Zum Buch
Ein Land weiß ich, wo alte und neue Welt sich
voneinander trennen. Felsen ragen auf, besteinte Hänge, schwarz gegen den
blassen Himmel. Doch es wächst – wächst aus allen Ritzen. In den
Gesteinssimsen breitet Grünzeug sich aus, Moose, grau und gelb, nach dem
Regen vollgesogen grün. Das Grau des Sees verschmilzt mit dem Himmel,
getrennt nur von der Kontur der schwarzen Berge am Horizont. Weißer Rauch
steigt aus den Fumarolen – die Gase der Hochtemperaturgebiete. Von hier
bis zu den Azoren umspannt der Mittelatlantische Rücken den Globus. Der
Riss, durch den Geschmolzenes rinnt, zieht sich durch den Atlantik, unten
am Meeresgrund entlang, nur an wenigen Stellen oberirdisch und sichtbar –
eine Zone der Seebeben und Vulkane. Nirgendwo war ich meinen Toten
näher als hier, wo Kontinente sich entzweien und die Scheidelinie doch
begehbar bleibt. Nirgendwo näher mir selber, die ich zwei Welten
gleichermaßen angehöre. Die Erdschicht über dem Spalt hält den Fuß aus,
der darauftritt. Ein schmaler Wasserlauf durchspült die Ebene, heiter
glänzt er im nördlichen Licht. Hinüber und herüber kann ich wechseln, von
der eurasischen zur amerikanischen Kontinentalscholle und zurück. Hier ist
mir wohl, wo zweierlei einander berührt, auseinanderdriftet zwei
Zentimeter pro Jahr und doch verbunden bleibt: Island birst nicht entzwei.
Abwärts führt der Weg und wieder hinauf. Dünn ist die Kruste in
Thingvellir, der uralten Thingstätte. In der Ebene zwischen Gebirgen
fanden sich die Goden zusammen, um Rat zu halten zur Mittsommerzeit.
Steintreppen schlugen sie hinab durch den Fels. Zu Fuß und zu Pferde
reisten sie an und berieten die Geschicke des Volkes. Recht wurde
gesprochen und an Ort und Stelle vollstreckt; doch grausam, heißt es, war
man nicht. Verbannung ins Ödland, abseits menschlicher Behausungen – das
war die ärgste Strafe, und wer sie überlebte, durfte zurückkehren in die
Gemeinschaft. Die Grausamkeiten kamen erst später, erst mit dem
Christentum. Dem Gewittergott Thor war die Stätte geweiht. Eine
Bronzestatuette zeigt ihn, thronend, seine Hände umklammern den Bart.
Zerreißen sie ihn, oder presst er die Hälften zusammen? Der Bart, in ein
dreiblättriges Symbol auslaufend, erinnert entfernt an das Lebenszeichen
der alten Ägypter. So leben, das Unvereinbare nebeneinander bestehen
lassen, es nicht verschmelzen wollen, denn das gäbe ein hochexplosives
Gemisch. Die Anteile, seine und ihre, widerspruchsvoll und einander
nichtend, in mir weitertragen, wo sie wie auf einer Schaukel einander
zugewandt bleiben im Auf und Ab und Auf. Da oben über der Stätte, das
mögen sie sein. Es sind zwei. Sie schweben im Zwischenreich. Kolkraben.
Boten. Odins Vögel. Hugin und Munin – sie umkreisen einander. Zwischen
ihnen, verbindend und trennend zugleich, pozellanweiß ein gefiedertes
Drittes – sie. „Mörderisch geht er um mit mir. Sein Schnabel sucht mein
Herz. Krallen bohrt er in mich und frisst meine Leber. Den Ring will er
mir stehlen, denn er liebt alles, was glänzt.“ Mag sein, dass sie es
sind, schwarze Schatten im Norden, die mit vibrierenden Flügelspitzen in
der Luft über dem Wanderer stehen und ihn krächzend verraten, noch bevor
er sich nähert. Eri war’s, die durchscheinend weißhäutige, die
überlebte in meiner Geschichte, nicht Hugin und Munin nicht. Diesmal
sollte nicht sie das Opfer sein, zerfetzt von den kämpfenden Rivalen wie
das rote Tuch zwischen Torero und Stier, einer gegen den andern, getrieben
von Missgunst, Eifersucht, Neid. In meiner Geschichte waren es die Männer,
die auf der Strecke blieben und uns alleinließen – Eri und mich.
Inhaltsverzeichnis
Thingvellir 5 Ulmenblatt 7
Erstes
Kapitel: Der Weg nach Biały Zdrój 9 Ostwärts 9 Balster 12 Heimat?
15 Kalisz Pomorski 17 Swinoujście 21 Bansin 21 Und wieder
Pomorze 23 Pusteblumen 25 Ida 29 Eri 31 Schwimmen 33 Edward
35 Grenzen 36
Zweites Kapitel: Augenstern 39 Erinnern 39
In Erwartung Coras 40 En famille 44 Schillers Locken 46 Hugins
Elefanten 47 Coras Elefanten 48 Wärme 50 Das Blaue vom Himmel
herab 52 Aufwachen 54 Strümpfe 55 Fieber 60 Füßleins 63
Vaters Geschichten 64 Vaters Gärten 67 Vaters Mütze 68 Schneeball
69 Kaffee 70 Wachablösung 73 Hugin unterwegs 74 Kollision 77
Er geht 81 Hugins Glück 82 Schweigsamkeit 84 Der Knicks 85 Im
Laden 88 Ragnarök 89
Drittes Kapitel: Der Mohr 93 Die Hekla
93 Steine 94 Nachlass 95 Hochhackig und mit weißen Handschuhen
100 Vorstoß – daneben 102 Montag, acht Uhr zehn 103 Unter Fischen
104 Miteinander ohne ihn 106 Gesagtes, Ungesagtes 109 Saschas
Welt 111 Rieselfelder 111 Annäherung 112 Abende 114 Das
Kapital – eins 117 Das Kapital – zwei 118 Das Kapital – drei 119
Spießig – wie Proleten eben sind 119 Wissen ist Macht 120 Was sie
trennt 121 Fazit eines Lebens 124 Bloß mal rübergehen 129 Die
Verwunderung 130 In Nächten 131
Viertes Kapitel: Windszeit,
Wolfszeit 133 Linien im Sand 133 Im Treppenhaus 135 Milch holen
137 Pg. Vangerow 138 Im Grünkramladen 141 Auf der Bank im dritten
Hinterhof 144 Radeln 147 Frachtgut 149 Strietzler 150 Eine
Kindheit 154 Gundel 156 Ausgehen 158 Grübeln 162 Lilo 165
Kleingärten 167 Standorte und Haltungen 168 An der Spree entlang 173
Ein Moment des Beisichseins 176 Wie es weiterging 177
Fünftes
Kapitel: Cora 183 Das Vorgefundene 184 Gespräche mit Niflheim 186
An der Bahntrasse entlang 190 Nachschauen 193 Zu 196 Die Linden
im Vorhof 197 An Urd vorbei 199 Thingvellir 201
Mein Dank 205
Über die Autorin 207
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