Zum Buch
Tagebuchaufzeichnungen sind authentische Zeitdokumente,
die das politische Geschehen aus der subjektiven Sicht des Autors/der Autorin
spiegeln und in der Regel mehr über dessen/deren Befindlichkeit enthüllen als
daß sie Geschichtsrelevantes vermitteln. Im vorliegenden Fall jedoch ist die
Autorin, nach Meinung des Herausgebers der Reihe, Fritz Vilmar, eine Angehörige
der “aktiv und kritisch Gestaltenden im Millionenheer der ‘normalen’ DDR-Bürger”
(8), die in ihrem Tagebuch die “Alltagssicht des Normalbürgers” über die
Wendezeit vermittelt. Elviera Thiedemann selbst präzisiert die soziale Gruppe,
die sie repräsentiert, als eine starke Gruppe innerhalb der keineswegs homogenen
Mehrheit der DDR-BürgerInnen: “Ich bin ein Kind dieser DDR, ein behütetes und
ein bevormundetes, habe selbst vier Kinder zu lebenstüchtigen, optimistischen
Menschen erzogen und mehr als zwanzig Jahre als Pädagogin gearbeitet. Ich
versuchte, in Funktionen unterster Leitungsebene eigene Ideen umzusetzen und
kapitulierte – ohne energisch rebelliert zu haben –aus Einsicht in nicht
abzuschätzende Notwendigkeiten. Ich habe dieses mein verschwundenes Land geliebt
und manchmal gehaßt und meine ganze Kraft, meine Leidenschaft und meinen
Optimismus auf die Verwirklichung einer humanistischen Gesellschaft
konzentriert, So diente ich im doppelten Sinne: im eigenen Bewußtsein einer
großen Idee, im Bewußtsein anderer der ‘Macht’” (11).
Elviera Thiedemann gehört zu den DDR-BürgerInnen
der zur Zeit der Wende mittleren Generation, die oft aus sozialistisch
oder kommunistisch orientierten Familien stammend, in denen das NS-Regime
abgelehnt, wenn nicht sogar bekämpft wurde, in der Tradition grundsätzlicher
Akzeptanz des Staatswesens und des politischen Systems der DDR erzogen
worden sind. Während die Kinder dieser BürgerInnen seit dem Prager
Frühling 1968 immer systemkritischer und rebellischer wurden, dauerte
dieser Prozeß bei der Elterngeneration, die in der DDR höhere
Schulen besuchen konnten, nach deren Abschluß sie automatisch in
eine sichere Arbeitsstelle vermittelt wurden, naturgemäß wesentlich
länger, oft bis nach der Wende. Bei manchen fand die Abnabelung von
dem gescheiterten Modell alternativer Gesellschaft niemals statt. Besonders
die Frauen dieser Schicht und Generation waren überzeugt davon, daß
die DDR-Führung ihnen mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit
durch Vollbeschäftigung die Emanzipation ermöglicht habe; sie
waren weniger geneigt prinzipielle Systemkritik zu üben als die nachfolgenden
Generationen, und sahen allenfalls die Mängel in der Versorgung, im
Bildungs- oder Gesundheitswesen und das Defizit an Toleranz Andersdenkenden,
das für sie überwindbare Schönheitsfehler waren. Männern
und Frauen dieser und der noch älteren Generationen hat das DDR-System
bestimmte bis heute prägende Wertvorstellungen vermittelt. Zu deren
positiven Seiten gehört, daß sie sich für ihr Gemeinwesen
wie für ihren Betrieb und ihre Familie mitverantwortlich fühlen
und sich “einbringen”, “mitwirken”, “gesellschaftlich tätig” sein
wollen. Ihr Staatsverständnis unterscheidet sich auch wesentlich von
dem Bundesdeutscher. Der Staat ist für sie das Gemeinwesen, nicht
in erster Linie die steuergeldverwaltende Bürokratie. Er umfaßt
für sie alle drei Gewalten bis hinunter zu den örtlichen Schlichtungsausschüssen.
Daraus leiten sich andersartige Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit,
politischer Mitwirkung und Rechtmäßigkeit von politischen Entscheidungen
ab. Die negative Seite dieser Prägung besteht in der Überbewertung
von Disziplin und hierarchisch strukturierter Organisation, sowie das Mißtrauen
gegen jedes spontane, anarchistische oder basisdemokratische Handeln. Diese
Haltung begünstigte und begünstigt Unsicherheit, Angepaßtheit
und Feigheit; es verhindert oft unabhängiges Denken und konsequentes
Handeln entsprechend den eigenen Prinzipien.
Frau Thiedemanns Aufzeichnungen beginnen im Vorwende-August
1989 und führen im ersten Abschnitt die eigentliche Wendezeit hindurch
bis Ende 1989; im zweiten Teil behandeln sie die Zeit der Zerstörung
und Selbstzerstörung der spontan entstandenen DDR-Demokratie und die
Übernahme des Landes durch die dominanten neoliberalen und konservativen
Kräfte der Bundesrepublik zunächst bis zur Währungsunion;
im dritten Teil geht es um die Vorgänge im persönlichen und öffentlichen
Leben der Autorin bis zur in Form des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik
vollzogenen Einheit Deutschlands.
Elviera Thiedemann ist aber nicht nur Repräsentantin
ihrer sozialen Gruppe. Sie ist eine vitale Frau und eine komplexe und widersprüchliche
Persönlichkeit. Sie liebt die Menschen und unterhält vielfältige
Beziehungen zu unterschiedlichen Persönlichkeiten. Trotz wachsender
Entfremdung bleibt ihr Verhältnis zu ihrem Ehemann, mit dem sie in
Scheidung lebt, kulturvoll. Sie erhält sich trotz politischer Meinungsverschiedenheiten
die Liebe ihrer Kinder. Ihr Liebesverhältnis zu einem verheirateten
Mann bereichert beide Partner, ohne vereinnahmend oder zerstörerisch
zu sein.
Ihr Tagebuch weist sie als eine begabte Schriftstellerin
aus, die den Wandel in ihrem Denken und Fühlen, der sich auch in ihrer
Sprache abbildet, plausibel machen kann. Sie bleibt auch den politischen
Gegnern gegenüber sachlich und fair. Auch ihren Ehemann Henry und
ihren Vater verunglimpft sie nicht, obwohl sie sich von deren Haltungen
distanziert.
Ihr Vater war “viele Jahre als Volkspolizist,
im letzten Jahrzehnt als Mitarbeiter einer SED-Kreisleitung tätig;
er hat sein Leben lang die kommunistischen humanistischen Ideale im Wortsinn
gelebt, bescheiden, wenn auch mit einer ‘revolutionären Sturheit’”
(22). Sie berichtet, daß sie mit ihm “als Studentin so gut diskutieren
konnte”, daß sie von ihm “so vieles gelernt habe” (ebd.). Ihre Kritik,
ihr Zorn, ihre Empörung gelten menschenfeindlichen Institutionen,
Strukturen, politischem Handeln.
Ihr Mann, so verschweigt sie nicht, entfremdet
sich durch mangelnde Toleranz von ihr und den Kindern mehr und mehr. Für
ihn blieb blindes Vertrauen Richtlinie all seines Denkens und Handelns.
Das “mache es ihm heute besonders schwer, und unser beider Leben driftet
weiter auseinander”, schreibt sie am 8. November 1989.
Über ihre eigene Haltung sagt sie, daß
“mein eigener Widerspruchsgeist von selbst aus der Verschüttung aufstand,
trotz Vertrauens in unsere Führung” (ebd.).
Im Verlauf der Aufzeichnungen wächst ihre
Kritikfähigkeit gegenüber den von ihr vorher nicht wahrgenommenen
Defiziten des DDR-Systems. Sie beteiligt sich an Reformvorschlägen
für das Bildungswesen und im Rahmen der Frauenorganisation DFD, deren
Ortsvorsitzende sie 16 Jahre lang war. Ihre Kritik macht aber auch vor
dem neuen System nicht Halt. Sie kann nicht billigen, daß die neuen
SchulreformerInnen Ernst Thälmann aus den Lehrplänen streichen.
“Die Bedeutung seiner Persönlichkeit ist sicherlich hochgespielt worden,
doch muß man nicht, bei historischer Gesamtsicht, jede Richtung,
die Geschichte geschrieben hat, gelten lassen?” (63)
Vorbehalte äußert Elviera Thiedemann
auch zu sehr frühem Zeitpunkt gegen die Art, in der DDR-BürgerInnen
über den Tisch gezogen werden. Sie wendet sich gegen die beginnende
Enteignung von DDR-BürgerInnen auf der Grundlage der Regelung “Rückgabe
vor Entschädigung”. Auch die sich anbahnende Entwicklung der rechtsradikalen
Szene beunruhigt sie. So erschüttern sie die “aufgeputschten Menschenmassen
vor dem Palast der Republik, die noch vor der Vereinigung das DDR-Emblem
herausreißen“ (77).
Sie liest sehr viel – Zeitungen, Zeitschriften,
Bücher. Mit der Lektüre von Walter Jankas “Schwierigkeiten mit
der Wahrheit” beschleunigt sich ihre Abkehr von unkritischer DDR-Loyalität.
Ihr Urteil über Äußerungen von prominenten Persönlichkeiten
ist ausgewogen und unabhängig davon, ob sie mit diesen Personen sonst
politisch sympathisiert. Wenn die Bürgerrechtsbewegung “Demokratie
Jetzt” betont, daß sich die beiden deutschen Staaten “aufeinanderzu
reformieren” müßten, damit nicht ein “Berg von sozialen und
persönlichen Problemen” auf die Menschen zukomme, die diese nicht
bewältigen können, so findet das ihren Beifall. Sie stimmt der
Anfang 1990 von Frau Wollenberger (später Lengsfeld), damals Sprecherin
der DDR-Grünen heute in der CDU zu, vorgebrachten Forderung zu, eine
“KSZE-Konferenz vor der Vereinigung mit dem Ziel der Auflösung der
Militärblöcke” (106) einzuberufen. Als es zur Vereinigung kommt,
schreibt sie: “Es ist nicht schlimm, daß die Einigung vollzogen wird,
sondern wie sich alles vollzieht und verkraftet werden muß” (175f).
Aus der PDS will sie austreten (und tut es Ende 1991), weil sie politischen
Kungeleien zwischen PDS und CDU in ihrem Kreis nicht mittragen will. Das
hindert sie aber nicht daran, diese Partei weiter gegen unsachliche Hetze
zu verteidigen. Als alle übrigen politischen Parteien und Organisationen
die PDS verteufeln, erklärt sie: “Ende vergangenen Jahres war noch
überall lautstark die Achtung der Meinung Andersdenkender gefordert
worden. Jetzt, nachdem sie Regierungspolitik wurde, schert sich kein Mensch
mehr um die nunmehr Andersdenkenden” (140).
Die bedeutsamen historischen Ereignisse am Ende
unseres Jahrhunderts erleben die LeserInnen des Tagebuchs der Wendezeit
als Teil der persönlichen Freuden und Leiden einer politisch engagierten
und kenntnisreichen Zeitzeugin aus der osterzgebirgischen Provinz.
Man wünschte sich weitere, möglichst
ebenso gut geschriebene und ehrliche Berichte, vielleicht aus einem anderen
sozialen und regionalen Umfeld, um das Bild der historischen Wende aus
dem Blickwinkel von “NormalbürgerInnen” zu ergänzen und erweitern.
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