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Gerd Bedszent


Spuren im Wasser

und andere Erzählungen

 

 

2020, 329 S., ISBN 978-3-86465-132-8, 16,80 EUR

 

lieferbar

 

 

 

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Inhalt

Spuren im Wasser 9

Im Auge des Chaac 25

Finklbergs Plan 115

Dark Hole 277


Zu den Texten 323
Zitatennachweis 327
Biographische Angaben 329

 

Leseprobe: Spuren im Wasser


„Beim Sonnenlicht, dies ist erstaunlich fremd.“
„So heiß’ als einen Fremden ihn willkommen.“

William Shakespeare: Hamlet,
Prinz von Dänemark

I


Es war am späten Nachmittag des siebenten Tages. Die Sonne brannte und die immer stärker werdenden Wellen brachten mehr als einmal das Boot fast zum Kentern. Elf Menschen waren an Bord der Nussschale zusammengedrängt, inmitten der unendlich scheinenden Weite des Meeres.
Samir, der Bootsführer, war einmal Fischer gewesen. Als die Ozeane sich zunehmend leerten und der Job nichts mehr abwarf, hatte er begonnen, gegen Bezahlung Migranten nach Europa überzusetzen. Ein hochriskantes Unterfangen, denn das Meer war gefährlich. Auch fackelten Militär und Polizei nicht lange; so manch einer seiner Nachbarn war schon auf Nimmerwiedersehen verschwunden oder erst nach längerer Zeit schwer traumatisiert wiederaufgetaucht. Aber was sollte es: Frau und Kinder mussten essen.
Bisher konnte Samir winziger Kahn dem Küstenschutz stets durch die Maschen schlüpfen. Das Boot war jedoch keinesfalls hochseetauglich – bei stürmischer See war es schon mehrmals beinahe gekentert. Samir pflegte daher sorgfältig die Wettermeldungen zu studieren, ehe er zu seinen Unternehmungen startete. Auch diesmal hatte er den Aufbruch zweimal verschoben, solange, bis es einigermaßen sicher schien, dass die See in den nächsten Tagen ruhig sein würde. Anfangs hatte auch alles geklappt; im Schutze der Nacht konnte er unbemerkt den von Patrouillenboten frequentierten Bereich der Küstengewässer durchqueren. Die Chancen standen also recht gut, die Insel zu erreichen, das Ziel der Überfahrt, gelobtes Land aller, die Nordafrika für immer den Rücken kehren wollten. Dafür hatten die Bootsinsassen bezahlt.
Am zweiten Tag war aber der Motor ausgefallen. Samir hatte noch eine ganze Weile versucht, ihn wieder in Gang zu bringen. Und schließlich begriffen, dass ohne Ersatzteile nichts zu machen war. Die hatte er nicht. Ein Funkgerät besaß er ebenfalls nicht, auch kein Sattelitentelefon. Handys hatten hier draußen auf See kein Netz. Als dann am vierten Tag das Wetter umschlug, war ihm klar, dass es aus war. Mit dieser Erkenntnis wurde er teilnahmslos, murmelte nur noch halblaut Suren aus dem Koran.
Idriss und Mouctar schöpften hingegen unverdrossen mit ihren Trinkbechern Wasser aus dem Boot, improvisierten zwischendurch ein Segel, in der Hoffnung, der Wind würde sie in Richtung Norden treiben. Es war Mouctars dritter Versuch, ins gelobte Wunderland Europa zu gelangen. Mehreren seiner Verwandten war die Überfahrt geglückt; sie arbeiteten inzwischen als Tomatenpflücker in den Gewächshäusern Zentralspaniens. Er selbst hatte Pech gehabt; die ersten beide Male war sein Boot aufgebracht worden. Nach seiner letzten Flucht aus dem Internierungslager hatte er einen anderen, abgelegenen Hafen als Ausgangspunkt für die Überfahrt gewählt und gemeint, nun müsste es endlich klappen. Sein jüngerer Cousin Idriss hatte sich entschlossen, es zusammen mit ihm zu versuchen.
Khalil zählte gerade erst acht Jahre und war allein unterwegs. Seine Mutter und all ihre Verwandten waren in den Bürgerkriegswirren der Heimat umgekommen. Jetzt suchte er seinen Vater, der irgendwo in Europa als Kellner arbeitete. Eine Ansichtskarte, vor zwei Jahren aus einer Stadt namens Bielefeld geschickt, konnte Khalil als einziges aus den Trümmern der heimatlichen Hütte retten. Irgendwie war es ihm gelungen, sich über zwei Staatsgrenzen hinweg bis ans Meer durchzuschlagen. Idriss und Mouctar, die aus einem Nachbarland kamen und sich mit ihm verständigen konnten, hatten Mitleid mit dem heimatlosen Jungen und bezahlten ihm die Überfahrt. Aus Dankbarkeit hatte er sich eng an die die Beiden angeschlossen, ihnen anfangs auch geholfen, das Boot flott zu halten. Irgendwann versagten dann seine Kräfte und er war erschöpft in sich zusammengesunken.
Roberto und Julia waren schon seit dem Vormittag nicht mehr ansprechbar. Ganz zum Anfang hatten sie fröhlich geschwatzt, voller Zuversicht, dass sie nach einigen Stunden Überfahrt an Land gehen und in der neuen Heimat schnell Fuß fassen zu könnten. Ihre Familien hatten all ihre Habe zu Geld gemacht, um ihnen den Weg aus dem tiefsten Inneren Afrikas hin zur Küste und dann übers Meer zu finanzieren. Roberto hatte von einem Job als Krankenpfleger geträumt, Julia von einem geräumigen Haus und dem nächsten Kind. In den ersten Tagen hatten sie jeden Tropfen Wasser ihrer Ration der zweijährigen Tochter eingeflößt. Jetzt, wo es kein Wasser mehr gab, starrten sie nur noch hilflos und verzweifelt auf ihr wimmerndes Kind.
Auch Mamadou und Désiré rührten sich nicht mehr. Die beiden waren die einzigen an Bord, die schon in Europa gelebt hatten. Nach einem Studium in Paris kehrten sie damals als Ingenieur und Biologin in ihre Heimat zurück. Der Bürgerkrieg hatte nach einigen Jahren ihre Existenz zerstört. Mehrere Versuche, in verschiedenen europäischen Ländern Asyl zu erhalten, waren gescheitert. Die Auseinandersetzungen hatte man inzwischen offiziell für beendet erklärt; die Verfolgung von Minderheiten, Folter und politische Morde gingen aber weiter. Seit zwei Jahren erlebten die beiden einen Albtraum von Internierungen und Abschiebungen: Jeder Staat, in dem sie sich in Sicherheit wähnten, schickte sie umgehend über die Grenze irgendwohin weiter. Der nunmehrige Versuch, illegal das Meer zwischen Afrika und Europa zu überwinden, war eine Verzweiflungstat. In den ersten Stunden nach Ausfall des Motors hatten das Paar Samir angeschrien und beschimpft, verlangt, er solle das Boot sofort wieder auf Kurs bringen. Irgendwann sahen sie schließlich die Aussichtslosigkeit solcher Ausbrüche ein und verfielen in lähmendes Schweigen.
Francisco und Maria hatten sich von Anfang an möglichst abseits von den anderen gehalten und nur wenig geredet. Maria erzählte irgendwann von ihren drei Kindern, die alle schon erwachsen seien und in verschiedenen Ländern Europas lebten. Eine der beiden Töchter habe ihr kürzlich aus einer Stadt namens Rotterdam Geld geschickt und die Nachricht, dass sie nachkommen könne. Als der Motor ausfiel und das Boot der Willkür der Wellen ausgeliefert war, hatte Maria die Fotos ihrer Töchter und des Sohnes aus der Brieftasche geholt, auf die sie seitdem starrte. Ihr Bruder Francisco schien völlig entrückt zu sein, murmelte unverständliche Silben vor sich hin. Seine Hände umkrampften ein in Leinwand eingeschlagenes dickleibiges Buch.
Als Mouctar sich plötzlich aufrichtete, in Richtung der sich neigenden Sonne starrte und lauthals zu Schreien begann, hatten die anderen zuerst eine Halluzination oder aber einen Hitzeschlag vermutet. Nirgendwo am Horizont zeigte sich Land, überall nur meterhohe Wellen, deren Schaumkronen sich immer häufiger das Innere des schon zur Hälfte vollgelaufenen Bootes ergossen. Nur wenige Augenblicke später schrie aber auch Idriss, riss sich das Hemd vom Leibe und begann verzweifelt zu Winken. In diesem Moment erblickten auch die anderen ganz weit draußen die Umrisse eines Motorschiffs, das geradewegs in ihre Richtung zu steuern schien...

 

 

 

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