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Walter Schmidt

 

Erinnerungen eines deutschen Historikers.

Vom schlesischen Auras an der Oder übers vogtländische Greiz

und thüringische Jena nach Berlin

 

 

 2018, 558 S., ISBN 978-3-86465-112-0, 29,80 EUR

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Inhaltsverzeichnis

 

I Kindheit und Jugend in Auras/Uraz 1930/33 bis 1946     9

   Meine Eltern                                               11

   Mein Vater                                                 14

   Meine Mutter und die Leppich-Sippe               22

   Das Händler-Gewerbe der Eltern                    30

   Das Oderstädtchen Auras                             32

   Unser Domizil in der Breslauer Straße 32        43

   In der Auraser Volksschule                           51

   Statt „Napola“ in die Breslauer Gudenatz’sche Privatschule    61

   Das Schicksalsjahr 1943                               71

   Januar/Februar 1945. Im Frontgebiet von Auras 78

   Hilfsarbeiter bei der Roten Armee. Totengräber – Krankenträger – Schmiedegeselle 83

   Zuschläger bei Wassil Wassiljewitsch              90

   Müllerbursche in der Miersbe-Mühle von Auras / Uraz                                         99

   Patient in Wszystkich Świętych                    108

   Abschied von Auras                                   116

   Heimatgefühle                                          119

 

II Umsiedler und Oberschüler in Greiz              127

Vom schlesischen Auras ins thüringische Mohlsdorf bei Greiz     127

Die harten Jahre als Umsiedler 1947 und 1948  134

Schüler der Dr. Theo-Neubauer-Oberschule in Greiz        137

Meine Jugendliebe Rita                                  152

Das Abitur                                                   155

Der Sommer nach dem Abitur                        158

 

III Lehrerstudent in Jena                               161

   Die Immatrikulation in Jena                        161

   Meine Hochschullehrer                               165

   Studium und Politik                                    179

   Die FDJ-Studiengruppe                               183

   Im Kreis der „Historischen Familie“               189

   Deutschlandtreffen und Semesterferien-Einsätze    194

   Marxismus-Studium                                   198

   Im Ringen im die Anerkennung des historischen

   Materialismus                                           211

   Das Jahr 1951 und die regelmäßigen Zwischenprüfungen      225

   Das lange Ende der Jugendliebe und die neue Liebe     229

   In der Hochschulgruppenleitung der FDJ        238

   In der Parteileitung der Historiker                242

   Das Studienjahr 1952                                 245

   Auf der Beststudentenkonferenz Oktober 1952    249

   Mein zweites Referat in Griewanks Hauptseminar    253

   Das achte, mein Prüfungssemester: Februar bis Juli 1953     255

   Weltfestspiele in Bukarest, Hochzeit in Weimar und Umzug nach Berlin      269

 

IV Historiker in Berlin 1953 bis 1990                281

   Die Assistentenjahre 1953 bis 1959/61          281

   Familiäres. Giselas Weg zum Mittelschullehrer 285

   Einarbeitung in die mittelalterliche und frühneuzeitliche deutsche Geschichte      289

   Zurück ins 19. Jahrhundert                         295

   Der XX. Parteitag der KPdSU                       302

   Militärische Ausbildung                               308

   Wahrnehmungsdozent und die Anfänge als Betreuer    311

   Der Weg zur Dissertation                            315

   Frühjahr 1960 Agitationseinsatz auf dem Lande 317

   Die ersten Moskauer Reisen und der Forschungsaufenthalt in Breslau/ Wrocław       318

   Schreibblockade und Verteidigung                324

   Übergang in Leitungsverantwortung.            327

   Mitarbeit am Projekt Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung                        332

   Mit Peter werden wir eine Familie                 336

   Berufung zum Lehrstuhlleiter                       338

   Nach Promotion und Achtbänder                  351

   Die zweite Hälfte der sechziger Jahre: Marx-Engels-Forschungsgruppe / Geschichtsbewusstsein –

   120 Jahre achtundvierziger Revolution und 150. Marx-Geburtstag / Habilitation                                355

   Sozialistisches Geschichtsbewusstsein           358

   In der Historiker-Gesellschaft der DDR          359

   Die Achtundvierziger Revolution. Vom 120. Jahrestag 1968 zur „Illustrierten Geschichte“ von 1973         364

   Habilitation 1969                                       366

   Die Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49     371

   Zur Entstehung einer sozialistischen Nation in der DDR      375

   Erbe und Tradition                                     380

   Forschungsgruppe: DDR-Geschichtswissenschaft     383

   Forschungen und Diskussionen zur Epoche 1789 bis 1871       388

   Band vier der Deutschen Geschichte: Die bürgerliche Umwälzung von 1789 bis 1871       394

   Direktor des Zentralinstituts für Geschichte    399

   Herausgeberkollegium der Deutschen Geschichte in zwölf Bänden      413

   DDR und BRD – Erben deutscher Geschichte. Ein Historikertreffen in Bonn von März 1987       419

   Die Promotion Hans Pelgers vom Karl-Marx-Haus Trier      427

   Das zweite Historikertreffen Mai 1989           430

   Die Vortrags- und Forschungsreise in die USA (Oktober 1988)          432

   In den Wendewirren 1989/90                      441

   Unsere familiäre Situation verändert sich      461

   In der MEGA-Kommission der Akademie der Wissenschaften der DDR       466

   Das Ende der „früheren Gelehrtensozietät“    482

   Im Wissenschaftlichen Beirat der IMES         487

 

V Der Beruf wird zum Hobby. Vorruhestand und Rentnerdasein ab Oktober 1990        495

   Übergang zum „Privatgelehrten“                  495

   In der Partei DIE LINKE                              495

   Erste Forschungen auf neuen Feldern           499

   Kritische Bilanzen                                      503

   Das Revolutionsjubiläum 1998                     507

   Burschenschafter-Biografien                        509

   Die neue Partnerschaft mit Christa und meine Familie   514

   Schlesien-Studien                                      518

   Der Arbeitskreis Vormärz- und 1848er Revolutionsforschung. Das Projekt: Männer und

   Frauen der Revolution von 1848/49              521

 

VI Nachwort                                                533

 

Personenregister                                         537

 

 

Leseprobe

 

I   Kindheit und Jugend in Auras/Uraz 1930/33 bis 1946

Du bist nicht nur ein Sonntagsjunge, sondern auch ein Muttertagskind, ließ mich meine Mutter einmal wissen, als ich so sieben oder acht Jahre alt war. Danach kaum noch. Warum sie mich auf Besonderheiten meines Geburtsdatums aufmerksam machte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht wollte sie, von Natur aus eher eine Skeptikerin, die stets auch drohende Gefahren und mögliche Unbillen im Blick hatte, andeuten, dass ich doch ein Glückskind wäre, was, aus heutiger Perspektive gesehen, sogar stimmen mag, natürlich cum grano salis.

Wie dem auch sei, das mit dem Sonntagsjungen und Muttertagskind stimmt. Ich wurde am 11. Mai des Jahres 1930 in Protsch-Weide [seit 1937 Weide, seit 1945 Widawa, heute Wrocław-Widawa] bei Breslau geboren, kurz nach Mitternacht. Und dies war tatsächlich ein Sonntag; und als zweiter Sonntag des sogenannten Wonnemonats wurde damals auch in Schlesien schon mit Blumen der Mütter gedacht. Es war dies ein Mütter-Ehrentag, der 1907 in den USA aufkam, dort 1914 erstmals sogar als nationaler Feiertag begangen wurde und sich seit 1923, kräftig gefördert durch den Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber, auch in Deutschland ausbreitete und zur Tradition wurde. Im Gegensatz zur BRD spielte er in der DDR – zumindest öffentlich – keine Rolle; der Muttertag war eher abgelöst worden vom Internationalen Frauentag am 8. März und kam erst nach dem Untergang der DDR auch im Osten wieder voll zur Geltung, während der Internationale Frauentag in der groß gewordenen Bundesrepublik zwar keineswegs aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, aber doch wieder in den Hintergrund gedrängt erscheint.

An diesem Maientag des Jahres 1930 erlebte meine Mutter mit fast 35 Jahren durch meine Geburt erstmals Mutterfreuden. Zur Welt kam ich – wie damals die Regel – in keiner Klinik, sondern in der kleinen Wohnung im ersten Stock eines Siedlungshauses in Protsch-Weide im Landkreis Breslau, nur wenige Kilometer nordöstlich der Stadtgrenze der schlesischen Hauptstadt. Dahin waren die Eltern nach der Hochzeit gezogen und hatten von da aus ein Handelsgeschäft begonnen. Ans Licht der Welt wurde ich von einer Hebamme befördert. Der Eltern Stolz auf den unter Schmerzen geborenen Stammhalter ist anzunehmen. Mein Vater, dem eine dichterische Ader mitgegeben war, hat – wie eines der ganz wenigen übrig gebliebenen, von meiner Mutter über die widrigen Zeitläufe geretteten Dokumente ausweist – zu meinem zweiten Geburtstag dem mit den Versen Ausdruck zu geben gesucht:

 

„Vor zwei Jahren nach Mitternacht

hat Mutti unsern Bubi zur Welt gebracht.

es ging sehr schwer, es gab viel Schmerzen,

aber es war ein Bub nach unserm Herzen.

Nun ist’s wie unser Sonnenschein.

Wir wünschten, es möchte immer so sein!


Unserer lieben Mutti zur Erinnerung an den

2. Jahrestag unseres Büberles’“.

 

Ich blieb zu meinem Leidwesen ein Einzelkind. Weitere Kinder waren der Familie nicht vergönnt. Ich wünschte mir Geschwister, vor allem eine Schwester, an meiner Seite. Ich erinnere mich an eine Szene, als ich mit fünf oder sechs Jahren einem Erwachsenen aus der Nachbarschaft auf dessen Anfrage sagte, dass aus der Rosemarie wieder nichts geworden sei. Das konnte nur bedeuten, dass Mutter eine erneute Fehlgeburt erlitten hatte. Welches die Gründe dafür waren, habe ich nicht erfahren und auch in späterer Zeit Mutter nie danach gefragt. Das Thema blieb unter uns bis zuletzt tabu.

Meine Eltern

Vatel, wie in unserer schlesischen Mundart Vater liebevoll hieß, nannte mich sein Büberle. Geheiratet hatten meine Eltern am 2. Februar 1929, inmitten eines der kältesten Winter im letzten Jahrhundert. Es war dies im kirchlichen Kalender der Tag Mariä-Lichtmess, jener Zeitpunkt im Jahresablauf, an dem, wie meine Mutter mir wiederholt erklärte, der Tag wieder um eine Stunde länger ist als zur Wintersonnenwende um die Weihnachtszeit. Für eine große Hochzeitsreise fehlten die Mittel, aber ein kleiner Abstecher ins Riesengebirge sollte es nach dem Wunsch von Vater doch schon sein. Krummhübel (Karpacz) mit der berühmten Kirche Wang mit Sicht auf die Schneekoppe war wohl der Zielort, von dem aus mit dem Schlitten Wanderungen in die Berge unternommen wurden. Zwei bis drei Stunden dauerte der Aufstieg, so nach den Erzählungen meiner Mutter, die das erste Mal in ihrem Leben eine winterliche Gebirgslandschaft erlebte, nur wenig mehr als 10 Prozent davon die rasende Abfahrt auf dem Schlitten. Diese erfolgreich zu lenken hatte Vater stets seine Probleme, da die angetraute überängstliche Gattin immer wieder das Tempo regelwidrig und trotz zahlreicher Abmahnungen abzubremsen versuchte. Sie hat öfter über diese tollkühnen Abfahrten zu berichten gewusst.

Die Jüngsten waren die beiden nicht, als sie sich entschlossen, zusammen zu leben und eine Familie zu gründen. Beide waren vom Jahrgang 1895 und zählten bereits gut 33 Lenze. Nahezu ein halbes Jahrzehnt hatte Vater um seine Klara werben müssen, bis sie einer Heirat zustimmte. Aber sie tat dies nur unter der Bedingung, dass kirchlich getraut wird und die Kindererziehung katholisch erfolgt, was insofern keine Probleme bereitete, als beide katholisch getauft waren. Nur eben war die Braut gläubige und praktizierende Katholikin, und der Bräutigam hatte mit der Kirche seit längerem nicht mehr viel im Sinn, was seine Gründe hatte. Er hatte als junger Kerl einer katholischen Lehranstalt in Neiße, die begabte Jungens mit dem Ziel förderte, aus ihnen Kandidaten für die spätere Ausbildung zu Priestern zu rekrutieren den Rücken gekehrt. Denn ihm gefielen, wie er mich etwas verschmitzt wissen ließ, die Mädchen mehr als dort – bei dem von der Anstalt für die Zöglinge anvisierten Berufsziel eines ehelos zu bleibenden Seelenhirten – gewünscht war. Dem Zölibat wollte er sich nicht unterwerfen. Und als seine Mutter danach versuchte, ihn auf einem – natürlich auch katholischen – Lehrerseminar ebenfalls in Neiße unterzubringen, um ihn „auf Lehrer studieren“ zu lassen, da hatte die Kirche dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie verweigerte seine Aufnahme und verhinderte so, dass er den Lehrerberuf ergreifen konnte, zu dem er sich berufen fühlte. Das hat er den Klerikern nicht vergessen. Wie es bei Vätern oft geschieht, hat er, als ich heranwuchs, alles unternommen, damit sein dereinst angestrebtes Berufsziel wenigstens von seinem Sohn erreicht wird.

Gleichwohl ist er, um seine Klara endlich heimführen zu können, auf alle ihre Bedingungen eingegangen, hat mit ihr sogar treu und brav beim zuständigen Pfarrer die für eine katholische Trauung obligatorische „Brautschule“ absolviert. Die wichtigste Lehre, die der Pfarrer der Braut empfahl, bestand darin, wie diese häufig lachend zum Besten gab: Füttere die Bestie gut, das halte den Gatten fest. Und so wurde denn nach der in Deutschland seit Bismarck obligatorischen standesamtlichen Eheschließung „der Elektromonteur Joseph Paul Schmidt, ledig, katholisch, aus Münsterberg, Teichstrasse 12, mit der Hausangestellten Klara Leppich, ledig, katholisch“ vom Pfarrer der Breslauer St. Carolus-Kirche Dr. Johannes Schmidts, wie der überlieferte Trauungsschein ausweist, an eben dem genannten Mariä-Lichtmess-Tag des Jahres 1929 kirchlich getraut. Vater hat sich an die in der „Brautschule“ getroffene Abmachung strikt gehalten und die religiöse Erziehung, aber eigentlich die gesamte Erziehung der Mutter überlassen. Er hat sich da niemals eingemischt, freilich mit dem vernünftigen Hintergedanken, den er die Mutter wie auch mich zuweilen wissen ließ, ich werde, ins Erwachsenenalter gelangt, sicher selbst entscheiden, welcher Weg hinsichtlich des weltanschaulichen Bekenntnisses eingeschlagen werden soll.

Seine Mutter Anna Schmidt, eine strenge Katholikin, war wohl am glücklichsten über die Heirat mit meiner gläubigen Mutter, hoffte sie doch, dass ihr vor allem, aber nicht nur in religiöser Beziehung etwas missratener Sohn wieder in die rechten Geleise geführt würde. Das geschah jedoch mitnichten. In der Kirche habe ich meinen Vater nur ein einziges Mal erlebt, als er dem Drängen namentlich meiner Großmutter und mit Abstand wohl auch meiner Mutter, die wesentlich toleranter war und ihren Mann besser kannte, einmal nachgab. Aber sie haben dies nicht noch einmal versucht. Denn die Blamage war total. Angesichts der Einmaligkeit seines Kirchenbesuchs warfen die traditionellen Kirchgänger natürlich einen besonders strengen Blick auf ihn und konnten nur feststellen, dass er immer wieder einschlief, selbst bei der Predigt, ungeachtet der Bemühungen seiner beiden Begleiterinnen, ihn wach zuhalten. Ich konnte dies während der Predigt von der Ministrantenbank recht gut beobachten, geschämt habe ich mich für ihn indes nicht. Wohl bekannt mit dem permanenten Zureden der beiden Schmidts-Frauen, dem er diesmal erlegen war, verstand ich ihn irgendwie und dachte mir, das haben sie nun davon, ihn nicht in Ruhe in den Wald gehen zu lassen. Meinen Vater selbst hat das alles nicht berührt, die Meinung von permanenten Kirchgängern am allerwenigsten. Ich glaube, er war froh, dass das Thema Kirchenbesuch fortan nicht mehr auftauchte.

Mein Vater

Mein Vater Josef Paul Schmidt hatte zum Zeitpunkt der Heirat schon ein recht bewegtes Leben hinter sich gebracht.[1] Geboren am 16. März 1895 in Glambach, einem kleinen Dorf im Kreise Münsterberg, als Sohn des „Stellenbesitzers“ Joseph Paul Schmidt, eines Kleinstbauern, der aber sein Brot hauptsächlich als Maurer verdienen musste, und der Anna Schmidt, geb. Linke. Er war nach zwei älteren Schwestern der erste und blieb der einzige Junge des Ehepaars Schmidt und es blieb bei diesen drei Kindern. Seinen Vater hat mein Vater nicht richtig kennengelernt, denn er starb, als sein Stammhalter gerade drei Jahre alt geworden war, an der Arme-Leute-Krankheit jener Zeit, der Lungentuberkulose. Vaters Schwestern, meine Tanten Maria und Anna, lebten später in Münsterberg, beide verheiratet; Maria mit einem körperlich kräftigen, gutmütigen und fröhlichen Mann, den ich sehr mochte. Er bewirtschaftete einen kleinen Bauernhof am Rande von Münsterberg und hielt immer zu den einfachen Leuten. In Erinnerung blieb mir, dass er mir mit 13 nach einem üppigen Wellfleischessen beim Schweineschlachten, zu dem ich eingeladen und von der Schule in Breslau aus im Herbst 1943 hingereist war, mit der wohl richtigen Bemerkung, auf so ein fettes Mal gehört ein harter Korn, den ersten Schnaps in meinem Leben eingoss. Ich habe ihn – etwas skeptisch freilich – auf Anraten des Onkels auch gleich „ex“ in mich hinein geschüttet und er hat mir angesichts des fetten Fleisches tatsächlich nichts angetan. Die andere Schwester meines Vaters Anna war Gattin eines Postbeamten, der sich allerdings als etwas Besseres dünkte und dem wohl auch die politische Haltung seines Schwagers nicht in den Kram passte. Überdies war es in dieser Wohnung immer recht fein, mir zu fein, denn ich musste mich ständig vorsehen. Da ging ich jedenfalls nicht gern hin. Bei ihnen lebte aber Vaters Mutter, meine Großmutter, die ich natürlich immer besuchte, wenn ich, freilich selten, nach Münsterberg kam. Der Kontakt zur Verwandtschaft von väterlicher Seite war nicht besonders eng.

Meine Großmutter war eine sehr energische, entschlossene, etwas herb wirkende, überzeugt fromme und vor allem furchtlose Frau, die nach dem Tod ihres Mannes am Ende des 19. Jahrhunderts ein hartes Leben durchzustehen hatte und sich auch durchzusetzen wusste. Geheiratet hat sie nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr, sondern die Kinder allein durchgebracht. Wie es mit der kleinen Stelle in Glambach, sicher nicht gerade ein großer Reichtum, weiterging, ob sie diese behielt oder verkaufte, habe ich nicht erfahren. Als ich sie bei ihren durchweg mehrwöchigen Besuchen bei uns in Auras bewusst wahrzunehmen begann, war sie immerhin schon Mitte Siebzig und ging stark gebeugt, aber energievoll, hatte schlohweißes Haar und war nicht nur körperlich, sondern auch geistig überaus rüstig. Sie interessierte sich für Politik und verwickelte Vater in manchen Disput. Sie wusste immer, was sie wollte. Ihre Furchtlosigkeit war sprichwörtlich. Da unterschied sie sich stark von meiner Mutter. Ich werde nie vergessen, dass sie einmal mitten in der Nacht, selbst für meinen Vater, der sie ja gut kannte, überraschend, den 5–Kilometer-Marsch vom Bahnhof Auras-Hennigsdorf teilweise durch den Wald zu uns nach Hause gemacht hat und uns aus dem Schlaf klopfte. Sie hatte in Breslau einen früheren Zug verpasst. In den zwanziger Jahren, da war sie schon Mitte 60, hatte sie, weltoffen, unternehmungslustig und voller Neugier auf die Neue Welt, eine große Fahrt mit einem Ozeanriesen über den Atlantik angetreten, um einen ihrer Brüder zu besuchen, der nach den USA ausgewandert war und sie nun eingeladen hatte.

Geboren am 15. Januar 1860 – warum ich mir gerade diesen, ihren Geburtstag gemerkt habe, ist mir unerfindlich – hat sie offenbar bei ihren Eltern, Kleinbauern im Vorgebirgsland, noch die Ausläufer der feudalen Abhängigkeiten mitbekommen. Sie erzählte mir wiederholt, dass ihre Eltern noch auf Robot zum Gutsbesitzer gehen mussten. Großmutter wurde 86 Jahre alt und starb 1946 in Münsterberg. Die Ausweisung aus der Heimat hat sie nicht mehr erlebt.

Mit mir hatte Großmutter bisweilen ihren Kummer, wenn sie mich zu beaufsichtigen hatte, Ihr war ich anvertraut, wenn die Eltern über Land zum Einkaufen landwirtschaftlicher Produkte oder in Breslau zum Verkaufen der Ware unterwegs waren. Ich gehorchte ihr wohl nicht immer so brav, wie sie es für nötig hielt. Da rutschte ihr schon mal raus: A su a verpuchta Junge. Besonders hat sie empört, als ich ihr auf eine Frage, wo ich einen bestimmten Schlüssel, den sie suchte, hingelegt habe, in mehr oder weniger gekonntem Dialekt antwortete: Den hoab ich ei de Oder geschmissa. Was sie natürlich der Mutter berichtete, die mich aber nicht sonderlich bestrafte, sondern nur streng ermahnte.

Von der Großmutter lernte ich – ein wenig zumindest – den schlesischen Dialekt, wie man ihn in Glambach und um Münsterberg herum pflegte. Bei uns zu Haus wurde indes nur Hochdeutsch geredet, Mutter in ihrem etwas harten oberschlesischen Slang. Großmutter brachte mir, als ich etwa vier Jahre alt war, das schlesische Mundart-Gedicht vom „gefräßigen Spoatz“ bei. Ich habe es, von den Erwachsenen bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten aufgefordert, immer wieder und nicht ohne Stolz aufsagte und bis heute nicht vergessen. Die um einiges ältere Nachbarstochter Christa Kipke hat mich jüngst an meine frühen deklamatorischen Fähigkeiten erinnert und um den Text für ihre Enkel gebeten. Er lautet:

 

Dar Spoatz, das wor a frecher,

Dar flug uff oalle Dächer,

Dar flug uff oalle Terme

Mit unverschämtem Lärme.

 

Ar froaß, woas ar darwischte,

Kemm annern gunt er nischte,

Es sullte kees nischt assa,

Oall’s wuld ar salber frassa.

 

Ar wurde rund und runder,

Is ging schunt nischt mehr nunder.

Ar wurde fett und fetter,

Doch froaß ar immer wetter.

 

Ar froaß sich rund und dicke,

Und kriegt a steif Genicke,

Und kriegt a fettes Wampla,

Als wie a Puttastampla.

 

Uff emol hiern merr’s kracha

Doa fing mer oan zu lacha.

Doa woar das Vieh, doas dicke,

zerploatzt ei tausend Sticke.

Über seine eigene Kindheit hat Vater mir wenig erzählt; nur dass er schon mit drei Jahren seinen Vater verlor, der 1898 an der Schwindsucht starb. Das war ihm zeitlebens Grund genug, ganz bewusst gesund zu leben, nie zu rauchen und auch nie zu trinken; im Unterschied zu Mutter, die sich gern mal von mir eine Flasche Bier aus der „Krone“, der Gastwirtschaft in unserer Siedlung, holen ließ, um diese dann allein leeren zu müssen. Und wann immer es möglich war, bewegte er sich in der freien Natur, in frischer Luft, am liebsten im Walde. Dahin begab er sich von Frühjahr bis Herbst stets am Sonntagvormittag, um, das Angenehme mit dem Nützlichen verbindend, Futter für das zahlreiche Federvieh auf unserem Hofe zu besorgen. Diese Aufenthalte im Wald nannte er seine ureigensten Gottesdienste. Dort fühlte er sich wohl, und er hielt auch mich an, die nahen Wälder zu durchstreifen, was freilich für mich bald zum Pflichtprogramm wurde, als ich nach Vaters Verhaftung im September 1942 die Futterversorgung übernehmen musste. Als Erholung betrachtete ich dies nicht gerade, eher als unvermeidliche und notwendige Schinderei. Eine mir unvergessliche Empfehlung des Vaters lautete, sich gegen Rheumatismus unbedingt nackt in ein Brennnesselfeld zu legen, was er selbst sicher nie getan haben mag, nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil er unter Rheumatismus nicht gerade litt. Ich selbst hab derartige Vorschläge natürlich mit äußerster Skepsis aufgenommen, wusste ich, seit früher Kindheit schon angehalten, für die jungen Gänschen massenhaft frische kleine Brennnesseln heranzuschaffen, doch aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft dieses Gewächs auf die Haut wirkt.

Da es mit der Lehrerausbildung nichts wurde, nahm Vater erst sehr spät, mit 18 Jahren am 18. April 1913 – wie das Gesellenprüfungs-Zeugnis ausweist – die Lehre als Elektroinstallateur auf. Kurz davor hatte er von August 1912 bis Ende Januar 1913 in einer kaufmännischen Fortbildungsschule in Münsterberg erfolgreich an einem Kursus „für junge Kaufleute“ teilgenommen und Handelskorrespondenz, Wechsellehre, die verschiedenen Arten der Buchführung und sogar Maschineschreiben gelernt. Das Gesellenzeugnis von 1921 verzeichnet insgesamt fünf Lehrherrn an fünf verschiedenen Orten nicht nur in Schlesien, sondern auch anderswo in Deutschland, darunter die AEG Danzig. Seine Ausbildung zog sich über gut acht Jahre hin. Sie wurde erst im Juni 1921 mit einer „genügend“ bewerteten Gesellenprüfung vor der Handwerkskammer zu Breslau abgeschlossen. Die lange Lehrzeit erstaunt, hing aber zuvörderst mit dem dazwischen gekommenen ersten Weltkrieg und den frühen Nachkriegswirren zusammen. 1915 wurde der Elektroinstallateur-Lehrling zur Armee eingezogen, diente wohl bei der Infanterie und war unter anderem auf dem Balkan eingesetzt. Seine strikte Aversion gegen Alkohol erklärte er jedenfalls wiederholt mit einem Erlebnis als Soldat in Mazedonien. Man hatte ihn gemeinsam mit seinen Kameraden in einem Weinkeller kräftig bechern lassen, was auch gut ging, solange man im kühlen Keller blieb. Aber als man herauskam in einen schwülen Sommertag, fielen alle sternhagelblau um. Und er selbst sei, während es dann noch regnete, unter eine Traufe geraten und habe sich, in dem Glauben, man wolle ihm weiter Wein einflößen, massiv gegen das auf ihn herablaufende Regenwasser zu wehren versucht. Erst am folgenden Tag bemerkte er seinen Irrtum. Aber er war fortan gegen jeglichen Alkohol, wie er meinte, immun geworden.

Das Kriegsende im November 1918 erlebte mein Vater, wie er häufig erzählte, in Köln. Er beteiligte sich am dortigen Soldatenrat und gewann in den Kämpfen der Novemberrevolution seine bis zum Lebensende beibehaltende entschieden linke politische Haltung. Als die Nazis den 9. November wegen des niedergeschlagenen Hitlerputsches vom November 1923 in München zu einem nationalen Gedenktag erhoben, dessen in der Schule gedacht wurde, und ich ihn danach befragte, erklärte er mir zunächst den reaktionären Charakter dieses Ereignisses, schob dann aber sofort das Folgende nach: Denk an diesem Tag an ein anderes Jahr, an 1918, als die Novemberrevolution ausbrach, dessen lohnt es sich eher zu erinnern. Dann berichtete er mir über die unguten Erfahrungen, die er und die revolutionären Soldaten in den Auseinandersetzungen an der Jahreswende 1918/19 mit offiziellen Vertretern der SPD gemacht hatten. Sie hätten, wie er sagte, alles darauf angelegt, die Revolution abzuwürgen. Von ihm hörte ich zuerst den unter den Kommunisten der Weimarer Republik weitverbreiteten Spruch: „Wer hat uns verraten? Es waren die Sozialdemokraten.“ Er war in der Novemberrevolution entstanden und ist bis heute, wie der Songtext von Marc-Uwe Kling und das Buch von Richard Wiegand mit den interessanten Aktualisierungen bezeugen, nicht vergessen.[2]

Bei den Verhören bei der Gestapo nach der Verhaftung im September 1942 gab er an, 1920 nur wenige Wochen der KPD angehört und sich danach nicht mehr politisch betätigt zu haben. Das war mit Sicherheit eine ebenso notwendige wie verständliche Schutzbehauptung, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Denn aus Erzählungen von Mutter und Großmutter erfuhr ich, freilich mehr beiläufig, dass Vater in den zwanziger Jahren wiederholt in Schlesien und zum Schrecken seiner Mutter sogar in Münsterberg als kommunistischer Redner aufgetreten war und mehrere Male von der Polizei gesucht wurde und sich, um Verhaftungen zu entgehen, verstecken musste; in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nicht selten bei meiner Mutter in Breslau. Ich weiß nicht, ob und wann, wie und wo er in dieser Zeit politisch organisiert war. Darüber hat er in den dreißiger und frühen vierziger Jahren verständlicherweise nie mit mir gesprochen. Aber er war und er verstand sich als ein Mann der äußersten Linken, als Kommunist, und er beeinflusste in dieser Weise auch meine Mutter, die er eine religiöse Sozialistin nannte. Vater spielte in den endzwanziger Jahren angesichts fortdauernder Arbeitslosigkeit mit dem Gedanken, als Facharbeiter in die Sowjetunion zu gehen, wofür in diesen Jahren massiv geworben wurde. Ich vermute, dass Mutter ihm das ganz vehement ausgeredet hat. Mitgegangen wäre sie mit Sicherheit nicht. Und so blieb es wohl bei der bloßen Überlegung.

Beruflich hat Vater nur insofern rasche Karriere gemacht, als er schon ein Jahr nach der Gesellenprüfung, Anfang Mai 1922, vor der „Meister-Prüfungs-Kommission für das Starkstrom-Elektro-Installations-Handwerk“ der Breslauer Handwerkskammer seinen Meister machte, in den theoretischen Fächern durchweg mit „gut“, ansonsten mit „genügend“ bewertet. Arbeit als Meister zu finden war indes nicht so einfach. Und mehrere Versuche, sich selbständig zu machen, scheiterten, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auch auf dem Gebiet des neu aufgekommenen Rundfunkwesens. Übrig von diesem Versuch blieben zahlreiche Geräte, die auf dem Boden Platz gefunden hatten und mir jahrelang als Spielgeräte dienten. Der letzte Versuch, einen eigenen Handwerksbetrieb aufzumachen, scheiterte so gründlich, dass Vater Offenbarungseid leisten musste. Das hatte Konsequenzen. Als die Jungverheirateten ein Geschäft gründeten, das ihnen in den bitteren Jahren der Weltwirtschaftskrise, die just im Jahr ihrer Heirat ausbrach und alle Hoffnungen des Vaters auf einen Arbeitsplatz als Elektromonteur gänzlich zunichte machte, wenigstens den nötigsten Lebensunterhalt sichern sollte, musste das Unternehmen auf den Namen meiner Mutter angemeldet werden.

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[1]     Zur Biografie siehe: Walter Schmidt: Josef Schmidt (16. März 1895 bis 8. November 1943). Erinnerungen an meinen Vater, in: Antifaschismus als humanistisches Erbe in Europa. Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Rolf Richter, Berlin 2005, S. 63–86.

[2]     Wer hat uns verraten? Songtext von Marc-Uwe Kling; Richard Wiegand: „Wer hat uns verraten…“ Die Sozialdemokratie in der Novemberrevolution, Freiburg 1999.

 

 

 

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