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Vor einem Wiener Nobelhotel wird auf ein Paar geschossen.
Der Mann wird getötet, die Frau vom Schützen verfehlt. Warum wollte
jemand das Paar auf so spektakuläre Weise beseitigen? Bisher waren diese
Menschen der Öffentlichkeit nicht bekannt, er Arzt, sie Angestellte im
Gesundheitswesen. Wenige Stunden zuvor hatten sie geheiratet. Alle
rätseln. Ein Mordmotiv ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Und
auf den zweiten? Da stellt sich heraus, dass viele Menschen ein
Motiv hätten. Vermutlich liegt es in der Vergangenheit der Opfer
begründet. Auch deshalb ist der Fall schwierig. Bei der Aufklärung sind
nicht nur kriminalistisches Handwerkszeug, sondern auch Lebenserfahrung
und Menschenkenntnis gefragt. Der leitende Ermittler und sein Team, zu
dem eine beherzte, fast sechzigjährige Frau gehört, wenden bei der
Spurensuche mitunter unorthodoxe Methoden an.
Eine besondere Bedeutung in diesem Fallscheint einem
Gemälde von
Paul Delvaux, das „Landschaft mit Laternen“
zu, das im Albertina Museum in Wien hängt.
Die Lösung überrascht.
Leseprobe
Kapitel I Der Schuss 1. Mit einem Menschen verschwinden nicht
nur seine Erinnerungen, sondern auch seine Geheimnisse. Das wurde
niemals so deutlich wie an jenem Frühlingstag, als ein Paar, frisch
verheiratet, aus der Pendeltür des Haupteingangs von „Kings Palace“
trat. Gerade wollte er sie küssen, da traf den Mann ein Geschoss in den
Rücken. Der Schuss war präzise gesetzt und mit Schalldämpfer ausgeführt,
deshalb bemerkte niemand, aus welcher Richtung er kam. Keiner der
Passanten, die auf dem Bürgersteig vorübereilten oder auf der
gegenüberliegenden Verkehrsinsel auf die Straßenbahn in Richtung
„Zentralfriedhof“ warteten, würde sich später erinnern, denn anderes war
wichtig: Über Nacht waren die cremefarbenen Büschel der Robinienblüten
aufgegangen und ihr Duft machte die Menschen so weich, dass sie sogar
die Kondensstreifen der Flugzeuge als gute Zeichen deuteten. Der
tödlich getroffene Mann stürzte auf die Marmorstufen. Seine Frau schrie
auf, taumelte, sank zusammen. Auf ihrem hellen Kostüm zeichneten sich
Blutspritzer ab. Ihr Haar, bis vor wenigen Minuten perfekt frisiert,
stand nun nach allen Seiten ab, als hätte sie ein Stromkabel berührt.
Der Sterbende schaute sie an und flüsterte ihr etwas zu, das außer ihr
niemand hörte. Ein zweiter Schuss landete neben ihrem Kopf und
beschädigte das Edelholz des Türrahmens vom Hotel „Kings Palace“.
Eine bessere Kulisse als diesen repräsentativen Eingang des Nobelhotels,
so bemerkte ein Journalist später spöttisch, hätten der oder die Mörder
nicht wählen können für ihre Bluttat. Leute blieben stehen, umringten
die beiden, zückten ihre Smartphones, bis sie von der Polizei gestoppt
wurden. Zufällig war auch ein Reporter in ihrer Nähe und ein Foto, das
einen sterbenden Mann und eine blonde Frau im blutbespritzten Kostüm mit
aufgerissenen Augen zeigte, wurde noch am selben Tag in den
Abendnachrichten des Fernsehens und am nächsten Tag in der „Kronen
Zeitung“ veröffentlicht. Bis dahin kannte niemand die beiden, es
waren keine prominenten Opfer und keiner in Wien konnte sich vorstellen,
warum gerade auf dieses Paar geschossen worden war, stammten sie doch
nicht aus der Geschäftswelt. Die Namen waren schnell herausgefunden, bei
dem Toten handelte es sich um den Psychiater Christopher Scheuer,
Oberarzt an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Wien, und die ehemalige Krankenschwester Maria Saby, für eine knappe
Stunde verehelichte Scheuer, die in einer Wiener Behörde arbeitete. Wer
konnte ein Interesse daran haben, diese unbekannten Menschen auf so
spektakuläre Weise zu ermorden? Maria Scheuer, nicht körperlich, aber
seelisch zutiefst verletzt, war zunächst nicht vernehmungsfähig. Sie
wurde mit ihrem Einverständnis in die Klinik gebracht, in der ihr
Ehemann gearbeitet hatte, und dort von der Öffentlichkeit abgeschirmt.
Weder die Polizei noch die zahlreichen Reporter, die auf der Suche nach
einer guten Geschichte Wien stets durchstreifen, mal hier, mal dort sind
und dabei wie Hunde Witterung aufnehmen, ließ dieser Fall in Ruhe.
Wochenlang sollte in Wien über diesen Mord gesprochen werden, ja, sogar
Touristengruppen aus dem In- und Ausland wurden vor das Hotel mit der
abgerundeten, kuppelähnlich geformten Drehtür geführt und die Stimme der
Reiseführer senkte sich geheimnisvoll, wenn sie über den spektakulären
Vorfall berichtete.
2. Die Untersuchungen zur Aufklärung des Falles leitete
Kriminaloberkommissär Igor Lacker. Er durfte den Leiter des
Kommissariats „Wiener Innenstadt“ mit dem seltsamen Namen Karl
Pansengrün während seines Urlaubs vertreten. Lacker war Anfang dreißig,
sein blondes Haar war kurz geschnitten und stand wie die Borsten einer
Zahnbürste nach oben ab. Wenn er lief, ähnelte er einer Giraffe, sein
langer Hals war nach vorn gereckt und er bewegte die Arme schlaksig.
Dennoch wirkte er dynamisch. Bereits fünfzehn Minuten nach dem Mord traf
er am Tatort ein. Lacker freute sich, denn niemals hätte Pansengrün
diesen „schönen“ Fall freiwillig abgegeben. Ein „schöner Fall“, das war
im Polizeijargon einer, der versprach, so geheimnisvoll und
aufsehenerregend zu werden, dass Pressekonferenzen veranstaltet werden
mussten. Die Ermittler würden um Erklärungen oder sogar ein Interview
gebeten werden und damit zu Ruhm gelangen. Das könnte karrierefördernd
sein, aber auch, das wusste Lacker, viel Ärger aus verschiedenen
Richtungen bedeuten. Ihm zur Seite stand ein dienstbeflissener junger
Mann namens Daniel Feldmeier, der Kriminalistik studierte und auf der
Wache sein Praktikum machte, um alltägliche Polizeiarbeit
kennenzulernen. Er erkannte Lacker als Autorität an und das war
Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit. Lacker blieb vor dem
Hotel stehen und überlegte, von wo der Täter geschossen haben könnte.
Ihm fiel ein Haus von gegenüber auf. Zunächst aber konzentrierte er sich
auf den Tatort, ließ den Eingang des Hotels weiträumig absperren und
Sichtschutzwände aufbauen. Dahinter sicherten Spezialisten in weißen
Schutzanzügen den Tatort und versprühten Luminol zum Nachweis von Blut.
Nun mussten die noblen Gäste, die gerade nach ausgiebigem Frühstück in
einem edlen Saal im Erdgeschoss gutgelaunt zu einem Stadtbummel oder
einer Fiakerfahrt aufbrechen wollten, den Nebeneingang benutzen. Alle,
sowohl der Wagenmeister als auch der Concierge und der Direktor, sehr
gepflegte, distinguierte Herren, denen ihr Hotel am Herzen lag,
wünschten, den Haupteingang bald wieder freizugeben. Der Concierge, der
nach dem Wagenmeister innerhalb des Hauses als Erster die Hotelgäste
begrüßte, bevor sie zur Anmeldung und zur Schlüsselausgabe gebeten
wurden, litt unter der Beeinträchtigung des Entrees und stellte sich für
zehn Minuten höchstselbst an den Hintereingang. Er verneigte sich vor
den eintreffenden Gästen, versuchte abzuwiegeln, indem er erklärte, dass
dieser Eingang nur wenigen Zelebritäten vorbehalten sei, um sie vor
allgegenwärtigen Paparazzi und belästigenden Fans zu schützen. So habe
man schon amerikanische, russische und italienische Staatschefs
hindurchgeschleust, um sie vor der Liebe und der Neugier der Wiener zu
bewahren. Sogar Brad Pitt, verfolgt von weiblichen Fans, und Elton John,
verfolgt von männlichen Verehrern, seien auf diese Weise in Sicherheit
gebracht worden. Die meisten Gäste hatten Verständnis dafür,
schwieriger war es mit jenen, die zum ersten Mal hier gebucht und für
den Preis ein großes Empfangsportal erwartet hatten. Man versuchte,
ihnen einzureden, dass wahrscheinlich Hollywood hier einen Film drehe,
Genaueres wisse man nicht. Keinesfalls sollte der Name des Hotels in der
Welt mit Blut und Gewalt in Verbindung gebracht werden, sondern man
sollte sich an vorzüglichen Kaviar, eisgekühlten Jahrgangschampagner und
Suiten mit Himmelbetten, die ein „heimeliges Gefühl“ vermitteln,
erinnern. Man reiste an, schloss Geschäfte ab, begann Affären, die man
als Liebschaften ausgab, und verschwand, bis im nächsten Jahr im selben
Bett zur selben Zeit eine splitternackte Vertretung lag.
Während
die Herren von der Spurensicherung behutsam wie Neurochirurgen, die am
Gehirn arbeiten, das im Holz steckende Projektil sicherten, schaute sich
Lacker unter den Zuschauern um. Dabei reckte er den Hals und schlenkerte
mit den Armen, damit ihn niemand auf den ersten Blick als Polizisten
erkannte und sich etwa davonschlich. So hoffte er jedenfalls. Von den
wenigen Menschen, die noch in der Nähe des Hotelportals neugierig stehen
geblieben waren, hatte niemand, wie sich nach eingehender Befragung
herausstellte, die Tat wirklich gesehen, man hatte erst dann etwas
bemerkt, nachdem das Opfer gestürzt war. Die Umstehenden beschworen,
keine auffällige Person beobachtet zu haben. Niemand hatte zur selben
Zeit die Pendeltür benutzt, keiner hatte jemanden fortlaufen sehen. Das
war selbst für den unerfahrenen Lacker ungewöhnlich, normalerweise
drängten sich der Polizei Leute auf, die angeblich jede Einzelheit
beobachtet haben wollten. Das machte die ganze Angelegenheit noch
geheimnisvoller. ...
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