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Elviera Thiedemann

Es kam ein langer lichter Herbst.

Tagebuch der Wendezeit 1989/90

 

2020, 2. Auflage, 189 S., ISBN 978-3-86464-144-1, 12,80 EUR

 

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Tagebuchaufzeichnungen sind authentische Zeitdokumente, die das politische Geschehen aus der subjektiven Sicht des Autors/der Autorin spiegeln und in der Regel mehr über dessen/deren Befindlichkeit enthüllen als daß sie Geschichtsrelevantes vermitteln. Im vorliegenden Fall jedoch ist die Autorin, nach Meinung des Herausgebers der Reihe, Fritz Vilmar, eine Angehörige der “aktiv und kritisch Gestaltenden im Millionenheer der ‘normalen’ DDR-Bürger” (8), die in ihrem Tagebuch die “Alltagssicht des Normalbürgers” über die Wendezeit vermittelt. Elviera Thiedemann selbst präzisiert die soziale Gruppe, die sie repräsentiert, als eine starke Gruppe innerhalb der keineswegs homogenen Mehrheit der DDR-BürgerInnen: “Ich bin ein Kind dieser DDR, ein behütetes und ein bevormundetes, habe selbst vier Kinder zu lebenstüchtigen, optimistischen Menschen erzogen und mehr als zwanzig Jahre als Pädagogin gearbeitet. Ich versuchte, in Funktionen unterster Leitungsebene eigene Ideen umzusetzen und kapitulierte – ohne energisch rebelliert zu haben –aus Einsicht in nicht abzuschätzende Notwendigkeiten. Ich habe dieses mein verschwundenes Land geliebt und manchmal gehaßt und meine ganze Kraft, meine Leidenschaft und meinen Optimismus auf die Verwirklichung einer humanistischen Gesellschaft konzentriert, So diente ich im doppelten Sinne: im eigenen Bewußtsein einer großen Idee, im Bewußtsein anderer der ‘Macht’” (11).
Elviera Thiedemann gehört zu den DDR-BürgerInnen der zur Zeit der Wende mittleren Generation, die oft aus sozialistisch oder kommunistisch orientierten Familien stammend, in denen das NS-Regime abgelehnt, wenn nicht sogar bekämpft wurde, in der Tradition grundsätzlicher Akzeptanz des Staatswesens und des politischen Systems der DDR erzogen worden sind. Während die Kinder dieser BürgerInnen seit dem Prager Frühling 1968 immer systemkritischer und rebellischer wurden, dauerte dieser Prozeß bei der Elterngeneration, die in der DDR höhere Schulen besuchen konnten, nach deren Abschluß sie automatisch in eine sichere Arbeitsstelle vermittelt wurden, naturgemäß wesentlich länger, oft bis nach der Wende. Bei manchen fand die Abnabelung von dem gescheiterten Modell alternativer Gesellschaft niemals statt. Besonders die Frauen dieser Schicht und Generation waren überzeugt davon, daß die DDR-Führung ihnen mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit durch Vollbeschäftigung die Emanzipation ermöglicht habe; sie waren weniger geneigt prinzipielle Systemkritik zu üben als die nachfolgenden Generationen, und sahen allenfalls die Mängel in der Versorgung, im Bildungs- oder Gesundheitswesen und das Defizit an Toleranz Andersdenkenden, das für sie überwindbare Schönheitsfehler waren. Männern und Frauen dieser und der noch älteren Generationen hat das DDR-System bestimmte bis heute prägende Wertvorstellungen vermittelt. Zu deren positiven Seiten gehört, daß sie sich für ihr Gemeinwesen wie für ihren Betrieb und ihre Familie mitverantwortlich fühlen und sich “einbringen”, “mitwirken”, “gesellschaftlich tätig” sein wollen. Ihr Staatsverständnis unterscheidet sich auch wesentlich von dem Bundesdeutscher. Der Staat ist für sie das Gemeinwesen, nicht in erster Linie die steuergeldverwaltende Bürokratie. Er umfaßt für sie alle drei Gewalten bis hinunter zu den örtlichen Schlichtungsausschüssen. Daraus leiten sich andersartige Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, politischer Mitwirkung und Rechtmäßigkeit von politischen Entscheidungen ab. Die negative Seite dieser Prägung besteht in der Überbewertung von Disziplin und hierarchisch strukturierter Organisation, sowie das Mißtrauen gegen jedes spontane, anarchistische oder basisdemokratische Handeln. Diese Haltung begünstigte und begünstigt Unsicherheit, Angepaßtheit und Feigheit; es verhindert oft unabhängiges Denken und konsequentes Handeln entsprechend den eigenen Prinzipien.
Frau Thiedemanns Aufzeichnungen beginnen im Vorwende-August 1989 und führen im ersten Abschnitt die eigentliche Wendezeit hindurch bis Ende 1989; im zweiten Teil behandeln sie die Zeit der Zerstörung und Selbstzerstörung der spontan entstandenen DDR-Demokratie und die Übernahme des Landes durch die dominanten neoliberalen und konservativen Kräfte der Bundesrepublik zunächst bis zur Währungsunion; im dritten Teil geht es um die Vorgänge im persönlichen und öffentlichen Leben der Autorin bis zur in Form des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik vollzogenen Einheit Deutschlands.
Elviera Thiedemann ist aber nicht nur Repräsentantin ihrer sozialen Gruppe. Sie ist eine vitale Frau und eine komplexe und widersprüchliche Persönlichkeit. Sie liebt die Menschen und unterhält vielfältige Beziehungen zu unterschiedlichen Persönlichkeiten. Trotz wachsender Entfremdung bleibt ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann, mit dem sie in Scheidung lebt, kulturvoll. Sie erhält sich trotz politischer Meinungsverschiedenheiten die Liebe ihrer Kinder. Ihr Liebesverhältnis zu einem verheirateten Mann bereichert beide Partner, ohne vereinnahmend oder zerstörerisch zu sein.
Ihr Tagebuch weist sie als eine begabte Schriftstellerin aus, die den Wandel in ihrem Denken und Fühlen, der sich auch in ihrer Sprache abbildet, plausibel machen kann. Sie bleibt auch den politischen Gegnern gegenüber sachlich und fair. Auch ihren Ehemann Henry und ihren Vater verunglimpft sie nicht, obwohl sie sich von deren Haltungen distanziert.
Ihr Vater war “viele Jahre als Volkspolizist, im letzten Jahrzehnt als Mitarbeiter einer SED-Kreisleitung tätig; er hat sein Leben lang die kommunistischen humanistischen Ideale im Wortsinn gelebt, bescheiden, wenn auch mit einer ‘revolutionären Sturheit’” (22). Sie berichtet, daß sie mit ihm “als Studentin so gut diskutieren konnte”, daß sie von ihm “so vieles gelernt habe” (ebd.). Ihre Kritik, ihr Zorn, ihre Empörung gelten menschenfeindlichen Institutionen, Strukturen, politischem Handeln.
Ihr Mann, so  verschweigt sie nicht, entfremdet sich durch mangelnde Toleranz von ihr und den Kindern mehr und mehr. Für ihn blieb blindes Vertrauen Richtlinie all seines Denkens und Handelns. Das “mache es ihm heute besonders schwer, und unser beider Leben driftet weiter auseinander”, schreibt sie am 8. November 1989.
Über ihre eigene Haltung sagt sie, daß “mein eigener Widerspruchsgeist von selbst aus der Verschüttung aufstand, trotz Vertrauens in unsere Führung” (ebd.).
Im Verlauf der Aufzeichnungen wächst ihre Kritikfähigkeit gegenüber den von ihr vorher nicht wahrgenommenen Defiziten des DDR-Systems. Sie beteiligt sich an Reformvorschlägen für das Bildungswesen und im Rahmen der Frauenorganisation DFD, deren Ortsvorsitzende sie 16 Jahre lang war. Ihre Kritik macht aber auch vor dem neuen System nicht Halt. Sie kann nicht billigen, daß die neuen SchulreformerInnen Ernst Thälmann aus den Lehrplänen streichen. “Die Bedeutung seiner Persönlichkeit ist sicherlich hochgespielt worden, doch muß man nicht, bei historischer Gesamtsicht, jede Richtung, die Geschichte geschrieben hat, gelten lassen?” (63)
Vorbehalte äußert Elviera Thiedemann auch zu sehr frühem Zeitpunkt gegen die Art, in der DDR-BürgerInnen über den Tisch gezogen werden. Sie wendet sich gegen die beginnende Enteignung von DDR-BürgerInnen auf der Grundlage der Regelung “Rückgabe vor Entschädigung”. Auch die sich anbahnende Entwicklung der rechtsradikalen Szene beunruhigt sie. So erschüttern sie die “aufgeputschten Menschenmassen vor dem Palast der Republik, die noch vor der Vereinigung das DDR-Emblem herausreißen“ (77).
Sie liest sehr viel – Zeitungen, Zeitschriften, Bücher. Mit der Lektüre von Walter Jankas “Schwierigkeiten mit der Wahrheit” beschleunigt sich ihre Abkehr von unkritischer DDR-Loyalität. Ihr Urteil über Äußerungen von prominenten Persönlichkeiten ist ausgewogen und unabhängig davon, ob sie mit diesen Personen sonst politisch sympathisiert. Wenn die Bürgerrechtsbewegung “Demokratie Jetzt” betont, daß sich die beiden deutschen Staaten “aufeinanderzu reformieren” müßten, damit nicht ein “Berg von sozialen und persönlichen Problemen” auf die Menschen zukomme, die diese nicht bewältigen können, so findet das ihren Beifall. Sie stimmt der Anfang 1990 von Frau Wollenberger (später Lengsfeld), damals Sprecherin der DDR-Grünen heute in der CDU zu, vorgebrachten Forderung zu, eine “KSZE-Konferenz vor der Vereinigung mit dem Ziel der Auflösung der Militärblöcke” (106) einzuberufen. Als es zur Vereinigung kommt, schreibt sie: “Es ist nicht schlimm, daß die Einigung vollzogen wird, sondern wie sich alles vollzieht und verkraftet werden muß” (175f). Aus der PDS will sie austreten (und tut es Ende 1991), weil sie politischen Kungeleien zwischen PDS und CDU in ihrem Kreis nicht mittragen will. Das hindert sie aber nicht daran, diese Partei weiter gegen unsachliche Hetze zu verteidigen. Als alle übrigen politischen Parteien und Organisationen die PDS verteufeln, erklärt sie: “Ende vergangenen Jahres war noch überall lautstark die Achtung der Meinung Andersdenkender gefordert worden. Jetzt, nachdem sie Regierungspolitik wurde, schert sich kein Mensch mehr um die nunmehr Andersdenkenden” (140).
Die bedeutsamen historischen Ereignisse am Ende unseres Jahrhunderts erleben die LeserInnen des Tagebuchs der Wendezeit als Teil der persönlichen Freuden und Leiden einer politisch engagierten und kenntnisreichen Zeitzeugin aus der osterzgebirgischen Provinz.
Man wünschte sich weitere, möglichst ebenso gut geschriebene und ehrliche Berichte, vielleicht aus einem anderen sozialen und regionalen Umfeld, um das Bild der historischen Wende aus dem Blickwinkel von “NormalbürgerInnen” zu ergänzen und erweitern.
 

 

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