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Petra Werner


Wehe euch!

Anatomie einer Rache

 

 

2021, Roman, 308 S., ISBN 978-3-86465-156-4, 16,80 EUR

 

im Druck

 

 

 

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Zum Buch


Viele von uns können sich an Mobbing, Ausgrenzungen und Demütigungen erinnern, die uns in der Kindheit widerfahren sind. So etwas vergisst man nicht und sinnt zuweilen auf Rache. Und nicht immer lässt uns das Leben milder werden, um vergeben zu können. Eine solche Geschichte erzählt das Buch:
Ein Mann, ehemaliger Flüchtling, kehrt zurück in jene Stadt im Ruhrgebiet, in der er als Kind und Jugendlicher schikaniert und gequält wurde. Sein Besuch hat nur einen Grund: er will sich rächen. Das gelingt ihm und er ist am Ende seines Aufenthalts fertig mit der kleinen Stadt, der er alles Leid seiner Kindheit und Jugend heimgezahlt hat. Aber wird er damit seinen Frieden finden?
Zu viel ist geschehen...

 

Leseprobe

Kapitel 1
Der Ausgegrenzte
1.
Peter Kötter, ein Mann Anfang vierzig, hatte in seinem Leben viele Spitznamen gehabt: Beelzebub, Jäger, Diva, „der Zeiger“, und später sollte man ihn, wenngleich hinter vorgehaltener Hand, „den Rächer“ nennen. Er war einen Meter neunzig groß, nicht schlank, aber auch nicht dick, trug gutsitzende Anzüge und eine seidene Krawatte. Seine Augen waren dunkelbraun, er blickte von oben auf alle herab und verzog manchmal die Mundwinkel, als sei ihm die Welt da unten zu banal. Viele Menschen hielten ihn für arrogant. Nur seine Mutter wusste, was er wirklich war: ein enttäuschter kleiner Junge, der als Kind von anderen Kindern gedemütigt wurde und sich rächen wollte. Er wollte jener kleinen Stadt namens Stehlhausen, in der er aufgewachsen war, alles aufbürden, was ihm angetan worden war.
Es war über zwanzig Jahre her, dass er dort grußlos in einen Zug gestiegen war. Seitdem litt er an vielen schmerzhaften Erinnerungen. Seit er damals fortgefahren war, hatte sich vieles in seinem Leben verändert, er hatte studiert, promoviert und war ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Er leitete ein großes Unternehmen, verdiente gut, besserte sein Gehalt noch durch hoch bezahlte Gutachten auf, die er in seiner Freizeit schrieb. Außerdem spekulierte er an der Börse, meist mit Erfolg. Die längste Zeit seines Lebens hätte er glücklich sein können, denn er konnte alle äußerlichen Zeichen von Erfolg vorweisen: eine Villa mit Garten, mehrere Autos, einschließlich Oldtimern, ein Boot, mehrere Eigentumswohnungen. Aber trotzdem wurde Kötter die Erinnerungen an seine Kindheit nicht los, er dachte daran, wenn er in seinem Porsche zur Arbeit fuhr, träumte sogar nachts davon.
Warum nur, warum?
Obwohl er noch jung war, neigte sich sein Lebensast nach unten. Sein Arzt hatte ihm schweigend die Auswertung eines Computer-Tomogramms präsentiert und ihn dann für einige Minuten allein gelassen. Aus dem kargen Raum war alles fortgeräumt worden, was für einen verzweifelten Menschen gefährlich sein könnte, sogar die Schnur, mit der man Pakete verschnürte, oder ein Klebeband. Der Befund, der so gut wie keine Aussicht auf ein Überleben bot, war das Ende einer langen Pechsträhne, wenn dieser Begriff überhaupt passte. Maximal ein Jahr, um ehrlich zu sein. Natürlich kann ich mich irren, hatte der Arzt gesagt. Hoffentlich. Ich habe mich bisher immer geirrt, Prognosen sind bei Prostatakarzinom schwierig.
Kötters Frau Alexandra, die er nicht nur für schön und klug, sondern auch für unsterblich gehalten hatte, war vor einigen Jahren gestorben und er war mit der damals 16-jährigen Tochter allein geblieben. Er wusste, dass sie an Darmkrebs erkrankt war, trotzdem kam ihr Tod für ihn und die Tochter unerwartet. In der Kapelle und am Grab waren sie nur zu viert, wenn man vom Pfarrer absah: er, Tochter Alexandra und seine Mutter Eleonora. Später kam noch eine Freundin von Alexandra, die er nicht kannte, aber seine Tochter wusste, dass sie aus dem Yoga-Kurs war. Seine Tochter trug nicht nur denselben Vornamen wie seine verstorbene Frau, sie hatte auch ihre Züge geerbt, den weichen, schönen Mund und die karamellfarbenen, etwas spöttisch dreinblickenden Augen. Das Mädchen war mehrfach um den offenen Sarg herumgelaufen und hatte ihre Mutter so oft fotografiert, dass der Eindruck entstehen konnte, sie wolle sie nicht gehen lassen und wenn, dann wenigstens ihr Bild festhalten. Die Verstorbene sah tatsächlich aus, als ob sie schliefe, der Bestatter hatte alles dafür getan, ihre Züge, die der Tod verändert hatte, zu entzerren. Nur wer sehr genau hinsah – und auf den Fotos würde man es noch besser erkennen –, bemerkte, dass ihre schönen Lippen zu einer Seite leicht herabgesunken waren. Von nun an würden sie viele Aufnahmen haben, die aus der Ferne und Nähe die Hände, Augen und vor allem den Mund der verstorbenen Mutter festhielten. War das die Frau, die Mutter, die sie beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, geliebt hatten? Als Peter Kötter an ihrem Sarg stand, schloss er für einen Moment die Augen und sah wieder das Mädchen vor sich, das ihm am Tage seiner Auszeichnung im Gymnasium Blumen überreicht hatte. Seitdem hatte er ihr Foto in der Innenseite seines Portemonnaies getragen und es niemals durch ein anderes, aktuelleres, ersetzt. Noch jetzt, an ihrem Grab, empfand er tiefe Zärtlichkeit. Von nun an würde er allein sein. Bald würde man den Sarg schließen und seine Frau begraben. Die Oma, seine Mutter, schüttelte nur missbilligend den Kopf, sie verstand nicht, warum ihre Enkelin die tote Mutter so oft fotografierte. Ihren Sohn schaute Eleonora mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge an. Erleichtert, weil ihr Junge von der Last der Pflege befreit war, und besorgt, weil er nun allein würde leben müssen. Seine Frau, von Beruf Bankkauffrau, hatte nach der Geburt der Tochter nie mehr gearbeitet und sich ganz Haushalt und Kindererziehung gewidmet. Sie hatte auch den kleinen Garten bewirtschaftet. Auf wen würde er, Peter Kötter, sich fortan verlassen können? Auf seine Tochter? Sie würde bald erwachsen sein und fortgehen, um eine eigene Familie zu gründen. Nahe Verwandte hatten sie nicht mehr, die drei Tanten waren inzwischen tot. Andererseits war sie sich sicher, dass er es schaffen würde. Er hatte immer alles geschafft.
Aber alle Erfolge, alles Geld, alles Selbstbewusstsein nützten dann nichts, wenn die Erinnerungen an die Kindheit in ihm aufstiegen. Je älter er wurde, zumal jetzt, da ihm eine bedrohliche Diagnose mitgeteilt worden war, dachte er immer öfter an Stehlhausen, von den Einwohnern stolz „Stahlstadt“ genannt, wo er im Spätsommer des Jahres 1946 als Flüchtlingskind mit seiner Mutter angekommen war. Sie waren aus Leipzig geflohen, er war damals fünf Jahre alt. Das war sehr, sehr lange her, fast vierzig Jahre, aber es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen. Um dieses Thema für immer zu töten, wie er es nannte, hatte er sich in diesem Jahr bei der Frage, wo er seinen Jahresurlaub verbringen sollte, kurzerhand für Stehlhausen entschieden. Er wollte diese Stadt noch einmal sehen, außerdem wäre ein Aufenthalt in seinen Eigentumswohnungen in Travemünde oder Südtirol nicht in Frage gekommen, weil ihn die Erinnerungen an seine tote Frau zu sehr geschmerzt hätten. Sie waren niemals Weltreisende gewesen. Um seinen anstrengenden Job als Direktor eines Maschinenbau-Betriebes und seine Gutachtertätigkeit meistern zu können, brauchte Peter Kötter in den Ferien Erholung, nichts als Spaziergänge, Klettern auf Berge, gutes Essen. Außerdem musste er einen Fernseher haben, der die Börsenprogramme anzeigte, zum Beispiel Nachrichten von Bloomberg-TV. Denn was ihn außer seiner Arbeit interessierte, war Geld, vor allem dessen Vermehrung. Außerdem faszinierte ihn Wirtschaft, er kannte sich so gut aus, dass er meist wusste, wann Börsenkurse steigen oder fallen würden. Nächtelang saß er vor den großen Bildschirmen in seinem Arbeitszimmer, stellte sich sogar den Wecker, um die Eröffnung der Hongkonger Börse nicht zu verpassen. Mit Aktienhandel hatte er ein Vermögen gemacht und er glaubte fest daran, dass ein Leben ohne Geld schlechter sei als eines ohne Freiheit. So konnte sich sein Kontostand sehen lassen. Hinzu kamen Einnahmen aus Immobilien und etlichen Aufsichtsratsposten. Auch wenn er jetzt kürzertreten wollte, wie er es nannte, wollte er auf diese Einnahmequellen nicht verzichten.

 

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