Inhalt
Spuren im Wasser 9
Im Auge des Chaac 25
Finklbergs Plan 115
Dark Hole 277
Zu den Texten 323
Zitatennachweis 327 Biographische Angaben 329
Leseprobe: Spuren im
Wasser
„Beim Sonnenlicht, dies ist erstaunlich fremd.“
„So heiß’ als einen Fremden ihn willkommen.“
William Shakespeare:
Hamlet, Prinz von Dänemark
I
Es war am späten Nachmittag des siebenten
Tages. Die Sonne brannte und die immer stärker werdenden Wellen brachten
mehr als einmal das Boot fast zum Kentern. Elf Menschen waren an Bord der
Nussschale zusammengedrängt, inmitten der unendlich scheinenden Weite des
Meeres. Samir, der Bootsführer, war einmal Fischer gewesen. Als die
Ozeane sich zunehmend leerten und der Job nichts mehr abwarf, hatte er
begonnen, gegen Bezahlung Migranten nach Europa überzusetzen. Ein
hochriskantes Unterfangen, denn das Meer war gefährlich. Auch fackelten
Militär und Polizei nicht lange; so manch einer seiner Nachbarn war schon
auf Nimmerwiedersehen verschwunden oder erst nach längerer Zeit schwer
traumatisiert wiederaufgetaucht. Aber was sollte es: Frau und Kinder
mussten essen. Bisher konnte Samir winziger Kahn dem Küstenschutz stets
durch die Maschen schlüpfen. Das Boot war jedoch keinesfalls
hochseetauglich – bei stürmischer See war es schon mehrmals beinahe
gekentert. Samir pflegte daher sorgfältig die Wettermeldungen zu
studieren, ehe er zu seinen Unternehmungen startete. Auch diesmal hatte er
den Aufbruch zweimal verschoben, solange, bis es einigermaßen sicher
schien, dass die See in den nächsten Tagen ruhig sein würde. Anfangs hatte
auch alles geklappt; im Schutze der Nacht konnte er unbemerkt den von
Patrouillenboten frequentierten Bereich der Küstengewässer durchqueren.
Die Chancen standen also recht gut, die Insel zu erreichen, das Ziel der
Überfahrt, gelobtes Land aller, die Nordafrika für immer den Rücken kehren
wollten. Dafür hatten die Bootsinsassen bezahlt. Am zweiten Tag war
aber der Motor ausgefallen. Samir hatte noch eine ganze Weile versucht,
ihn wieder in Gang zu bringen. Und schließlich begriffen, dass ohne
Ersatzteile nichts zu machen war. Die hatte er nicht. Ein Funkgerät besaß
er ebenfalls nicht, auch kein Sattelitentelefon. Handys hatten hier
draußen auf See kein Netz. Als dann am vierten Tag das Wetter umschlug,
war ihm klar, dass es aus war. Mit dieser Erkenntnis wurde er
teilnahmslos, murmelte nur noch halblaut Suren aus dem Koran. Idriss
und Mouctar schöpften hingegen unverdrossen mit ihren Trinkbechern Wasser
aus dem Boot, improvisierten zwischendurch ein Segel, in der Hoffnung, der
Wind würde sie in Richtung Norden treiben. Es war Mouctars dritter
Versuch, ins gelobte Wunderland Europa zu gelangen. Mehreren seiner
Verwandten war die Überfahrt geglückt; sie arbeiteten inzwischen als
Tomatenpflücker in den Gewächshäusern Zentralspaniens. Er selbst hatte
Pech gehabt; die ersten beide Male war sein Boot aufgebracht worden. Nach
seiner letzten Flucht aus dem Internierungslager hatte er einen anderen,
abgelegenen Hafen als Ausgangspunkt für die Überfahrt gewählt und gemeint,
nun müsste es endlich klappen. Sein jüngerer Cousin Idriss hatte sich
entschlossen, es zusammen mit ihm zu versuchen. Khalil zählte gerade
erst acht Jahre und war allein unterwegs. Seine Mutter und all ihre
Verwandten waren in den Bürgerkriegswirren der Heimat umgekommen. Jetzt
suchte er seinen Vater, der irgendwo in Europa als Kellner arbeitete. Eine
Ansichtskarte, vor zwei Jahren aus einer Stadt namens Bielefeld geschickt,
konnte Khalil als einziges aus den Trümmern der heimatlichen Hütte retten.
Irgendwie war es ihm gelungen, sich über zwei Staatsgrenzen hinweg bis ans
Meer durchzuschlagen. Idriss und Mouctar, die aus einem Nachbarland kamen
und sich mit ihm verständigen konnten, hatten Mitleid mit dem heimatlosen
Jungen und bezahlten ihm die Überfahrt. Aus Dankbarkeit hatte er sich eng
an die die Beiden angeschlossen, ihnen anfangs auch geholfen, das Boot
flott zu halten. Irgendwann versagten dann seine Kräfte und er war
erschöpft in sich zusammengesunken. Roberto und Julia waren schon seit
dem Vormittag nicht mehr ansprechbar. Ganz zum Anfang hatten sie fröhlich
geschwatzt, voller Zuversicht, dass sie nach einigen Stunden Überfahrt an
Land gehen und in der neuen Heimat schnell Fuß fassen zu könnten. Ihre
Familien hatten all ihre Habe zu Geld gemacht, um ihnen den Weg aus dem
tiefsten Inneren Afrikas hin zur Küste und dann übers Meer zu finanzieren.
Roberto hatte von einem Job als Krankenpfleger geträumt, Julia von einem
geräumigen Haus und dem nächsten Kind. In den ersten Tagen hatten sie
jeden Tropfen Wasser ihrer Ration der zweijährigen Tochter eingeflößt.
Jetzt, wo es kein Wasser mehr gab, starrten sie nur noch hilflos und
verzweifelt auf ihr wimmerndes Kind. Auch Mamadou und Désiré rührten
sich nicht mehr. Die beiden waren die einzigen an Bord, die schon in
Europa gelebt hatten. Nach einem Studium in Paris kehrten sie damals als
Ingenieur und Biologin in ihre Heimat zurück. Der Bürgerkrieg hatte nach
einigen Jahren ihre Existenz zerstört. Mehrere Versuche, in verschiedenen
europäischen Ländern Asyl zu erhalten, waren gescheitert. Die
Auseinandersetzungen hatte man inzwischen offiziell für beendet erklärt;
die Verfolgung von Minderheiten, Folter und politische Morde gingen aber
weiter. Seit zwei Jahren erlebten die beiden einen Albtraum von
Internierungen und Abschiebungen: Jeder Staat, in dem sie sich in
Sicherheit wähnten, schickte sie umgehend über die Grenze irgendwohin
weiter. Der nunmehrige Versuch, illegal das Meer zwischen Afrika und
Europa zu überwinden, war eine Verzweiflungstat. In den ersten Stunden
nach Ausfall des Motors hatten das Paar Samir angeschrien und beschimpft,
verlangt, er solle das Boot sofort wieder auf Kurs bringen. Irgendwann
sahen sie schließlich die Aussichtslosigkeit solcher Ausbrüche ein und
verfielen in lähmendes Schweigen. Francisco und Maria hatten sich von
Anfang an möglichst abseits von den anderen gehalten und nur wenig
geredet. Maria erzählte irgendwann von ihren drei Kindern, die alle schon
erwachsen seien und in verschiedenen Ländern Europas lebten. Eine der
beiden Töchter habe ihr kürzlich aus einer Stadt namens Rotterdam Geld
geschickt und die Nachricht, dass sie nachkommen könne. Als der Motor
ausfiel und das Boot der Willkür der Wellen ausgeliefert war, hatte Maria
die Fotos ihrer Töchter und des Sohnes aus der Brieftasche geholt, auf die
sie seitdem starrte. Ihr Bruder Francisco schien völlig entrückt zu sein,
murmelte unverständliche Silben vor sich hin. Seine Hände umkrampften ein
in Leinwand eingeschlagenes dickleibiges Buch. Als Mouctar sich
plötzlich aufrichtete, in Richtung der sich neigenden Sonne starrte und
lauthals zu Schreien begann, hatten die anderen zuerst eine Halluzination
oder aber einen Hitzeschlag vermutet. Nirgendwo am Horizont zeigte sich
Land, überall nur meterhohe Wellen, deren Schaumkronen sich immer häufiger
das Innere des schon zur Hälfte vollgelaufenen Bootes ergossen. Nur wenige
Augenblicke später schrie aber auch Idriss, riss sich das Hemd vom Leibe
und begann verzweifelt zu Winken. In diesem Moment erblickten auch die
anderen ganz weit draußen die Umrisse eines Motorschiffs, das geradewegs
in ihre Richtung zu steuern schien...
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