wie gewöhnliche Zeitgenossen geboren zu sein, sondern an einem Sonntag, um zehn Minuten vor zwölf...

 

Inhaltsverzeichnis


ERSTES BUCH: KINDHEIT UND JUGEND. 7
1. Kapitel: Dieses Buch ist ein Roman ist ein Roman ist ein Roman 11
2. Kapitel: Wirtschaftskrise und die politischen Folgen 31
3. Kapitel: Berichtigungen der Biographien der Eltern des Helmut H., wie sie in Dokumenten beschrieben sind 41
4. Kapitel: Der alte Makler Schulz setzt seinen Sohn vor die Tür und der junge Helmut H. kommt zu seinen Großeltern Stadelhoff aufs Land 55
5. Kapitel: Ländliches Leben unterm Strohdach eines pommerschen Anwesens 61
6. Kapitel: Heimkehr Stadelhoffs und die Erziehung einer jungen Landfrau zu einem politisch denkenden menschen. Allgemeine Betrachtungen über den Wert von fotografischen
                Wiedergaben 83
7. Kapitel: Aufstieg des zünftigen Handwerkers Stadelhoff zum freien Unternehmer 93
8. Kapitel: Vertreibung Stadelhoffs und des jungen HH aus der Heimat 113
9. Kapitel: Der junge HH macht erste Erfahrungen mit der Großstadt. Großvater Stadelhoff bekommt Arbeit bei den Gaswerken und findet eine Wohnung in der Stadt 129
10. Kapitel: Einrichtung in ein sorgenloses Leben. Der Tod des alten Maklers Schulz und die Folgen 145
11. Kapitel: Die Freunde des jungen Helmut H. 175
12. Kapitel: Segen und Fluch der Hinterlassenschaft des alten Maklers Schulz 187
13. Kapitel: Vom Opel zum Volkswagen. Anmeldung in ein Real-Gymnasium 193
14. Kapitel: Zoppot. Der letzte Sommer ohne Krieg 203
15. Kapitel: Rückkehr nach Berlin 215
16. Kapitel: Vom Eigenleben der Dinge 221
17. Kapitel: Vom Weg ins Leben und von den Irrwegen ins Leben, des gesellschaftlichen Seins und einem großen Entschluss 243
18. Kapitel: Die Kinderlandverschickung 261
19. Kapitel: Die Oder und die Besonderheiten eines Kindertransports 295
20. Kapitel: Mamelukkenstaat und ein geschützter Raum im Kriege 303
21. Kapitel: Leben für Leben und Entfremdung vom Schulalltag 325
22. Kapitel: Landsknechtleben in der KLV dreihundert Jahre nach dem Frieden von Münster 333
23. Kapitel: Vom Fortgang der Dinge 349
24. Kapitel: Meiner Großmutter Klaras einsames Sterben 369
25. Kapitel: Entfremdung von der KLV. Neue Leute, die den Ton angeben 381
26. Kapitel: Die Garde stirbt – sie ergibt sich nicht 399
27. Kapitel: Sonderschule und Minnehof der jungen Frauen. Frühe Erfahrungen und Gefahren 415
28. Kapitel: Der Verrat. Den Führer hat die Vorsehung unter ihren Schutz genommen 445
29. Kapitel: Untergang der Stadt Oranienburg 469
30. Kapitel: Letzte Begegnung mit meinem Vater 485
31. Kapitel: Vom Ende der Dinge 493
32. Kapitel: Der Endkampf um Berlin 507
33. Kapitel: Hilfsarbeiter bei einem Wohnausstatter 535
34. Kapitel: Interregnum. Erste Schritte in eine andere Welt und das Scheitern meiner Umerziehung 549
35. Kapitel: Laut Befehl der sowjetischen Militärbehörde wieder Pennäler in meinem alten Realgymnasium 561
36. Kapitel: Der Prozess meiner Mutter 577
37. Kapitel: Leben in einer sterbenden Stadt. Der mörderische Winter von 1945 zu 1946 601
38. Kapitel: Der Tod des alten Major Winter 615


Über den Autor 649



 

 

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