Rainer Thiel

 

Neugier - Liebe - Revolution. Mein Leben 1930-2020

 

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Besprechung in: Barnimer Bürgerpost, Nr. 248, 21. Jg., Ausgabe 9/2015, S. 14

Meinung von Gunnar Vogel am 13.09.2015

2020, [= Autobiographien, Band 49], 436 S., ISBN 978-3-86465-143-4, 24,80 EUR

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Inhaltsverzeichnis

Zur Welt gekommen                                      9

Erste Kindheit. Paradies und Neugier           10

Zweite Kindheit. Vom Paradies ins Stadtzentrum. Beim Management helfen    22

Dritte Kindheit. Ins Böse verstrickt              30

Das große Feuer                                       40

Von heißer Asche zu kalter Asche                44

Leise beginnt neues Leben                        49

Lehrling – Zeitungsleser – Gymnasiast        50

Steinbruch-Arbeiter im Talsperrenbau          70

Was wird nun mit dem Studium?                 81

Studium an zwei Fakultäten                        82

Gehöre ich zur Arbeiterklasse?                     84

Philosophie und trotzdem Mathematik? Ja, gerade deshalb     90

Als Agent entlarvt und rausgeschmissen       95

Ab nach Pommern in die Taiga                  104

Erneut zum Studium – nach Berlin             113

Erste Auslandsreise                                124

Dozent im gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium. Visiten in der Produktion und im Westen   126

K a t r i n                                              134

Bedürfnis, den ganzen Marx zu achten      143

Hauptberuflich forschend wirken dürfen!   147

Die Mauer in Berlin                               159

Georg Klaus und mein Verhältnis zu ihm      168

Beim Aufbau empirischer Sozialforschung     175

1967 – mein Buch „Quantität oder Begriff?“    180

Schon wieder rausgeschmissen. Hinein ins Ministerium     184

Nochmal Kybernetik anschieben                191

Im Hause des Ministerrats                         197

Katrin, Rainer und drei Kinder                   202

Urlaub mit der Familie                               209

Die Kinder und die Baukästen                   216

1975: Fertig ist mein Buch „Mathematik – Sprache – Dialektik“         221

Katrin hat mich ausgehalten                      228

Bildungsforschung – Institut steht Kopf, ich fliege raus     230

Intermezzo der Verlegenheit                     236

Das revolutionäre Projekt „Erfinderschulen“ – gemeinsam mit Verdienten Erfindern          238

Honeckers Konterrevolution vor der Vollendung              253

Erfinderschulen nach der Wende?                                 264

Widerspruchsorientierte Innovationsstrategie                269

Jenseits oder diesseits der Familie? Beides zugleich! Doch die Familie hat gelitten    273

Die Stasi und meine Wenigkeit                282

Die PDS und ich als treue Seele               286

Endlich in Ruhe forschen können              293

Studien und Erlebnisse: Mein Buch „Marx und Moritz – Unbekannter Marx – Quer zum Ismus“ (1998)    296

Katrins letzte Reise (1998)                    307
Mein Buch „Die Allmählichkeit der Revolution – Blick in sieben Wissenschaften“ (2000)      314

Sabine                                               318

Als Gast beim Schülerstreik                   321

Das vergessene Volk – mein Praktikum in Landespolitik. Aktion als Tiefenbohrung            326

106.000 Unterschriften für Recht und Rechtsstaat und wie sie verschwunden sind             340

Christina                                           349

Bei Professoren im Karl-Liebknecht-Haus          352

Wie ich Montags-Demonstrant wurde     354

Wie ich Montagsdemonstrant blieb        361

Ich nähere mich Attac                          377

„Allmähliche Revolution“ – immer noch Tabu der Linken?       382

Entwicklung denken. Dialektik lehrbar machen   387

Ein Kriminalfall: Justiz gegen Rechtsstaat?      394

UMOD                                               398

Wie lange noch die Angst um Arbeitsplätze? Wir wollen frei von Angst sein!           410

Wie kam ich dazu, gesamtgesellschaftlich zu denken? Kleine und große Familie      413

Auch nach 2015 ging mein Leben weiter          416

Munitionszerlegung am Rande meines Dörfleins                 420

Ein Buch von mir zum Aufstehen                   424

Gute Freunde wollen meinen 90. Geburtstag begehen: RT90. Ohne Alkohol, doch kreativ          431

Meine Familie mit den ersten zwei Ur-Enkeln                    431

Bildnachweis 436

 

Über den Autor

 

Nach neun Jahrzehnten Leben zieht Rainer Thiel Bilanz. Als promovierter Philosoph und Mathematiker lernte er gesamtgesellschaftlich zu denken und steht zu seiner sozialistischen Überzeugung, obwohl er wiederholt seinen Ärger mit Leuten hatte, die das System verwalteten. Die einen machten ihn zum Agenten, andere verweigerten ihm grundlos die Zusammenarbeit. »So blieb ich ausgeschlossen aus den Instituten für Philosophie und Wissenschaftstheorie. Aber es ist gut so gewesen«, sagt er am Ende.

Thiel sieht die Welt dialektisch, also nicht nur kritisch, sondern auch als gestaltbar an. Der Weg des geringsten Widerstan­des war seine Sache nie. Ein freundlicher Revolutionär, der die Welt noch immer verändern will. »Meine Eltern waren freundlich zu anderen Menschen. Auch ich bin meistens freundlich, zu Kollegen, zu den Leuten in meinem Dorf, in meinem Städtchen.

Und Freundlichkeit wird meist erwidert, so dass ich mir auch wagen kann zu sagen: Wir müssten mal wieder auf die Straße gehen! Mit Genossen von der Linkspartei komme ich gar nicht bis zu diesem Punkt. Sie schauen schon zuvor auf ihre Uhr und rufen: Ich muss schnell nach Hause, meine Frau wartet mit der Mahlzeit.«

Heute ist Rainer Thiel bei ATTAC und weiteren Netzwerken aktiv Netzen.

 

 

Leseprobe

 

Wie ich Montags-Demonstrant wurde

Mit Friedensdemonstrationen gegen den drohenden Überfall der USA auf den Irak begann es. In der Silvesternacht 2002 brachte ich eine mail auf den Weg: Wir müssten etwas unternehmen. Zunächst blieb Antwort aus. Aber ich fahre jede Woche 25 Kilometer nach Fürstenwalde und lade auch junge Leute aus meinem Dorf zum Mitfahren ein. Schnell verschwinden sie im Kaufhaus, um zu gucken. PDS war wenig erschienen, sie wollten auch zum Werk von Marx den Zirkel nicht, den ich ihnen anbot. Doch junge Leute vom Dom-Chor waren lebhaft. Sie hielten Text-Blätter zum Mitsingen bereit, die Texter sind vielen Linken bekannt. Eine Frau mittleren Alters schlug die Gitarre, im Winter bei minus zehn Grad. Gern hörte ich auch den linksliberalen Bürgermeister und den pensionierten Superintendenten der evangelischen Kirche. Zwei Jahre später begegnen wir uns auch auf der Montags-Demo in Fürstenwalde, es geht nun gegen Hartz IV. Schließlich kam es zu einem persönlichen Gespräch, in dem einer dem anderen seinen Lebenslauf erzählte. Am Ende sagt der Superintendent: Wir beide sollten öffentlich berichten „Wie ich es lernte, gesamtgesellschaftlich zu denken.“ Da brauchte ich nur noch zu sagen: „Sie sind so herum und ich bin so herum dazu gekommen.“

Seit Januar 2004 fuhr ich jeden Montag 35 Kilometer nach Königs Wusterhausen zum Treffen mit Freidenkern. Sie kannten mich durch mein Buch „Marx und Moritz – Unbekannter Marx – Quer zum Ismus“. Nun lag Schröders Agenda 2010 in der Luft, wir grübelten, wie wir vor der Katastrophe warnen könnten. Funktionsträger der PDS zeigten kein Interesse, nur zwei Aufrechte aus der Peripherie. Im August begreifen Arbeitslose, was ihnen mit Schröders Agenda 2010 droht. Nun strömen sie zusammen, überall im Lande. Sechzig Inspiratoren der Montagsdemos von 1989 grüßen uns als ihre Erben, sie selber entstammen zumeist der Kirche von unten, dem Neuen Forum und der Splittergruppe „Vereinigte Linke“.

Meinen Redetext vom 23. August in Königs Wusterhausen habe ich wiedergefunden: „Mindestlohn für alle ist die jüngste Kuh, die jetzt durchs Dorf getrieben wird. Steckt nicht ein Trick dahinter, Herr Müntefering? Wie hoch wollen Sie denn den Mindestlohn festlegen, wenn sieben Millionen Menschen arbeitslos sind? Da wird der Kanzler sagen: Ganz ganz niedrig muss er sein, sonst gibt es noch mehr Arbeitslose. Ganz niedrig. Und Ihr, liebe Kolleginnen und Kollegen, seid entwaffnet, wenn Ihr nicht schnell weiterdenkt. Herr Müntefering will Euch ruhig stellen. Zwei ganz kleine Fragen: Was war in der vergangnen Woche die größte Unverschämtheit?

Der Bundeskanzler sagte, wenn ALG II–Empfänger außer ihren 341 Euro mehr als einen Euro pro Stunde Arbeit haben wollen, dann sei das unbescheiden. Die ALG II-Empfänger – meint der Kanzler – sollten doch an ihre jobbenden Kollegen denken, die müssten für die Arbeitslosen aufkommen. Gibt es nicht drei Gründe, den Bundeskanzler unverschämt zu finden?

Erste Frage: Was wird denn, wenn ein arbeitender Arbeitsloser noch billiger ist als seine Kollegen mit Arbeitsvertrag? Dann werden die Kollegen mit Arbeitsvertrag auch noch zu Arbeitslosen gemacht. Da wird es noch billiger. Und wenn das Schule macht, dann gibt es immer mehr Leute mit ALG II. Also ist Hartz IV eine Maschine, um die Arbeitslosigkeit zu vergrößern. Eine Job-Vernichtungs-Maschine. Wollen sich das die Kollegen gefallen lassen, die jetzt noch ihren Job haben? Doch was können sie der Job-Vernichtungs-Maschine entgegensetzen? Ihre Forderung: 30 Stunden für alle! Meinetwegen 35 für alle als Anfang. Dann ist auch Hartz vom Tisch. Und die Mitarbeiter der Arbeitsämter können sich sinnvoller Tätigkeit hingeben, ohne mitschuldig zu werden.

Zweite Frage: Der Kanzler meint, die größten Manager seien die „Leistungsträger“. Deshalb will er ihnen Steuern erlassen. Also frage ich: Was leisten denn die sog. Leistungsträger, wenn sie keine Arbeitsplätze schaffen?

Dritte Frage: Der Kanzler will uns weismachen, Wirtschaftswachstum brächte Arbeitsplätze. Wieso denn? Wir hatten Wirtschaftswachstum, wir haben Exportwachstum, und trotzdem stieg die Zahl der Arbeitslosen. Das weiß doch jeder Zeitungsleser: Wirtschaft muss immer rationalisieren, und das heißt ,Arbeitsplätze einsparen´. Das kann man dem einzelnen Unternehmer gar nicht mal verübeln.

Wenn aber der Bundeskanzler sagen würde: Wir nehmen Hartz hinweg und fangen an mit Politik, um die 30-Stunden-Woche für alle durchzusetzen, dann wäre ich bereit, auch den Bundeskanzler in meine Arme zu schließen. Dann würde der Kanzler statt in die Hölle in den Himmel kommen. Dann würde er in die Geschichte eingehen als „Schröder der Grosse“.

Und sollte manch ein Arbeitnehmer fürchten, er könnte bei 30 oder 35 Stunden einige Euro weniger verdienen, würde ich ihm sagen: Die Differenz kann ausgeglichen werden. Bei der Bundes-Arbeits-Agentur würden etwa 50 Milliarden frei verfügbar, denn die bisher Arbeitslosen arbeiten jetzt auch 30 Stunden, für regulären Lohn. Und von den 50 Milliarden kannst Du, Kollege, der jetzt 40 Stunden jobbt, etwas abkriegen. Wenn Dir dann immer noch eine Differenz bleiben sollte: Rund hundert Milliarden könnten in die öffentlichen Kassen fließen durch Vermögenssteuer, Börsenumsatz-Steuer, Spekulationssteuer, Tobinsteuer sowie durch Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung. Damit könnte auch noch der Rest Deiner Differenz ausgeglichen werden. Und es bliebe genug, um die Niedriglöhne anzuheben. Allein die Steuerhinterziehung durch Konzerne kostet uns allen 50 Milliarden, wie Experten schätzen. Allein diese 50 Milliarden könnten allen, die von Lohn oder Gehalt abhängig sind, zugute kommen. Doch was macht der Bundeskanzler? Statt mehr Steuerkontrolleure einzusetzen, will er Leute zum Schnüffeln einsetzen, zum Schnüffeln, wie das auch Dieter Hildebrandt nennt: Die Ersparnisse der ALG II-Empfänger sollen erschnüffelt werden. Der Bundeskanzler muss also umkehren: Hartz IV – hinweg damit!

Das war meine Rede am 23. August 2004 in Königs Wusterhausen. Mit geschriebenem Text hatte ich mich vorbereitet, um nicht ins Schwafeln zu geraten. Leider war und blieb ich der einzige, der nicht nur gesagt hat, „Hartz muss weg“, ich habe auch gesagt, wie das geschehen kann. Die PDS hat nur hervorgebracht: „Hartz ist Armut per Gesetz“. Da mussten die noch Erwerbstätigen denken: Hüten wir uns also vor Hartz-IV, rackern wir, so lange wir noch dürfen. Und den schon Betroffenen war auch nicht geholfen, weil ihnen die PDS verschwieg, wie Hartz IV zu überwinden ist. Im Sommer 2006 war eine Versammlung der übrig gebliebenen Montagsdemonstranten des Städtchens Erkner, am Rande von Berlin. Zwei LandtagsabgeordnetInnen waren zugegen. Die wussten nicht weiter. Das war die Empfehlung zum Aufhören. Als ich vorschlug, was getan werden könnte, wurde ich von einem PDS-Mann beschimpft.

Doch im August 2004 – kurz vor den Landtagswahlen – nutzte auch die PDS die Foren auf den Marktplätzen. Da unterstützte sie uns mit Mikro und Lautsprecher und zeigte an, dass sie mit einem Dutzend Mitgliedern präsent ist, einem Dutzend von tausend Mitgliedern, die hier am Rande der Hauptstadt Berlin wohnen. Nach der Landtagswahl verkündete eine Landtags-
­abgeordnete, man habe im Landtag eine Initiative im Bundesrat gegen Hartz IV gefordert, doch die Forderung sei abgewiesen worden. Die Partei hatte ihr Gewissen beruhigt.

Eine zeitlang rochierte ich am Montag Abend mit Auto von Königs Wusterhausen nach Fürstenwalde, um auch dort eine Rede zu halten. Wenn ich sage, wir brauchen eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung, damit Plätze frei werden für gute Arbeit statt Hartz IV, gibt es in beiden Städten Beifall. Manchmal fragt man mich auch, warum ich zur Demo komme, man sieht mir ja an, dass ich über die Siebzig bin. Ich sage dann immer: Dass ich komme, bin ich euren Eltern schuldig, sie hatten mir ein langes Studium ermöglicht.

Doch die Zahl der Demo-Teilnehmer geht zurück, auch die Zahl der Redner am offnen Mikrofon. Wen wir auch ermuntern – man ängstigt sich, man wäre nicht mehr anonym gewesen. Gerade erst hatte die PDS die Volksinitiative gegen das Schulbus-Geld niedergeschlagen, da hatten in Brandenburg 106 000 Bürger den Mut zum Unterschreiben gehabt, samt Angabe der Wohnadresse. Nun war der Mut zum Aufrechten Gang gedämpft. Nun droht auch das Feuer vom August 04 zu verglimmen.

Das Feuer brauchte ein neues Scheit. Sogar dreierlei Scheite hätten es sein können: Nicht nur über Hartz IV klagen, sondern Erwerbslosigkeit überwinden! Gute, reguläre Arbeitsplätze durch allgemeine Arbeitszeitverkürzung! Das würde auch den Druck von den noch Jobbenden nehmen, noch mehr, noch länger, noch heftiger zu rackern, um den Arbeitsplatz zu halten. Mehrarbeit auch ohne Bezahlung – verrückte Idee der Arbeitsplatz-Besitzer: Sie schaffen nur noch mehr Erwerbslosigkeit, sie erhöhen den Druck auf sich selber. Mich erinnert das an Selbstmord: Suicid aus Unvermögen, sich als Klasse der Lohnabhängigen zu denken. Darüber hätte sich der harte Kern der Montagsdemonstranten verständigen müssen: Was fordern wir von der PDS, damit sie allen Bürgern bei der Orientierung hilft?

Das zweite Scheit wäre: Hartz IV mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit anzugreifen. Als Freund des Grundgesetzes hatte ich gefunden, dass Hartz IV in zehn Punkten dem Grundgesetz widerspricht. Darin wurde ich gestärkt durch einen Rechtsanwalt, der im Auftrag der PDS ein Gutachten gefertigt hatte. Darauf war ich nicht durch die PDS gestoßen, sondern durch ein link im Internet. Die Partei schwieg auch mit Rechtsgutachten.

Nach Wochen gelang es mir, in Königs Wusterhausen den harten Kern der Demonstranden eine Stunde lang zum Anhören zu bewegen. Ein PDS-Genosse – mein Jahrgang – war dabei. In Fürstenwalde gelang es überhaupt nicht. Überall gibt es Platzhirsche, die es nicht mögen, wenn andere ein Stückchen weiter denken.

Das Dritte, was noch übrig blieb, war: Örtliche Sympathisanten zu gewinnen zum öffentlichen Auftreten, auch wenn es im Saal des Rathauses ist: Hundert Leute im Parkett, zehn Parlamentarier auf dem Podium. Ein Bundestagsabgeordneter der SPD spricht zehn Minuten vom Podium aus für Hartz IV. Ich konnte mit Saal-Mikro sprechen und hatte drei Minuten. Das reichte aber, dass Beifall gespendet wurde, sodass zum Schluss der SPD-Mann zu mir kam: Wir sollten zusammen ein Bier trinken. Aha, dachte ich, dem öffentlichen Streit weichst du aus. Warte, warte noch ein Weilchen: „Viel ist schon gewonnen, wenn nur einer aufsteht und Nein sagt“ (Bertolt Brecht) Als drei Monate später eine Demo von Hartz-Betroffenen bevorstand, in Jüterbog, hoffte ich, vor hunderten Teilnehmern, die wir erwarteten, den Bundestagsmann zur Rede zu stellen. Er war bereit zu kommen, Bundestagswahl stand vor der Tür. Doch die PDS wollte keinen Streit mit dem SPD-Mann, schon gar nicht öffentlich. So unterblieb der Streit vor den achthundert Teilnehmern, die zum Tribunal bereit standen auf dem Markplatz von Jüterbog. Das Tribunal wäre ein Event gewesen, worüber die Medien berichtet hätten.

Ähnlich in Fürstenwalde. Meine Mitstreiter baten am 1. Mai den Kreisvorsitzenden der PDS, von der Tribüne seiner Partei sprechen zu dürfen. Das durften sie nicht. Sie durften sich nur daneben stellen.

Christina nahm an den meisten meiner Termine in Königs Wusterhausen und in Fürstenwalde teil. Beide Städte konnte sie mit der Bahn aus Berlin erreichen, und dann stand ja mein Auto zur Verfügung. Fünf Tage vor der Bundestagswahl 2005 besucht Christina eine Veranstaltung der PDS, Titel: „Schlaft schneller, Genossen“. Das war der Titel ihrer Wahlkampfveranstaltung fünf Tage vorm Zettelkasten-Termin. Christina berichtet mir darüber:

„Obwohl meine Wahlentscheidung längst gefallen war, wollte ich an diesem Abend das Gefühl haben, dass sie richtig ist. Rechtzeitig sicherte ich mir ein Plätzchen im Saal mitten zwischen den linken Massen, es mögen einhundert oder zweihundert Genossen gewesen sein. Sie schienen sich alle zu kennen. Und da ich – wie schon oft – auch am Abend zuvor, einem Montag Abend, auf der Anti-Hartz-Demo vorm Rathaus Fürstenwalde war, wo im Durchschnitt 3 Mitglieder der PDS teilnehmen, staune ich, wie viele PDS-Leute in Fürstenwalde zusammen kommen können, wenn der große Vorsitzende aus Berlin zu erwarten ist, er hat in Fürstenwalde sein Wahlkreisbüro. Er kam auch. Doch ich blieb einsam. Niemand war neugierig: ,O, da ist doch eine Sympathisantin, wir schenken ihr einen freundlichen Blick, wir drücken ihr die Hand und sagen ihr willkommen, wir stellen ihr taktvoll eine freundliche Frage.‘ Nein, es schien niemanden zu interessieren, dass außer den Vereinsmitgliedern noch eine Fremde gekommen war. Ich kam mir vor wie jemand, der sich in eine geschlossene Gesellschaft verirrt hat. Die Veranstaltung selber – 5 Tage vor der Wahl – war als Selbstbefriedigung gedacht. Lothar Bisky las aus dem einzigen unpolitischen Buch von Stefan Heym: ,Immer sind die Weiber weg´.“

Als die Wahl vollzogen war, hatte den berühmten Bisky ein kleiner SPD-Mann überflügelt. Für Bisky blieb nur ein Listenplatz. Als der neue Bundestag gewählt war, ließ sich Bisky drängen, als Vizepräsident zu kandidieren. Da schrieb ich ihm – am 28. September 2005 – „bitte lass Gesine Lötzsch den Vortritt. Sie hat jahrelang tapfer gekämpft.... Deine Jahre im Brandenburgischen Landtag sprechen nicht für die PDS. .... Wir Außerparlamentarischen wünschen offensive, energische und konzeptionell geprägte Opposition im Bundestag. .... Gesine kennt sich im Bundestag besser aus....“ Parlaments-Bräuchen zuwider lassen die Parlamentarier den Vorsitzenden einer Partei – Professor Bisky – bei der Wahl zum Vize-Präsi durchfallen, drei Mal hintereinander. Obwohl er so mild und leicht zu handeln ist. Da kandidiert Gesines Genossin Petra Pau. Sie wird im ersten Wahlgang gewählt.

Brandenburg betreffend berichten mir Freunde, eine Landtagsabgeordnete der PDS habe gesagt: „Thiel wolle einen Flächenbrand erzeugen.“ Na und? Wenn Bürger den Aufrechten Gang wagen, gehört sich Solidarität. Und immer wieder neu probieren. Die Würde des Menschen sei unantastbar: Mit freiem Volk auf freiem Grunde stehen!

 

Wie ich Montagsdemonstrant blieb

Im Winter 04/05 gelang es nicht, neue Scheite ins Feuer zu legen, das im Sommer ausgebrochen war wegen Schröders Agenda 2010 mit den berüchtigten Hartz-Gesetzen. Sollte man sich nun als Mini-Häuflein auf den Markt stellen? Würden wir nicht unsre Schwäche demonstrieren? Am ersten Werktag des Jahres 05 trafen sich sechs Unentwegte vorm Arbeitsamt in Königs Wusterhausen. Dutzende Menschen standen Schlange, um eingelassen zu werden. Viele wurden von uns angesprochen. Doch jetzt waren sie auf ihr Almosen fixiert. Außer mir als Rentner hatte niemand versucht zu erklären, dass es eine Alternative zur Erwerbslosigkeit gibt: Allgemeine Arbeitszeitverkürzung.

Wir müssen den Stamm der Montags-Steher zusammenhalten, auch in Fürstenwalde. Dort gab es einen Platzhirsch. Wenn ich kurz vor 18 Uhr vom Parkplatz her um die Ecke zum Marktplatz eile, ruft er fröhlich in sein Megaphon: „Hallo, der Rainer kommt.“ Außer mir spricht noch ein Unermüdlicher: Worte wie aus der Zeitung. Doch reicht auch meine Rede nicht, um eilige Passanten hellhörig zu machen: Passanten kommen aus den Proviant-Läden und wollen schnell nach Hause. Längst leergefegt ist das neue Riesen-Kaufhaus am Markt.

Für meine Rede am 6. Februar 2006 in Fürstenwalde war ich so vorbereitet:

Liebe Freunde, bald kommt das Frühjahr. Also müssen wir wieder mehr werden. Die Zahl der linken Partei-Leute in Berlin und anderswo, die über sich selber reden, diese Zahl ist längst viel größer als die Zahl der Montagsdemonstranten. Beigetragen hat dazu auch Lothar Bisky, der im Oktober 2004 gesagt hat, jetzt wäre genug demonstriert.

Aber wir – wir haben nicht aufgehört zu demonstrieren. Das zeugt von Charakter. Überall in Brandenburg, in Thüringen, in Berlin und Nordrhein-Westfalen gibt es Leute, die nicht aufgehört haben, aufrecht zu gehen und montags auch aufrecht zu stehen. In Dortmund haben neulich 500 demonstriert. Und dann haben sie sich mit Streikenden vor einem Fabriktor vereinigt. In Gotha passierte Folgendes. Ein Journalist kam und sah, dass es im Moment nicht Tausende sind, die sich versammeln. Mancher Journalist hätte vielleicht Häme darüber ausgegossen. Aber was macht der Gothaer Journalist? Er schreibt: Ein paar Dutzend Aufrechte halten durch. Ereignis war für ihn, dass 50 durchgehalten haben. Das war für ihn das große Ereignis. Nun gilt es für uns, auch in Fürstenwalde solche Journalisten zu finden. Wir können auch Leserbriefe selber in die Blätter bringen, um den Journalisten zu helfen. Zum Helfen sind wir – wie sagten wir so schön – „Immer bereit“.

Nun mein Vorschlag. Wenn es uns gelingen würde, Parteistrategen zur Teilnahme an unsren Montagsdemos zu gewinnen, dann könnten wir bald schon drei Mal so viele sein wie heute. Die Strategen kommen ja meist aus der Partei der Arbeiterklasse. Wir selber sind nur arbeitslose Arbeiter oder Rentner, aber ein bisschen sind wir immer noch Arbeiter. Nach der linken Logik könnten die Kollegen aus der Partei der Arbeiterklasse den Weg an unsre Seite finden, auch wenn kein Wahlkampf ist.

Auch mit Gewerkschaftern könnten wir reden. Wir müssten einen Versammlungsraum finden, und dann laden wir Kollegen ein, die für die Arbeiter stehen. Wobei ich zu den Arbeitern auch Angestellte und Ingenieure zähle. Wenn wir dann versammelt sind, wollen wir sagen: Es genügt nicht, Hartz IV abzumildern. Da wollen wir sagen: Die Arbeitslosigkeit muss überwunden werden. Vielleicht gelingt es, auf einer solchen Versammlung Konzepte bekannt zu machen, die schon längst bereit liegen.

Eine Woche später hatte ich mich so auf meine Rede auf dem Markt in Fürstenwalde vorbereitet:

Hallo Freunde, lasst mich schnell ein paar Worte sagen, ich muss bald wieder weg, weil ich in Storkow auf einer Bürgerversammlung zum Weiterbestehen von Schulen sprechen muss. Leider kennen sich die Bürger nicht in Gesetzen aus, nirgendwo, da brauchen sie Hilfe, da will ich ihnen um 19 Uhr sagen, dass sie sich jahrelang durch die Behörden haben täuschen lassen.

Doch lasst mich zuvor von Berlin berichten, dort sind am 3. Juni Demonstranten aus ganz Deutschland durchs Stadtzentrum gezogen, fröhlich und kämpferisch. Wir haben auch der Polizei des rot-roten Senats getrotzt. Zusammen mit Ralf aus Königs Wusterhausen habe ich einen der Polizei-Angriffe gestoppt mit meinen ausgestreckten Armen und dem Ruf „Keine Gewalt, keine Gewalt.“ Unter den Demonstranten gab es auch Gruppen von Gewerkschaftern. Deutlich war Ver.di zu sehen. Trotzdem bin ich unzufrieden. Demonstriert hat nämlich nur der harte Kern der Betroffenen. Die meisten Arbeitslosen kommen nicht zur Demo. Was haben wir falsch gemacht? Was haben wir versäumt?

Richtig wird es bleiben, dass wir Hartz IV anprangern. Aber das bewegt die meisten Menschen kaum. Sie haben ihre eignen Sorgen. Darauf hat es ja die Regierung angelegt: Spaltung des Volkes. Spaltung. Und was bewegt die meisten, die noch einen Job haben? Sie wollen den Arbeitsplatz behalten. Und deshalb akzeptieren sie längere Arbeitszeiten, auch ohne Lohn. Warum sagen wir ihnen nicht: Gemeinsam für die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit! Gemeinsam in die Offensive! Das würde den Herrschenden weh tun. Den Herrschenden würde auch weh tun, wenn wir laut rufen würden: Euer Wachstumsgeschwätz ist eine Lüge. Selbst wenn Eure Wirtschaft wächst, schafft das keine Arbeitsplätze. Denn Industrie und ein großer Teil der Dienstleistungen – Innovation schafft immer mehr Produktivität. Und wenn ihr nicht die Arbeitszeit senkt, dann gibt es nie wieder Vollbeschäftigung.

Deshalb möchte ich Euch vorschlagen: In Füwa bald eine Beratung über „Arbeitszeitverkürzung“. Das schlage ich Euch vor. Und jetzt könnten wir noch ein paar Minuten miteinander diskutieren, hier an dieser Stelle.

Doch eine Diskussion kommt nicht zustande. Mitunter lade ich nach dem Treffen die Ausharrenden ins nahe Bistro ein. Doch was ich auch sage: In jedem Satz finden sie ein Wort, das ihnen Anlass ist um zu erzählen, was es am Wochenende zum Mittagessen gegeben hat. Und von neuem Scheit wollte auch der Platzhirsch nichts wissen. Der Zerfall der Montags-Clique in Fürstenwalde kam dennoch unerwartet.

Ehe ich darüber berichte, muss ich an ein Ereignis erinnern, dass sich im Hause des Bundestages ereignete. Die PDS-Fraktion hatte zu einer Anhörung der Hartz-Betroffenen eingeladen. Wider erwarten kamen mindestens vierhundert Betroffene aus allen Teilen der Bundesrepublik. Sie waren so stark interessiert, dass sie – die Hartz-Betroffenen – das Fahrgeld mühsam zusammenstoppeln. An einem Wintertag stauen sie sich vorm Einlass ins Gebäude, im Schneesturm frierend, und die PDS-Fraktion akquiriert schnell den Riesen-Saal der CDU-Fraktion, der nun noch mit Zusatz-Stühlen aufgefüllt wird unterm Kreuz an der Stirnwand.

Die Betroffenen hatten geglaubt, dass sie nun angehört werden. Doch die Fraktion hatte unter Anhörung etwas anderes verstanden: Die Betroffenen sollten sich erst mal zwei Stunden lang die statements von PDS-Kadern anhören. Da wagte ich einen Zwischenruf. Da ging es weiter, nun mit statements von Verbands-Präsidenten der Erwerbslosen. Mit diesen Experten hätte die Fraktion in kleinerem Rahmen eine gesonderte Anhörung abhalten können, das wäre effektiv gewesen.

Vorm Eingang in den Saal sah ich auch Lothar Bisky herumlaufen, nur nicht bei den Betroffenen im Saal, nicht mal auf dem Podium, obwohl das gar nicht hoch war. Es war so niedrig, dass man als Anhörer auf den hinteren Sitzreihen die Gesichter der Podium-Leute nicht sehen konnte. Vom Podium aus streut Helmut Holter die mikroskopisch kleine Hoffnung, die Behörden könnten öffentlich geförderte Beschäftigungssektoren schaffen anstelle der regulären Arbeitsplätze, aus denen die Hartz-Betroffenen vertrieben worden sind.

Endlich heißt es „Mikro frei“ für die Betroffenen. Im Nu stauen sich achtzig Betroffene vor den beiden Saalmikrofonen. Als Rentner lasse ich den Jüngeren den Vortritt, jeder kann nur schnellsten seinen Frust ablassen, weiter nichts, die Gelegenheit zum Gedankenaustausch war verschenkt. Ich wagte zu fragen: Was wird mit dem Rechtsgutachten betreffend Verfassungswidrigkeiten von Hartz-IV? Dafür bekam ich Schelte aus der Fraktion. Statt zu überlegen, wie wir mit dem Rechtsgutachten umgehen: Schelte. Natürlich habe ich gegengehalten: Gleich, wie die Erfolgsaussichten sind – wir hätten prüfen müssen, welche Pfade vom Logo „Hartz muss weg“ zum Grundgesetz erschlossen werden können. Wir glauben doch, in einem Rechtsstaat zu leben. Mit dem Logo „Hartz muss weg“ seid ihr in den Bundestag gewählt worden. Ich steh euch zur Verfügung.

Nun wieder zum Städtchen Fürstenwalde. Ich will berichten, wie es dort zum Zerfall der Demonstranten-Gruppe kam. Dazu muss ich weiter ausholen.

Im Sommer 2005 hatte sich in Jüterbog gezeigt: In zwanzig Städten Brandenburgs gibt es Montags-Demonstranten. In Jüterbog waren achthundert zusammengekommen. Die Engagiertesten erstreben aller vier Monate eine gemeinsame Beratung. Fünf mal fand unser Treffen in Storkow statt, und hier entstand der Wunsch nach einem verbindenden Namen. Wir entscheiden uns für „Soziale Bewegung Land Brandenburg“. Michael Maurer aus Jüterbog hatte im Internet für uns zwei Listen eingerichtet: Eine Liste für je einen Vertreter einer Stadt, und eine Liste bundesweit für alle. Ein Thema, über das wir leider auch sprechen mussten, ist die Artikulation im Internet: Es gibt zu viel nur hingeworfene Brocken, zu wenig ausformulierte Sätze, und deshalb zu viele Missverständnisse. Ich dränge, die Tagesordnung per e-mail vorzubereiten. Stets wurde Eröffnung und Begrüßung ausdrücklich ausgewiesen, na schön, von mir kamen Vorschläge zur inhaltlichen Beratung unsrer Strategie. Doch stets fehlte die Zeit, darüber auch zu beraten. Spaß gab es in den Pausen. So hatte Kerstin Weidner aus Senftenberg einige Papp-Orden gebastelt mit der Aufschrift „Held der Montagsdemo“. Ich bin stolz, einen solchen Orden empfangen zu haben.

In dem größeren Bundesmaßstab gibt es zwei verbindende Netze: Das „Aktionsbündnis Sozialproteste“ ABSP und das Netz „Bundesweite Montagsdemo“. Beide Netze hatten in Berlin große Demonstrationen mit Teilnehmern aus der ganzen Republik zuwege gebracht, beide Netze waren sich aber nicht grün. „Bundesweite Montagsdemo“ hatte in Berlin an der Weltzeit-Uhr zu den republik-weit ersten Kundgebungen inspiriert und wollte sich auch von der PDS keine Vorschriften machen lassen, auch nicht vom ABSP, und das wurde von allen übelgenommen.

Im Umfeld des ABSP entstand sehr früh eine Klein-Zeitung. Holdger Platta aus Göttingen – engagierter 68er, Germanist, Historiker, Schriftsteller und Journalist – war Inspirator. Er hatte auch den Namen „Artikel Eins“ vorgeschlagen und gesetzlich schützen lassen. Leider trat der kompetente Holdger allzu schnell zurück, weil wichtige Unterstützung ausgeblieben war. Ich blieb aber als Mitbegründer, als Redaktionsmitglied und wurde Autor von 130 Beiträgen. Da im Sommer 06 in Berlin eine große Demo anstand, die von „Bundesweite Montagsdemo“ ausgerichtet wurde, warb ich in dieser Zeitung für die Teilnahme.

Da brach über mich ein Gewitter herein: aus dem Ko-Kreis des ABSP. Ich ließ mich nicht einschüchtern, mein Aufruf wurde veröffentlicht, aber ich erhielt eine mail, in welcher der Wunsch auf meinen Tod geäußert wurde. Dergleichen hatte ich schon aus den Reihen der Schill-Partei vernommen. Nun also der Ruf nach Diktatur aus dem Ko-Kreis des ABSP. Da ich mich nicht beugte, spaltete sich die Redaktion der Kleinzeitung, und statt sich zu beruhigen, missbrauchten die Spalter den gesetzlich geschützten Zeitungsnamen „Artikel Eins“, sodass es nun zwei „Artikel Eins“ gab.

Den Leuten aus dem ABSP war Dorn im Auge, dass das Netzwerk „Bundesweite Montagsdemo“ seine Demo jedes Jahr in Berlin recht gut vorbereitete und auch an Traditionen der Arbeiterbewegung anknüpfte, sodass die Demo Anklang fand und gewaltfrei blieb. Die Polizei vertraute darauf, man sah sie kaum. Nun sagten die Spalter: Das kommt daher, dass hinter dieser Demo die MLPD steht, diese Partei erteilt ihren Mitgliedern Befehle, und deshalb läuft alles fröhlich und diszipliniert. Und überhaupt die MLPD, die will Diktatur des Proletariats, und dafür bekommt sie Gelder vom niederländischen Geheimdienst.

Tatsächlich war dieser Partei von einem ihrer Mitglieder ein persönliches Erbe als Spende zugeführt worden. Das erregte Aufmerksamkeit, und ein Dutzend der größten Zeitungen des Landes drückte Bewunderung aus gegenüber dem Spender, einem pensionierten Ingenieur, der für sein Alter schon gesichert war. In mails an Mitglieder des Ko-Kreises von ABSP forderte ich, die Behauptung von wegen Geheimdienst und Kommando-System zurückzunehmen. Im Ko-Kreis von ABSP erwies sich ein PDS-Mann als fanatischer Verleumder. Als er zu einem Treffen der Sozialen Bewegung Land Brandenburg in Storkow erschien und die Bundesweite Montagsdemo angriff, wies ich ihn in die Schranken.

Trotzdem drohte nun auch unsrer Sozialen Bewegung Land Brandenburg die Spaltung. Man beteiligte sich ja gern an der Bundesweiten Demo in Berlin, doch man hatte Schwierigkeiten wegen einiger Programm-Punkte der MLPD, welche die fernere Zukunft betreffen. Hautnah war aber etwas anderes: die Diktatur des ABSP. Mühsam gelang es mir beherrscht zu bleiben, denn die Gegenwart müssen wir gemeinsam bestehen. Wir reden doch viel von Gemeinsamkeit. „Nur gemeinsam sind wir stark“, so hört man immer wieder. Über alles andere können wir beraten, meinte ich, Hauptsache, wir nehmen uns die Zeit dazu. Damit hatte ich aber in den Augen einiger Choleriker die Grenzen der Toleranz überschritten, sie wurden ausfällig. Im Internet empfahl ich ihnen eine Auszeit. Doch nach einer Woche ging es wieder los.

Dass die Eruptionen allmählich nachließen, ist dem Grund-Bedürfnis nach gemeinsamer Aktion und der Ermüdung zu verdanken. Teilnehmer unsrer Beratungen im SBB war auch eine Genossin der MLPD, eine sympathische Frau, Ende fünfzig, Ärztin, stets besonnen, bescheiden, freundlich. Sie drängte sich auch nicht vor. Und als sie aus Brandenburg nach Berlin verzogen war, lud ich sie und ihre Freunde immer wieder ein. Mir gelang auch durchzusetzen, dass sie und ihre Genossen zu unsrer Jahres-Demo in Brandenburg an der Havel von der Tribüne aus sprechen konnten. Zum Abschluss haben wir sogar gemeinsam die Internationale gesungen: „Wachr auf, Verdammte dieser Erde“.

Auch der KoKreis des ABSP kam zur Besinnung. Als Edgar Schu, der Sprecher des Ko-Kreises, auf der Radfern- und Protestfahrt von Dresden nach Rostock in Zossen eintrifft, wo den Radlern ein Empfang bereitet wird, bin auch ich bereit. Edgar kommt freudig auf mich zu, mit ausgestreckten Armen. Da reichen wir uns die Hände.

Nur einen gab es, der mir stets den Rücken zuwandte, ausgerechnet der einzige gläubige Christ in unsren Reihen und im Alter mir am nächsten. Er hatte nicht bemerkt, wie oft ich mich ärgerte, dass unsere Mitstreiter nicht zu bewegen waren, auf Mitbürger christlichen Glaubens zuzugehen. Für unsre Mitstreiter waren das reaktionäre Leute, mit denen man nicht reden könne. Endlich hielt ich die Zeit gekommen, in unsrer SBB-Beratung zu sagen: Wir sollten uns auch an unsre Mitbürger christlichen Glaubens wenden. Große Überraschung, vereinzelt auch Unmut. Doch wir hatten einen Mitbürger christlichen Glaubens von Anfang an in unsren Reihen, nur war sein Glaube nicht bemerkt worden. Dieser Mitbürger hatte mir ein Jahr lang den Rücken zugekehrt wegen Zukunftsvorstellungen der MLPD. Nun war er überrascht. Doch nun hatte er sich Angriffe von Mitstreitern aus seinem Städtchen eingehandelt.

Seitdem reicht mir der Mitbürger christlichen Glaubens wieder die Hand. Oft ruft er an bei mir, ich höre zu, wenn er aus seinem Leben erzählt, und er sagt mir: Du hast recht, unsren Freunden fällt es schwer, über ihren Tellerrand hinauszugucken. Sonst würden sie verstehen, dass Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung überwunden werden muss.

Inzwischen war ich in die Ko-Gruppe von Bundesweite Montagsdemo gewählt worden. Meine Kollegen aus der Redaktion der Kleinzeitung „Artikel Eins“ hatten mich vorgeschlagen, und zwei Mal wurde ich auf dem bundesweiten Delegierten-Treffen – in Kassel – in die Ko-Gruppe gewählt. Auch Mitstreiter aus meinem Landkreis Oder-Spree hatten meine Wahl unterstützt, es hatte ihnen gefallen, wie ich auf ihren Jubiläums-Montagsdemos in Eisenhüttenstadt gesprochen hatte, sechzig Kilometer östlich von meinem Dorf. Und mich zum zweiten Mal der Wahl zu stellen, ermutigte mich der oberste Sprecher der Ko-Gruppe: Gleich zu Beginn der Delegiertenversammlung rief er mich, auf dem Podium Platz zu nehmen. Niemand nahm daran Anstoß. Am Ende wurde ich wieder in die Ko-Gruppe gewählt, meine Kollegen von Artikel Eins, aus Eisenhüttenstadt und aus Angermünde, hatten erneut für mich gebürgt. Gewählt wurde von der Delegiertenkonferenz. Nun war ich das zweite Jahr Mitglied der Ko-Gruppe und hatte mancherlei durchdacht. Meine Vorschläge formte ich zu einer Denkschrift. Auch meine Kollegen von
„Artikel Eins“ waren mit meinem Text einverstanden.

Nun aber kreuzten sich zwei Entwicklungslinien, und das führte zum Eklat. Eine der beiden Linien war:

Der oberste Sprecher der Ko-Gruppe wollte keine Denkschrift, schon gar nicht zur Beratung. Seine Verdienste hatte ich sehr wohl gewürdigt. Doch ich meinte, wir müssten wieder mehr Leute werden bei den Montagsdemos. Dazu hatte ich Vorschläge aufgeschrieben, auch um die Ko-Gruppe selbst zu beleben. Aller vier Monate saßen wir fünf Stunden lang in Kassel und hatten eigentlich nur zu nicken. Echte Beratungen waren das nicht, schon gar nicht Forum für neue Ideen. Der oberste Sprecher hatte selber nichts anderes gewusst als von Argentinien zu erzählen, wo Frauen mit Topfdeckeln geklappert haben.

Unsre trefflichen Gastgeber in Kassel, Genossen der MLPD, hätten uns gern mal ein ganzes Wochenende beherbergt. Mir schwebte auch vor zu beraten, wie die website www.bundesweite-montagsdemo.com zur Ideenfindung genutzt werden könnte. Aber gleich zu Beginn des Ko-Gruppen-Treffens meinte der oberste Sprecher, mein Schreiben könne nicht zur Beratung gestellt werden. Wieso denn das? Da versuche ich, wenigstens einzelne Punkte in die Beratung einzubringen. Auch das wird von ihm abgewiesen. Doch in den Pausengesprächen, ohne den obersten Sprecher und seine zwei Beisitzer – eine separate Sekte – fühlte ich Sympathie der Ko-Gruppenmitglieder.

Die zweite der Linien, die zum Eklat führten, entsprang der Redaktion von „Artikel Eins“. Erste Spannungen gab es schon. Ich war der einzige mit Redaktionserfahrung. Über die Jahre hatte ich 130 Beiträge verfasst und Endredaktionen besorgt. Behutsam hatte ich auch zu Texten von Redaktionsmitgliedern meine Vorschläge geäußert. Mit aller Behutsamkeit, weil ich wusste, wie schwer es ihnen fällt, sich schriftlich zu äußern oder – weil einer zum Fabulieren neigte – wie schwer ihm Logik fiel, wenn er sich in seine Fabel verliebt hatte.

Es kam auch zu politische Differenzen: Manuskripte trafen ein, das Grundgesetz müsse geändert werden. Doch in welcher Richtung? Man ließ sich täuschen. Literatur gehörte nicht zum täglichen Brot meiner Kollegen, schon gar nicht Literatur über unsere Geschichte. Stattdessen wollen sie ein Redaktionsstatut, dass es mir versagt, meine behutsamen Anmerkungen zu begründen: eine lex Thiel. Schließlich setzen sie einen Termin in Thüringen fest, sie wollen nur wieder mal zusammen sitzen. Da hatte ich Dringenderes zu tun.

Als im Herbst 08 in der großen Welt die Finanzkrise offenbar wird – sie hatte sich dem Zeitungsleser angekündigt – verlange ich, meine aktuelle Analyse auch noch am Tag vorm Redaktionsschluss zu akzeptieren. Das wird verweigert. Auch die Linkspartei reagierte ja nicht auf die Finanzkrise. Verärgert sage ich: Wenn ihr nicht aktuell sein wollt, dann streicht meinen Namen aus dem Impressum. Da werde ich aus der Redaktion ausgeschlossen. Und der geschäftsführende Redakteur mailt an den obersten Sprecher von Bundesweite Montagsdemo: Thiel ist ein sturer, eitler, egoistischer Alter, wir widerrufen seine Wahl. Obwohl ich doch durch die Vollversammlung gewählt bin.

So trafen sich zwei Entwicklungslinien. Platzhirsche hatten sich zueinander gefunden. Meine Rechenschaftslegung wird ignoriert. Meine Pflichten hatte ich gern erfüllt.

Natürlich brauchen wir Platzhirsche, denn das sind Leute, die sich anzupacken wagen, wo andere nur abwarten. Platzhirsche sehen sich gern im Mittelpunkt, das ist der einzige Lohn ehrenamtlicher Arbeit. Doch nur selten gibt es einen Platzhirsch, der auch nachdenkt, wie eine Strategie des Handelns entwickelt werden kann.

Ist die Montagsdemo unverwüstlich? Wird es den Unermüdlichen gelingen, über den Tellerrand hinaus zu blicken? Hartz IV muss weg. Doch wie? Die PDS verweigert sich. Und die Betroffenen selber? Sie fordern höchstens, Hartz IV abzuschwächen: Keine Schikanen mehr und höhere Regelsätze. Natürlich muss das gefordert werden, denn die Mitbürger haben noch nicht recht verstanden, wie schlimm Hartz IV ist.

Eher fühlen Mitbürger, dass ihre eignen Arbeitsplätze unsicher sind. Deshalb hoffen sie, ihren Arbeitsplatz halten zu können, wenn sie mehr und mehr und immer mehr rackern. Und weil man selber von der Tagesarbeit erschöpft ist und obendrein zu Hause Pflichten hat, ist man glücklich, die allerletzte Tagesstunde am Televisor schlummern zu können. Die Kraft reicht nicht, den Schwebezustand zu durchdenken: Angst vor Hartz IV oder lieber nicht daran denken.

Meine Mitstreiter haben sich vor allem als Hartz-Betroffene dargestellt. Wird nun ein neues Scheit ins Feuerchen gelegt? Es wird vorgeschlagen, in Städten Brandenburgs einen „Zug der Tagelöhner“ aufzuführen. Dazu schrieb ich am 3. April 2010: Wie würde denn „Tagelöhner“ auf verschiedene Kreise der Bevölkerung wirken? Ich fürchte, dass viele Bürger meinen: „Manche Leute sind eben nur als Tagelöhner zu gebrauchen, kein Wunder, dass sie auf dem Arbeitsmarkt als Tagelöhner gehandelt werden, für etwas anderes sind sie nicht zu gebrauchen.“ Diese Meinung steckt in vielen Hinterköpfen, auch bei Mitbürgern, die selber unzufrieden sind mit dem Kapitalismus. Wir aber haben bisher viel zu wenig gerufen: „Wir sind eure Mitbürger, auch eure Arbeitsplätze sind nicht sicher. Fordert gemeinsam mit uns: Gute, sichere Arbeit für uns alle, für euch, die ihr noch einen Job habt, und für uns. Wir sind nicht freiwillig erwerbslos geworden, man hat uns den Arbeitsplatz geraubt.“ Das müsste von uns ausgedrückt werden.

Und das müsste von weiteren Losungen flankiert werden, zum Beispiel „Banken – wir zahlen nicht für eure Krise“. Rüstungsmilliarden für Arbeitsplätze, Rüstungsmilliarden für Schulen und Kita“. Und „Statt Rüstungsmilliarden Geld für unsre Kommunen, für kommunale Investitionen, dann bekommen wir auch ordentlich bezahlte und sichere Arbeitsplätze“.

Ich wäre dafür, dass auch der Spruch gezeigt wird „Kapitalismus ist Scheiße“, wie das zum Jahrestag der Montagsdemos in Senftenberg geschehen war, auch zur Freude des RBB, der in seiner Nachrichtensendung 19.30 Uhr den Spruch gut sichtbar und mehrere Sekunden lang gezeigt hat.

Am 8. April schrieb ein Mitstreiter aus der Sozialen Bewegung Land Brandenburg:

Rainer hat recht. Auch mir will das Motto „Zug der Tagelöhner“ nicht so recht gefallen. Einmal umfasst „Tagelöhner“ nicht das ganze Spektrum von Armut und sozialer Ausgrenzung, gegen das wir ankämpfen. Zum Anderen spricht Rainer die Frage der Wirkung auf verschiedene Kreise der Bevölkerung an. ..... Was möglicherweise als Anklage oder Warnung gemeint ist, kommt rüber als Resignation und Betteln um Mitleid. Dabei sind doch die, die noch montags auf die Straße gehen, die sich im SBB zusammengeschlossen haben, diejenigen, die am wenigsten resigniert haben und sich nicht mit den Verhältnissen abfinden (wollen). Und neben den konkreten Forderungen ist es doch unser Ziel, den Betroffenen und noch nicht Betroffenen zu sagen: Wehrt Euch! Nehmt nicht alles hin, und den Anderen: Was wir wollen ist nicht zu viel verlangt, angesichts von Milliardenausgaben für Banken und Manager, Rüstung und Krieg …..“!

Am Tag darauf schrieb ein anderer Mitstreiter:

Hallo, .... genau das ist der springende Punkt, das Motto „Brandenburg-Tour gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ ist nicht griffig genug. Genau diese Bezeichnung war auch mein erster Vorschlag, liegt ja auch nahe im EU-Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Aber ich finde dieses Motto zu allgemein, zu wenig zuspitzend.

Gegen Sozialabbau, Armut und soziale Ausgrenzung gehen wir nun schon seit Jahr und Tag auf die Straße. Nicht dass das verkehrt wäre, im Gegenteil, das werden wir auch weiter tun. Aber für die Tour brauchen wir ein Motto, das mal anders ist, das provoziert, das neugierig macht. Neugier wecken ist ein wichtiges Mittel um Aufmerksamkeit zu erlangen und Neugier weckt man, indem man Fragen aufwirft und die Leute auch ein Stück im Unklaren lässt, was sie erwartet. .... Mit den üblichen Überschriften wissen uns die Leute gleich einzuordnen, „Ach, das sind wieder diese Sozialprotestler! ….. Aber für die öffentliche Werbekampagne finde ich „Zug der Tagelöhner“ einfach genial! …… Viele Grüße......

Am 28. April bilanziert einer der Sprecher und schlägt als Motto vor: „Widerstand gegen Zunahme von unsicheren Arbeits- und Lebensverhältnissen“. So könnte sich – wie er schreibt – „die Zusammenarbeit mit verschiedenen gesellschaftlichen Partnern nachhaltig verstetigen“.

Das liegt auf meiner Linie. Frei nach Goethe: Ein wechselnd Weben, ein glühend Leben, so schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit und wirke der Menschheit lebendiges Kleid. Dazu bin ich auch Mitglied in sieben Vereinen. Viel Mühe macht das Internet: Teils direkt an mich, teils über die Vereine empfange ich täglich fünfzig mails. Die Hälfte sehe ich mir an, fünf mails täglich suche ich ausführlich zu beantworten, es handelt sich um Probleme, auf die ich – im Prinzip – eine Antwort weiß. Doch die Antwort ist behutsam abzufassen, denn die Empfänger sind empfindlich, und ich bin privilegiert durch Jahrzehnte Gewohnheit als Berufs-Denker, nur darf ich mich nicht darauf berufen.

Clever ist Jürgen Weber, von Beruf Bautischler, nebenher auch Modelleisenbahner, von Anfang an Hartz IV und Montagsdemonstrant. Es reizt ihn auch, gemeinsam mit Hartz-Betroffenen am Rande von Potsdam einen Garten anzulegen, den Betroffenen zur Freude, auf einem Hektar unbebautem Unland mit vielen Schutthaufen. Geld haben die Behörden nicht, um das stadtkulturelle Projekt zu unterstützen. Doch wie wäre es mit dem Arbeitsamt? Unterm Logo „Ein-Euro-Job“ könnten sich Langzeit-Arbeitslose ein Souveränitäts-Gebiet schaffen und ihrem Frust entgegenwirken, damit sie nicht völlig zum Darniederliegen kommen. Doch von den meisten Mitstreitern in der SBB wird Jürgens Projekt heftig abgelehnt. Man hat insofern recht: Mit dem Garten-Projekt ist Hartz IV nicht auszuhebeln, doch sollte man deswegen auf einen Fliedergarten verzichten? Jürgen wird trotzdem ausgegrenzt. Doch in Potsdam wird er bekannt. Schließlich wird er von TV-Sendern zum Talk eingeladen. Man will ihn reinlegen, die Arbeitslosen wären zu nichts zu gebrauchen. Jürgen entgegnet: Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich arbeite. Was noch fehlt, ist die ordentliche Bezahlung. In den wenigen Sekunden, die ihm zur Verfügung stehen, gelingt es ihm nicht zu sagen: Man hat uns die ordentlich bezahlten Arbeitsstellen geraubt.

Nun wird Jürgen zum dritten mal von einem Sender eingeladen. Das teilt er in unsrer Internet-Liste mit. Da kommt wieder schroffe Ablehnung. Also stelle ich folgenden Text in die Liste:

Hallo Freunde, wenn Jürgen das Angebot nicht annimmt, findet sich ein anderer. Natürlich weiß ich, dass bloße Schlagfertigkeit nicht genügt, um sich vor der Kamera durchzusetzen. Aber es könnte sein, dass Jürgen zu Hause – vielleicht auch mit unsrer Hilfe – verschiedene Situationen durchspielt, um schon mit seiner ersten Aussage einen Treffer zu landen und dann noch mal nachzulegen. Wir müssen trainiert sein, um uns solchen Situationen zu stellen. Lasst uns gemeinsam mit Jürgen überlegen, ob die Gelegenheit wenigstens zum Training, zum Sparring für uns selber genutzt werden kann und die Aussicht auf ein Selbsttor minimal ist. Schließen wir also nicht so überhastet aus, dass wir dem Jürgen den Rücken stärken, in unser aller Namen einen offensiven Auftritt zu wagen und sich mit uns gemeinsam vorzubereiten.

Was könnte denn die erste Frage sein, die auf Jürgen zukommt? Welche Varianten gibt es? Womit muss Jürgen rechnen, um sich positionieren zu können? Wie könnte er nachlegen? Und mit jeder Variante von eigener Aussage auch gleich die nächste Frage kalkulieren. Mit solidarischen Grüßen: Rainer

Doch in Königs Wusterhausen gibt es längst keine Montags-Demo mehr, auch nicht in Fürstenwalde und Jüterbog. Wir haben uns verschlissen, in Streit und Fehl-Projekten. Ein wenig gibt es noch in Senftenberg und Eisenhüttenstadt, ein wenig Sozialarbeit auch anderswo. Man steht per e-mail in Verbindung. Ich bin bereit, das alte Feuer wieder anzufachen.

Ich hoffe, dass mir Zeit bleibt, eine Frau zu würdigen, die bundesweit bekannt wurde als Initiatorin der Anti-Hartz-Demonstrationen in ihrer Heimatstadt. Was hat sie geleistet? Wie hat sie ihre schwere Krankheit ausgehalten? Wie hat sie sich gesträubt zu lernen? Wie hat sie oftmals doch gelernt? Wie hat sie ein bundesweites Solidar-Netz aufgebaut? Das wäre Wert, in einem Extra-Buche zu erscheinen.

 

Ich nähere mich Attac

Im Jahre 2000 war das internationale Netzwerk „Attac“ entstanden. Es begann damit, auf Finanz-Transaktionen die Tobin-Steuer zugunsten der weltweit ärmsten Länder zu fordern. 2003 – als die USA den Irak-Krieg in Szene setzten – rief Attac zum Protest. In Berlin – zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule – versammelten sich fünfhundert Tausend Bürger, so viel wie am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, wo nach Leipziger Beispiel gerufen wurde „Wir sind das Volk“.

Bei Attac wird an der Menschheit Kleid gewirkt. Im Berliner Szene-Viertel – im Hause Mehringhof – versammeln sich Gewerkschafter und Akademiker, die schon längst auch über Verkürzung der Arbeitszeit nachgedacht hatten. Sie kommen zumeist aus den westlichen Bundesländern. Es entsteht die Attac-Arbeitsgruppe „Arbeitszeitverkürzung/Arbeitfairteilen“, später wird dem Logo angefügt „30-Stundenwoche jetzt“ und „Vollzeit neuen Typs“. Der erste Flyer wird von mir entworfen, bald entsteht auch eine Denkschrift unter Federführung von Prof Helmut Spitzley aus Bremen. Ökonomische Gesichtspunkte dominieren.

Auch das Netzwerk ABSP und die MLPD fordern Arbeitszeitverkürzung. Warum aber ist uns der große Durchbruch noch nicht gelungen? Die obersten Führungen der Gewerkschaften sind zufrieden, die Reste der Tarif-Autonomie und der Balance zum Kapital zu bewahren. Die PDS schwieg immerzu, die Linkspartei spricht auch nur leise, und wenn sie überhaupt mal spricht, dann wirbt sie für bedingungsloses Grundeinkommen, wie auch ein paar Leute bei Attac.

Propagandisten des Bedingungslosen Grundeinkommens wollen menschliche Arbeit von Zwängen befreien. Das klingt gut. Doch von Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen sprechen sie nicht. Sie meinen vielmehr, Menschenwürde verlange auch Recht auf Faulheit, und wer beim Unternehmer malochen will, der soll das tun, das Kapital wird es schon richten. Statt Arbeit in Würde, statt Solidarität der Arbeitsfähigen, statt verkürzter Arbeitszeit für alle zum Wohle ihrer Familien – eine verkürzte Ansicht vom Menschen und seiner Geschichte: Für einen Teil abrupter Übergang in eine Karikatur von Kommunismus. Für den anderen Teil verfestigte Bindung ans Kapital. Freiheit soll darin bestehen, zwischen Bronchitis und Cholera zu wählen.

In meiner www.thiel-dialektik.de ist das konkreter ausgeführt. Dort sage ich auch: Ihr wollt die Würde des Menschen aufs Baby-Niveau drücken: Das Kind muss von Erwachsenen ernährt werden. Das ist klar. Doch mit dem Erwachsen-Werden wächst die Würde: Die Verantwortung für euch selber, für eure Kinder und für eure Mitmenschen.

Die Argumentationskraft unserer Attac-AG „Arbeitfairteilen“ könnte größer sein, wenn wir gemeinsam die marxsche Kapital-Kritik ausschöpfen würden. Sie könnte auch größer sein, wenn wir unsre Forderung darstellen würden im System mit anderen sozialen Forderungen, die ebenso im Raume stehen. Dazu habe ich Konzepte. Man muss trainiert sein, um synergetische Effekte und Möglichkeiten zur gegenseitigen Kompensationen von Dys-Effekten zu erkennen. Das wollen die Medien dem Publikum nicht zumuten, sie wollen Events statt Zusammenhänge.

Inzwischen wird bei Attac ein weiteres Scheit ins Feuerchen gelegt. Beim Attac-Ratschlag im November 09 in Leipzig heftete ein Attac-Freund an eine Pin-Wand die Frage: Wer wünscht eine AG „Transformation statt Wachstum“? Das wurde sofort verstanden, weil unsereiner an das scheußliche Wachstum denkt, das uns die Neoliberalen aufzwingen. Wir dagegen denken an den Klima-Wandel, die Bewahrung der Erde, die menschliche, die familien- und bildungsorientierte Freizeit, manche denken auch an regionale Wirtschaftskreisläufe und ökologischen Landbau. Und ich denke auch an die Umkehrung der traditionellen Vorstellungen von Reichtum. Ich möchte die Transformation nicht nur als Verzicht auf Ressourcen-Verschwendung, sondern als Gewinn an Lebensqualität, an „Gutem Leben“.

Unser Projekt hat geschichtliche Dimension. Deshalb müssen wir nachvollziehen, wie sich die traditionellen Vorstellungen von Reichtum in der Geschichte entwickelt haben, beginnend mit der Zeit der ersten Arbeitsteilungen: Was hat sich aus den Platzhirschen der Familien-Clans und aus den Medizin-Männern entwickelt, die für gute Ernte gebetet haben? Welche Vorstellungen von Reichtum entsprangen daraus – während der Zeiten von Knechten und Herren? Ihr kennt aus der Geschichte die auffälligsten Events. Wisst ihr auch, wie Marx die Real-Geschichte als Entwicklungs-Prozess analysiert hat? Dergleichen ist Geistes-Wissenschaftlern fremd.

Solange populäre Darstellungen rar sind, muss man Marx und Engels selber lesen. Aber nicht nur mit Ökonomen-Blick. Man muss bemerken können, wie viel Kenntnis der menschlichen Geschichte in die Werke der beiden Denker eingeflossen ist: Sie verlangen geschichts-philosophisches Verständnis. Handreichung zu bieten habe ich versucht mit meinem Büchlein „Marx und Moritz – Unbekannter Marx – Quer zum Ismus“, einige Abschnitte davon schon Anfang der neunziger Jahre in der Sozialistischen Tageszeitung, bis deren Interesse an Marx völlig erloschen war. Darf ich auch mal Schiller zitieren? „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben. Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.“

Meinen ATTAC-Freunden fällt es schwer, entwicklungs-
geschichtliche und systemische Überlegungen zu nutzen. Ich habe einen Vorteil: Als Neugieriger war ich offen für systemische Überlegungen, die ich dann auch finden konnte in Mathematik und Kybernetik, in der Dialektik von Hegel und Marx.

Auch andrer Vorteil ist mir zugefallen: In meinem Dorf ist ein Heim für junge Leute, denen die Drogen entzogen worden sind. Nun rekonvaleszieren sie. In das Heim war ich schon mal eingeladen, um über den Tod zu sprechen, auch damit hatten Sechzehnjährige erste Erfahrung. Nun aber fragt mich eine Fürsorgerin: Kannst Du bei uns über den Sinn des Lebens reden? Da sage ich: „Die ersten Sätze weiß ich schon – ich heiße Rainer und bin sehr, sehr reich, und das hat sieben Gründe.“

Der erste Grund ist meine Kindheit. Die Eltern hatten mir die Neugier nicht geraubt, und ich wuchs auf in einer kinderfreundlichen Siedlung. Ich erzählte von den glücklichen Kinderspielen auf den Wiesen und von den Wanderungen mit den Eltern durch die Heimat. Und weil ich das vor Jugendlichen vortrug, die in Berlin aufgewachsen und nun in mein Haus gekommen waren, ließ ich auf dem Plattenspieler ein paar Takte aus Beethovens Pastoral-Sinfonie erklingen: „Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“. Das gefiel den jungen Leuten. Ein zweiter Vortrag wurde vereinbart. Da zeigte ich per Dia-Projektor Fotos: Mit meiner Katrin von Berlin in den Spreewald gepaddelt. Als ich mit einer Schallplatte vorführte, wie Peter Schreier Volkslieder singt, wurden sogar von einem Knaben Zugaben erbeten. Ich habe auch aus Bachs h-moll-Messe etwas vorgeführt – Cum sancto spiritu: Wie der Chor junger Sänger aus Dresden und Leipzig mit seinen Stimmen ins Universale strebt. Natürlich erzählte ich von meinen drei Kindern, ohne die Sorgen zu verschweigen: Der knappe Wohnraum und die knappe Freizeit der Eltern.

Schließlich habe ich von meinen Berufen berichtet, vor allem von meinen Kollegen aus den Erfinderschulen. Und so wurden es vier Vorträge. Die jungen Leute schienen verstanden zu haben, warum ich mit den Worten begonnen hatte: Ich bin sehr sehr reich. Nun wisst ihr auch, warum ich die Kaufhäuser meide. Nicht Sachen zu haben, sondern Freude an Natur und Menschenwelt – das ist mein Reichtum.

Deshalb wurde ich Mitbegründer zweier ATTAC-Arbeitsgruppen. Leider ist uns noch nicht gelungen, Links-Partei und Gewerkschaftsvorstände für die Existenz-Fragen der Erdbewohner zu interessieren. Sie selber interessieren sich nicht dafür, sie etablieren sich nur selber. Vor der Bundestagswahl 2013 schrieb ich an ihre Spitzenkandidaten: Nutzt eure Wahlplakate, um Existenzfragen zu stellen. Doch sie stellten sich nur selber zur Wahl. Sie behaupten, die Menschen würden Arbeitszeitverkürzung nicht wollen. Doch wie sollen sie denn wollen, wenn Polit-Profis sich weigern, auf Existenzfragen aufmerksam zu machen, die durch die Medien vernebelt werden? Als ATTAC-Mitglied spreche ich meine Mitbürger an. Da stellt sich heraus: Nie haben sie davon gehört, dass Arbeitszeitverkürzung sinnvoll, nötig und möglich ist. Doch wenn ich ihnen meine ATTAC-Ziele nenne – dazu genügen wenige Worte in wenigen Sekunden – sind meine Gesprächspartner begeistert.

Unsre ATTAC-Arbeitsgruppe hat mehrere Publikationen zur Arbeitszeitverkürzung geschaffen. Meine Expertise 2012 habe ich betitelt „Wie lange noch die Angst um Arbeitsplätze? Wir wollen frei von Angst sein!“ Verfügbar ist der Text in einem Sammelband des Laika-Verlags: „Kaltes Land. Gegen die Verrohung der Bundesrepublik. Für eine humane Welt“. Doch was uns Humanisten fehlt, sind die Steuergelder, die hinfließen zu den Parteien als Wahlkampf-Kosten-Erstattung. Den Parteien steht auch je eine hochdotierte Stiftung zur Seite. Doch uns als ATTAC fehlen sogar die Medien, die den jahrzehntelangen Traditionen der Partei-Linken entstammen.

„Allmähliche Revolution“ – immer noch Tabu der Linken?

Ich wünsche Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse, eine friedliche Welt brüderlicher Menschen. Was ich mir wünsche, halte ich für möglich, ich warte nicht nur darauf wie andre Linke, ich arbeite dafür. Solcher Wandel wurde seit Jahrzehnten mit dem Wort „Revolution“ belegt. Doch der Begriff war stets zu schmal, den man dem Worte beigab. Und was von Marx gedacht war, das blieb unbekannt.

Doch deutlich erkannte ich zwei Denkmuster, die – wie schon seit hundert Jahren – das Verhalten von Linken beeinflussen: Muster A): Es gibt keinen grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse, man könnte die Verhältnisse höchstens ein wenig verbessern. So denkt man seit jeher in der SPD und heute auch in Teilen der Linkspartei. Muster B): Jetzt haben wir Kapitalismus, da können wir nichts machen. Es muss eine Revolution kommen, vielleicht kommt sie ganz plötzlich aus Südamerika zu uns, dann ist der Sozialismus in Europa eingetroffen, mit dem Schiff aus Übersee. So etwa denken vor allem ganz Alte aus der SED und manche der ganz jungen Linken.

Anno 2000 hatte ich das Buch „Die Allmählichkeit der Revolution – Blick in sieben Wissenschaften“ publiziert. Doch schon bald fiel mir auf: Die beiden Denkmuster schwanken weiterhin um ihre Ruhelage. Das fiel mir auf beim täglichen Lesen linker Verlautbarungen. Im Jahre 2001 schien aber ein Lichtlein zu blinken. Gabi Zimmer – sie hatte zeitweilig Bisky vom Parteivorsitz abgelöst – gab die Losung aus: „Gestaltende Opposition“. Ich war begeistert, denn das hieße ja: Auch mit Opposition – wenn sie denn kräftig ist – gestalten wir die Zukunft, und falls wir mitregierend werden, dann drückt von außen her das Volk und wirkt gestaltend. Ich schrieb an Gabi Zimmer. Ihre Mitarbeiterin nahm das ernst, ich hoffte auf Gedankenaustausch mit der Chefin und dem Parteivorstand.

Doch bald schon war die Mitarbeiterin verschwunden, und in der Presse hieß es „Entweder Opposition oder Gestaltung, beides zusammen geht nicht.“ Entweder/oder. Sofort war mir Friedrich Engels parat, der sich über jedes „Entweder/Oder“ lustig gemacht hatte als ein Mätzchen, das er „Metaphysik“ nennt.

Deshalb schien mir, ich müsste „Gestaltende Opposition“ erläutern und eine Neu-Auflage meines Musters der Allmählichkeit von Revolution zuwege bringen, kürzend, ergänzend, aktualisierend. Im Oktober 2009 war die neue Fassung fertig, im Dezember ausgedruckt. Der letzte Abschnitt heißt nun „Was ist mit linker Strategie?“ Ein Abschnitt im zwölften Kapitel heißt „Oskar hat verstanden“, danach ein Abschnitt „Die MLPD geht es praktisch an“.

Monate später erscheint ein Entwurf des Programms der Linkspartei, da ist – es hat mich überrascht – nun doch von grundlegendem Gesellschafts-Wandel die Rede. Und wie es dort steht, kann ich das als „allmähliche Revolution“ deuten. Leider erschienen sogleich Kommentare, welche den Entwurf als zu weit links verorten. Und nichts wird hinterfragt, was aus neunzigjähriger Geschichte mit Sozialismus-Versuchen immer noch unabgegolten ist. Wie soll denn dann das Volk verstehen: Sozialismus ist nicht obsolet geworden! Haben die Linken gelernt? Ich mache Proben aufs Exempel und schreibe über das „Unabgegoltene“. Aber da wollen linke Blätter nicht ran.

Anno 2000 hatte ich als Untertitel gewählt „Blicke in sieben Wissenschaften“. Neun Jahre später hatte ich an außerparlamentarischen Erfahrungen gewonnen. So musste ich als Titel und als Untertitel wählen „Allmähliche Revolution – Tabu der Linken. Zwei Arten Abstand vom Volk: Auf Wunder warten und ,Gebt eure Stimmen bei uns ab!´“

Ursprünglich wollte ich im Titel auch noch unterbringen „Bleibt Untertanen“. Das war mir schließlich doch zu viel Sarkasmus. Oft schon hatten mir meine Freunde vorgeworfen, ich wäre viel zu kritisch.

Aber die beiden Muster müssen herausgestellt werden: „Auf Wunder warten“ ist Muster B), „Gebt eure Stimmen bei uns ab“ ist Muster A). Beide Muster schließen sich gegenseitig aus, metaphysisch wie „Entweder / Oder“. Und jedes der beiden Muster ist ein Tabu vor der Realität, denn die Realität ist in Bewegung. Wie soll da linke Politik gemacht werden? Wenn ich Partei-Linke darauf hin anspreche, meinen sie: Das Volk will nicht. Doch kann das Volk denn wollen, wenn ihm nicht geholfen wird? Wie soll das Volk erkennen, was ihm die Schule vorenthält?

Bis jetzt hat sich „Sozialistische Tageszeitung ND“ damit nicht befasst. Ausnahme ist ein Text von MdB Wolfgang Gehrke, MdB Diether Dehm und anderen am 24. April 2010.

Im April 2010 konnte ich in Chemnitz vor dreißig Interessenten sprechen, an einem Sonnabend Vormittag. Das waren wirklich Interessierte – einfache, intelligente Leute, auch außerparlamentarisch Engagierte. Da ich beim Reden in kein Papier zu schauen brauchte, konnte ich in die Gesichter blicken. Nur ein paar Zeilen von Friedrich Engels über das metaphysische Entweder/Oder las ich im Wortlaut vor, einfügend mein Wort vom Ziegelstein: Entweder er ist oder er ist nicht; allmählichen Übergang vom Ziegel in Nicht-Ziegel gibt es nicht, weder geometrisch noch zeitlich. Ist die Gesellschaft ein Ziegelstein?

Statt nach zwei Stunden zum Mittagessen zu eilen, wünschten die Teilnehmer eine weitere Stunde Befassung mit dem Thema. In kleinem Kreis wurde gar noch fünf Stunden lang fortgesetzt. Eingefädelt hatte alles mein Freund Wolfram Fischer, parteiloser Linker, Vorsitzender der Freidenker im Land Sachsen. Von einem Teilnehmer hörte ich: Du hast ja der Linkspartei ganz schön die Leviten gelesen. Ja, aber ich habe auch gesagt, dass Oskar zum eigentlichen Linken geworden ist und der Entwurf des Parteiprogramms mich hoffen lässt.

Doch Bisky sagt seinen Parteimitgliedern nichts als „Seid nett zueinander“. Und das wiederholt er, so am 30. Januar 2010 im ND unterm Titel „Versuch zur Verdächtigungskultur“ Dazu schrieb ich einen Leserbrief, der sogar veröffentlicht wurde:

„Verdächtigung? Leider ja, doch der Grund liegt tiefer.

Verdächtigungen entspringen nicht immer moralischen Fehlhaltungen. Sie entspringen vor allem, wenn Empfindlichkeit mit Mangel an politischer Bildung einhergeht. Nach der sog. Wende hätte sich bewähren müssen, dass die Erben von Marx und Lenin aus der Kenntnis der Werke jener ,Klassiker‘ denken und handeln, meinetwegen auch kritisch. Drumherumdrücken geht aber nicht. Doch wir kennen unsere Erblasser immer noch sehr schlecht. Auch unsre eigene Geschichte haben wir nur sehr oberflächlich inspiziert. Besonders fehlt es an Verständnis für die Dialektik aller gesellschaftlichen Entwicklung, an Verständnis der Unausweichlichkeit von Spaltungen in entgegengesetzte Tendenzen (Varianten) und an Verständnis für Kreativität zur Lösung von Widersprüchen. Kompromisse sind nur Notbehelf. Zur Überwindung von Widersprüchen ist Kreativität nötig. Das kann aber erlernt werden.

Das Defizit schließt nicht aus, dass jeder der Erben – meinetwegen kritisch – je einen Zipfel Wahrheit in seinen Händen hält. Da genügt es aber nicht zu rufen ,Seid nett zueinander´. Da genügt es nicht zu sagen ,Wir sind eine plurale Partei´. Ja worin sind wir denn ,plural‘? Das hat Professor Bisky nie ernsthaft gefragt. Und so bleibt jeder, der sich für einen Linken hält, ehrlichen Herzens überzeugt, sein Zipfelchen sei das Wahre. Die Ehrlichkeit seiner Überzeugung und die Leidenschaft, mit der er sie verficht, sind vielleicht sogar das Beste an ihm. Es war nicht verkehrt, dass wir Ehrlichkeit und Leidenschaft von jedem Mitglied der SED erwartet hatten.

Doch auch der Ehrliche und Leidenschaftliche spürte nicht und spürt auch heute nicht, was ihm an Bildung fehlt, an Kenntnis der Werke von Karl Marx, vor allem, an Kenntnis der Dialektik von Hegel und Marx. Es gab ab 1990 Versuche, auf die originalen Optionen von Marx und Rosa Luxemburg aufmerksam zu machen. Doch diese Versuche wurden in der PDS diskriminiert. Lothar Bisky ist immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden. Doch er blieb taub. Deshalb sind auch die Programm-Versuche der PDS in Beliebigkeit stecken geblieben. Ich fürchte, das bleibt weiter so: Wir schwindeln uns in die eigene Tasche, wie zu Zeiten der SED. Das habe ich leider dokumentieren müssen. Es genügt nicht, dass ein paar liberale Linke von ,Moderne‘ reden. Es genügt nicht, dass gesagt wird ,Gebt eure Stimme bei uns ab‘. Was wird dann mit dem Aufrechten Gang der Bürger? Ich bin bereit, mich auch im ND zum Weg aus der Krise zu äußern.“

Das war mein LB. Äußerungen dazu sind mir nicht bekannt geworden, auch nicht zum „Zipfel“-Syndrom, das sie „Pluralität“ nennen, um daran zu leiden. Umso lieber ist mir, in „Allmähliche Revolution....“ gezeigt zu haben: Das Fiasko ist überwindbar. Dort in Abschnitt 12.7 „Was wird mit der Linkspartei?“ und in Abschnitt 12.8 „Was ist mit linker Strategie?“ Wenn man will, könnte man das „Zipfel“-Syndrom loswerden. Und verstehen, dass die Bürger den Aufrechten Gang trainieren könnten. So würde man begreifen, wozu eine linke Partei gut ist.

Doch auch mein neues Buch enthält viel Theorie. Ein sehr erfahrener Freund sagt mir: Die meisten Linken wollen Verlautbarungen aufs Butterbrot. Aber du hast das viel zu feinsinnig gemacht.

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