LESEPROBE
Alle Menschen sind gleich, denkst du. Du
siehst ja sofort, wenn du einen triffst, daß es kein Hund und kein Vogel
ist. Und auch kein Fisch.
Ein Mensch geht aufrecht, hat zwei
Beine, die sich auf der Erde festhalten, den Kopf oben auf den
Schultern, die Arme an der Seite, den Bauch mittendrin.
Und doch
sind nicht alle Menschen gleich. Es gibt große Menschen und kleine
Menschen. Es gibt dicke Menschen und dünne Menschen. Es gibt
schwarzhaarige und blonde Menschen. Manche Menschen sind blind und
können die Sonne und alle Farben nicht sehen. Manche Menschen sind taub
und hören gar nichts. Manche Menschen können nicht laufen, auch wenn
sie zwei Beine haben. Sie sind behindert.
Es gibt Menschen, die
sind still, und welche, die sind laut. Es gibt dumme und kluge, sanfte
und wütende Menschen. Es gibt kräftige und schwache Menschen,
vernünftige und unvernünftige. Es gibt liebevolle und böse, traurige
und lustige Menschen. Es gibt Menschen, die sehr empfindlich sind und
andere, die sind weniger oder gar nicht empfindlich. Mit einem Wort:
manche Menschen sind dir ähnlich, manche sehr verschieden von dir,
vielleicht so, wie ein Frosch mit einem Känguru verschieden ist.
...
Es gibt Menschen, die fühlen genau das
gleiche Erlebnis ganz anders. Die einen fühlen einen Donnerschlag bei
Gewitter sehr stark, die anderen ganz wenig, sehr schwach. Die es sehr
stark hören, haben leichter Angst. Die es sehr schwach hören, nicht.
Menschen, die sich in Gefühlen voneinander unterscheiden, heißen
hochempfindlich und nicht-hochempfindlich.
Wenn du hochempfindlich
bist, hörst du vielleicht lautes Sprechen wie in einem riesengroßen Faß.
Es erschreckt dich. Sag dir dann, nur bei mir ist es ein Riesenfaß,
weil es in meinem Körper so groß schwingt wie in einem Trommelkörper.
Nicht-hochempfindliche Menschen wissen gar nicht, was ich habe. Für
sie ist da kein Faß, in dem es dröhnt. Manchmal lachen
nicht-hochempfindliche Menschen über dich. Weil sie ja nicht so einen
Innentrommelfaßkörper haben, und denken, du machst Spaß oder bindest ihnen
eine Bären auf.
Schimpft jemand mit dir, kannst du es viele Tage
nicht vergessen und bist traurig und weißt nicht was du tun sollst.
Hast du selbst einen anderen Menschen verletzt, möchtest du in der Erde
versinken, vor Schmerz.
Ist dein Opa oder das Meerschweinchen
gestorben, kann dich gar nichts mehr trösten. Dir wird im Magen
schlecht, du hast Fieber und bist zu Hause krank. Du kannst in der
Schule nicht aufpassen, was der Lehrer sagt. Du träumst sehr trauriges.
Manche Gerüche sind für dich so schlimm, daß du davongehen musst.
Und ein Pullover oder ein Reißverschluß können dich so stark kratzen, daß
es wehtut.
Wenn dich etwas freut, kannst du Riesen-Luftsprünge
machen und vor lauter Freude chinesisch sprechen. Was natürlich alle
sehr irritiert. Und sie dich anschauen wie ein Kuhmann. Oft kannst du
etwas hören, sehen oder fühlen, zum Beispiel Dinge, Töne, Farben, – was
scheinbar gar nicht da ist…? Das ist ein großes Geschenk der Natur an
dich. Wie etwa ein berühmter Gelehrter vor vielen hundert Jahren
hörte, mit welchen Geräuschen sich Erde, Sonne, und die anderen Sterne
im Kosmos bewegen. Keiner glaubte ihm. Denn keiner hörte es. Heute
können das die Physiker messen, und wissen, daß er recht hatte.
Alles, was dir begegnet, ist anders, als bei anderen Menschen. Aber
wie große und kleine Menschen sich verständigen und sanfte und wütende
miteinander in Einklang kommen können, so kannst du dich mit den
nicht-hochempfindlichen über vieles verständigen. Über das, was scheinbar
nur dir begegnet, kannst du nach Menschen suchen, die auch
hochempfindlich sind.
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