Zum Buch
Viele von uns können sich an Mobbing,
Ausgrenzungen und Demütigungen erinnern, die uns in der Kindheit
widerfahren sind. So etwas vergisst man nicht und sinnt zuweilen auf
Rache. Und nicht immer lässt uns das Leben milder werden, um vergeben zu
können. Eine solche Geschichte erzählt das Buch: Ein Mann, ehemaliger
Flüchtling, kehrt zurück in jene Stadt im Ruhrgebiet, in der er als Kind
und Jugendlicher schikaniert und gequält wurde. Sein Besuch hat nur einen
Grund: er will sich rächen. Das gelingt ihm und er ist am Ende seines
Aufenthalts fertig mit der kleinen Stadt, der er alles Leid seiner
Kindheit und Jugend heimgezahlt hat. Aber wird er damit seinen Frieden
finden? Zu viel ist geschehen...
Leseprobe
Kapitel 1 Der Ausgegrenzte 1. Peter Kötter, ein Mann Anfang
vierzig, hatte in seinem Leben viele Spitznamen gehabt: Beelzebub,
Jäger, Diva, „der Zeiger“, und später sollte man ihn, wenngleich hinter
vorgehaltener Hand, „den Rächer“ nennen. Er war einen Meter neunzig
groß, nicht schlank, aber auch nicht dick, trug gutsitzende Anzüge und
eine seidene Krawatte. Seine Augen waren dunkelbraun, er blickte von
oben auf alle herab und verzog manchmal die Mundwinkel, als sei ihm die
Welt da unten zu banal. Viele Menschen hielten ihn für arrogant. Nur
seine Mutter wusste, was er wirklich war: ein enttäuschter kleiner
Junge, der als Kind von anderen Kindern gedemütigt wurde und sich rächen
wollte. Er wollte jener kleinen Stadt namens Stehlhausen, in der er
aufgewachsen war, alles aufbürden, was ihm angetan worden war. Es
war über zwanzig Jahre her, dass er dort grußlos in einen Zug gestiegen
war. Seitdem litt er an vielen schmerzhaften Erinnerungen. Seit er
damals fortgefahren war, hatte sich vieles in seinem Leben verändert, er
hatte studiert, promoviert und war ein erfolgreicher Geschäftsmann
geworden. Er leitete ein großes Unternehmen, verdiente gut, besserte
sein Gehalt noch durch hoch bezahlte Gutachten auf, die er in seiner
Freizeit schrieb. Außerdem spekulierte er an der Börse, meist mit
Erfolg. Die längste Zeit seines Lebens hätte er glücklich sein können,
denn er konnte alle äußerlichen Zeichen von Erfolg vorweisen: eine Villa
mit Garten, mehrere Autos, einschließlich Oldtimern, ein Boot, mehrere
Eigentumswohnungen. Aber trotzdem wurde Kötter die Erinnerungen an seine
Kindheit nicht los, er dachte daran, wenn er in seinem Porsche zur
Arbeit fuhr, träumte sogar nachts davon. Warum nur, warum?
Obwohl er noch jung war, neigte sich sein Lebensast nach unten. Sein
Arzt hatte ihm schweigend die Auswertung eines Computer-Tomogramms
präsentiert und ihn dann für einige Minuten allein gelassen. Aus dem
kargen Raum war alles fortgeräumt worden, was für einen verzweifelten
Menschen gefährlich sein könnte, sogar die Schnur, mit der man Pakete
verschnürte, oder ein Klebeband. Der Befund, der so gut wie keine
Aussicht auf ein Überleben bot, war das Ende einer langen Pechsträhne,
wenn dieser Begriff überhaupt passte. Maximal ein Jahr, um ehrlich zu
sein. Natürlich kann ich mich irren, hatte der Arzt gesagt. Hoffentlich.
Ich habe mich bisher immer geirrt, Prognosen sind bei Prostatakarzinom
schwierig. Kötters Frau Alexandra, die er nicht nur für schön und
klug, sondern auch für unsterblich gehalten hatte, war vor einigen
Jahren gestorben und er war mit der damals 16-jährigen Tochter allein
geblieben. Er wusste, dass sie an Darmkrebs erkrankt war, trotzdem kam
ihr Tod für ihn und die Tochter unerwartet. In der Kapelle und am Grab
waren sie nur zu viert, wenn man vom Pfarrer absah: er, Tochter
Alexandra und seine Mutter Eleonora. Später kam noch eine Freundin von
Alexandra, die er nicht kannte, aber seine Tochter wusste, dass sie aus
dem Yoga-Kurs war. Seine Tochter trug nicht nur denselben Vornamen wie
seine verstorbene Frau, sie hatte auch ihre Züge geerbt, den weichen,
schönen Mund und die karamellfarbenen, etwas spöttisch dreinblickenden
Augen. Das Mädchen war mehrfach um den offenen Sarg herumgelaufen und
hatte ihre Mutter so oft fotografiert, dass der Eindruck entstehen
konnte, sie wolle sie nicht gehen lassen und wenn, dann wenigstens ihr
Bild festhalten. Die Verstorbene sah tatsächlich aus, als ob sie
schliefe, der Bestatter hatte alles dafür getan, ihre Züge, die der Tod
verändert hatte, zu entzerren. Nur wer sehr genau hinsah – und auf den
Fotos würde man es noch besser erkennen –, bemerkte, dass ihre
schönen Lippen zu einer Seite leicht herabgesunken waren. Von nun an
würden sie viele Aufnahmen haben, die aus der Ferne und Nähe die Hände,
Augen und vor allem den Mund der verstorbenen Mutter festhielten. War
das die Frau, die Mutter, die sie beide, wenn auch auf unterschiedliche
Weise, geliebt hatten? Als Peter Kötter an ihrem Sarg stand, schloss er
für einen Moment die Augen und sah wieder das Mädchen vor sich, das ihm
am Tage seiner Auszeichnung im Gymnasium Blumen überreicht hatte.
Seitdem hatte er ihr Foto in der Innenseite seines Portemonnaies
getragen und es niemals durch ein anderes, aktuelleres, ersetzt. Noch
jetzt, an ihrem Grab, empfand er tiefe Zärtlichkeit. Von nun an würde er
allein sein. Bald würde man den Sarg schließen und seine Frau begraben.
Die Oma, seine Mutter, schüttelte nur missbilligend den Kopf, sie
verstand nicht, warum ihre Enkelin die tote Mutter so oft fotografierte.
Ihren Sohn schaute Eleonora mit einer Mischung aus Erleichterung und
Sorge an. Erleichtert, weil ihr Junge von der Last der Pflege befreit
war, und besorgt, weil er nun allein würde leben müssen. Seine Frau, von
Beruf Bankkauffrau, hatte nach der Geburt der Tochter nie mehr
gearbeitet und sich ganz Haushalt und Kindererziehung gewidmet. Sie
hatte auch den kleinen Garten bewirtschaftet. Auf wen würde er, Peter
Kötter, sich fortan verlassen können? Auf seine Tochter? Sie würde bald
erwachsen sein und fortgehen, um eine eigene Familie zu gründen. Nahe
Verwandte hatten sie nicht mehr, die drei Tanten waren inzwischen tot.
Andererseits war sie sich sicher, dass er es schaffen würde. Er hatte
immer alles geschafft. Aber alle Erfolge, alles Geld, alles
Selbstbewusstsein nützten dann nichts, wenn die Erinnerungen an die
Kindheit in ihm aufstiegen. Je älter er wurde, zumal jetzt, da ihm eine
bedrohliche Diagnose mitgeteilt worden war, dachte er immer öfter an
Stehlhausen, von den Einwohnern stolz „Stahlstadt“ genannt, wo er im
Spätsommer des Jahres 1946 als Flüchtlingskind mit seiner Mutter
angekommen war. Sie waren aus Leipzig geflohen, er war damals fünf Jahre
alt. Das war sehr, sehr lange her, fast vierzig Jahre, aber es kam ihm
vor, als sei es gestern gewesen. Um dieses Thema für immer zu töten, wie
er es nannte, hatte er sich in diesem Jahr bei der Frage, wo er seinen
Jahresurlaub verbringen sollte, kurzerhand für Stehlhausen entschieden.
Er wollte diese Stadt noch einmal sehen, außerdem wäre ein Aufenthalt in
seinen Eigentumswohnungen in Travemünde oder Südtirol nicht in Frage
gekommen, weil ihn die Erinnerungen an seine tote Frau zu sehr
geschmerzt hätten. Sie waren niemals Weltreisende gewesen. Um seinen
anstrengenden Job als Direktor eines Maschinenbau-Betriebes und seine
Gutachtertätigkeit meistern zu können, brauchte Peter Kötter in den
Ferien Erholung, nichts als Spaziergänge, Klettern auf Berge, gutes
Essen. Außerdem musste er einen Fernseher haben, der die
Börsenprogramme anzeigte, zum Beispiel Nachrichten von Bloomberg-TV. Denn was
ihn außer seiner Arbeit interessierte, war Geld, vor allem dessen
Vermehrung. Außerdem faszinierte ihn Wirtschaft, er kannte sich so gut
aus, dass er meist wusste, wann Börsenkurse steigen oder fallen würden.
Nächtelang saß er vor den großen Bildschirmen in seinem Arbeitszimmer,
stellte sich sogar den Wecker, um die Eröffnung der Hongkonger Börse
nicht zu verpassen. Mit Aktienhandel hatte er ein Vermögen gemacht und
er glaubte fest daran, dass ein Leben ohne Geld schlechter sei als eines
ohne Freiheit. So konnte sich sein Kontostand sehen lassen. Hinzu kamen
Einnahmen aus Immobilien und etlichen Aufsichtsratsposten. Auch wenn er
jetzt kürzertreten wollte, wie er es nannte, wollte er auf diese
Einnahmequellen nicht verzichten. |