Leseprobe
Es war, als ob Anna gewusst
hätte, was sie in der Kindheit und Jugend erwartete. So verstrich der
errechnete Termin um einige Tage und als die Wehen endlich einsetzten,
erwies sich die Geburt als so langwierig und schwierig, dass Arzt und
Hebamme sie gewaltsam mit der Saugglocke in das Licht des Kreißsaals
ziehen mussten.
Anna wurde am 03. Januar 1930 in einem katholischen
Krankenhaus in Duisburg geboren. Es war eine politisch verwirrende Zeit in
Deutschland. Eine Zeit, in der Hitler im Volk immer mehr Akzeptanz fand.
Politische Parteien waren miteinander so zerstritten, dass vorauszusehen
war, dass Hitler zunächst ganz legal die politische Macht im Lande
übernehmen würde, was dann im Januar 1933 auch zutraf. Obwohl man sowohl
seinem Buch „Mein Kampf“ als auch seinen öffentlichen Reden entnehmen
konnte, was er mit „seinem deutschen Volk“ vorhatte, unterstützte die
Mehrheit der Deutschen seine Ernennung zum Reichskanzler. Annas Eltern
waren, wie viele andere Eltern damals, nicht nur konservativ, sondern sie
waren auch gläubige Katholiken. Sie nahmen ihre Religion ernst und
besuchten regelmäßig die Kirche. Ihr Vater war Bergmann und ihre Mutter
Hausfrau. Damals durften die Frauen in Deutschland ohne Erlaubnis ihrer
Männer keiner außerhäuslichen Tätigkeit nachgehen, da Millionen Menschen
arbeitslos waren. Ehemänner, die aus finanzieller Not ihre Frauen arbeiten
ließen, wurden von den Nachbarn und ihren Geschlechtsgenossen
diskriminiert. Zu dieser Zeit spielte bei Männern in Deutschland das Wort
„Ehre“ eine große Rolle. Der Verlust der männlichen Ehre schien den
Männern unvorstellbar schrecklich zu sein. Mit sechs Jahren wurde Anna
in die damalige Volksschule eingeschult. In der Schule hatte sie keine
großen Schwierigkeiten. Sie war zwar nicht die Klassenbeste, aber ihre
Noten lagen etwas über dem Durchschnitt der Klasse. Als sie 1943 die
Volksschule beendete, hielt sie ihre Klassenlehrerin für
realschultauglich. Sie sollte eine Realschule für Mädchen besuchen. Damals
waren die weiterführenden Schulen nach Geschlechtern getrennt, wie es
heute in vielen arabischen und einigen anderen islamischen Staaten immer
noch der Fall ist. Anna freute sich auf die neue Schule. Kaum hatte
das zweite Schuljahr in der weiterführenden Schule angefangen, musste der
Unterricht wieder eingestellt werden. Der Grund war der Zweite Weltkrieg.
Er begann mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen. In den ersten
zwei Jahren war der Krieg für Deutschland erfolgreich. Die Staaten im
Westen und auf dem Balkan wurden von Hitlers Armee besetzt. Mit dem
Angriff auf Russland begann der militärische Niedergang Deutschlands. Die
Verluste an deutschen Soldaten an der Ostfront wurden immer größer und
Millionen junge Männer starben auf beiden Seiten. Mit dem Eingreifen der
USA und Englands erlitt auch im Westen Hitlers Armee große Verluste. Die
Westmächte bombardierten an erster Stelle die industrialisierten Gebiete.
Dazu gehörte natürlich nicht nur die Stahlindustrie in der Stadt Duisburg,
sondern fast das ganze Ruhrgebiet. Schon von den ersten Bomben in Duisburg
war unter anderem auch die Realschule betroffen, in der Anna Schülerin
war. So konnte kein Unterricht mehr stattfinden. Durch die Bomben der
Westmächte starben nun auch viele Zivilisten in den Städten. Da Millionen
junger Soldaten gefallen waren und es kaum noch junge Männer gab, wurden
nun auch nicht volljährige Kinder in den Krieg geschickt. Auch Frauen
mussten an die Front, um den verletzten Soldaten erste Hilfe zu leisten.
Mit dem Beginn der Bombardierung des Ruhrgebiets durch die USA und die
Engländer und ihre Verbündeten nahm die Zahl der getöteten
Zivilbevölkerung enorm zu. Die Verletzten füllten die Krankenhäuser, in
denen auch in Duisburg Personalmangel herrschte. Um ihnen schnell zu
helfen, wurde jungen Mädchen in eilig eingerichteten Kursen beigebracht,
wie sie erste Hilfe leisten können. Darunter war auch die noch nicht mal
vierzehnjährige Anna. Da sie katholisch war, wurde sie dem katholischen
Krankenhaus zugeordnet. Bei einer sehr heftigen und lang andauernden
Bombardierung traf eine Bombe das Haus, in dem Annas Eltern lebten. Anna
war währenddessen im Krankenhaus, um dort Verletzte zu versorgen. Nur
deshalb blieb sie verschont. Ihre Eltern starben im Bombenhagel. Anna
hatte zwei ältere Brüder, die schon 1941 einberufen worden waren. Sie
kämpften zuletzt in Russland. Bis 1943 erhielt die Familie Briefe von
ihnen, danach nicht mehr. Anna hat nie erfahren können, was mit ihren
Brüdern geschah. Viele Jahre später wurden sie für tot erklärt. Der
Tod ihrer Eltern brachte das Leben des jungen Mädchens durcheinander. Das
Haus war nicht mehr bewohnbar. Sie hatte nun kein Dach mehr über dem Kopf.
Neben dem katholischen Krankenhaus gab es ein Kloster, in dem die Nonnen
lebten, die in diesem Krankenhaus arbeiteten. In der Bevölkerung hieß
dieses Kloster „Nonnenheim“. Als Annas Eltern starben und sie nun keine
Bleibe mehr hatte, nahm die leitende Nonne Anna mit Zustimmung des
Jugendamtes der Stadt Duisburg in ihre Obhut. Anna war froh, dass sie in
dem Kloster wohnen durfte. Von diesem Tag an war die Heimleiterin Annas
rechtlicher Vormund. Anna arbeitete in dem Krankenhaus zunächst als
Aushilfe und später machte sie dort eine Ausbildung zur Krankenpflegerin.
Als sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, wurde sie sofort übernommen.
Die für sie verantwortliche Nonne schätzte sie sehr. Anna war zuverlässig
und tat alles, was man von ihr verlangte. Sie wollte unbedingt eine
Ausbildung zur Krankenschwester machen. Das ging aber zunächst nicht, weil
man damals für eine Krankenschwester Ausbildung einen Realschulabschluss
verlangte, den sie aber nicht hatte. Anna war traurig, dass sie diese
Ausbildung nicht machen durfte. Sie gab aber nicht auf und bat die
leitende Krankenschwester, ihren Vormund, bei jeder Gelegenheit, sich beim
zuständigen Gremium des Krankenhauses für sie einzusetzen. Darum bat sie
immer, wenn sie für ihre zuverlässige und liebevolle Pflege gelobt wurde.
Durch die Fürsprache der leitenden Krankenschwester erkannte das Gremium
Annas Ausbildung als Krankenpflegerin schließlich als Ersatz für den
Realschulabschluss an und Anna konnte die gewünschte Ausbildung machen.
Sie war überglücklich und der leitenden Krankenschwester dankbar dafür,
dass sie sich für sie eingesetzt hatte. Die Ausbildung beendete Anna 1951
und wurde dann als Krankenschwester wieder übernommen. Knapp zwei Jahre
später wurde sie volljährig und durfte nun eigentlich nicht mehr im
Kloster wohnen. Da sie eine treue, zuverlässige und fleißige Mitarbeiterin
und auch bei allen Nonnen beliebt war, machte man für sie eine Ausnahme.
Das war gut, denn sie hatte keine Verwandten mehr in Duisburg und hatte
noch nie allein gewohnt. Sie fühlte sich auch noch nicht reif genug dafür.
Sie fühlte sich im Heim wohl. Die Fürsorge der Nonnen gab ihr Sicherheit.
Zudem verdiente sie als Krankenschwester nicht so viel Geld, dass sie sich
eine Wohnung leisten konnte. Zu dieser Zeit waren Wohnungen sehr knapp,
denn viele Häuser wurden während des Krieges zerstört. Die neu gebauten
Wohnungen reichten noch nicht für alle Bürger der Stadt. Daher war sie der
leitenden Schwester sehr dankbar dafür, dass sie als volljährige Frau im
Schwesterwohnheim bleiben durfte. Im Kloster zu wohnen hatte aber für Anna
den Nachteil, dass sie als Krankenschwester immer einsatzbereit sein
musste. Es herrschte immer noch Personalmangel. So musste sie zwölf
Stunden täglich und an manchen Tagen sogar noch länger arbeiten. Als
der Zweite Weltkrieg im Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation
Deutschlands zu Ende ging, lag das Land in Trümmern. Die Industrie und die
Großstädte waren zerstört. Deutschland wurde in eine Ost- und eine
Westzone geteilt. Die Ostzone gehörte zum russischen und die Westzone zum
Einflussbereich der Amerikaner und ihrer Verbündeten. Denn Deutschland war
zu der Zeit von den Siegermächten besetzt. Dieser schreckliche Krieg
brachte den Menschen viel Leid. Mit dem Ende des Krieges herrschte
jahrelang Hungersnot. Der Staat versuchte zwar, die Bürger ausreichend mit
Lebensmitteln zu versorgen, trotzdem reichte es vorne und hinten nicht.
Erst mit Beginn der 1950er Jahre gab es wieder genug Lebensmittel. Danach
ging das Wirtschaftswachstum steil nach oben. Zu dieser positiven
Entwicklung trugen die finanziellen Hilfen der US-Amerikaner stark bei.
Später sprach man von dieser Zeit als „Wirtschaftswunder“.
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