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Petra Werner
Sirène macabre oder Das goldene Kind
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2019, Kriminalroman, trafo Literaturverlag, 359 S., ISBN 978-3-86465-098-7, 14,80 EUR
lieferbar |
Zum Buch
Am Strand von Rogowo, in der Nähe der polnischen Stadt Kołobrzeg, wird die Leiche eines etwa 17 jährigen Mädchens gefunden. Auffällig sind ihr langes, blondes Haar und die goldfarbene, teure Kleidung. Sie ist die schönste Tote, die jemals am Ostseestrand gefunden wurde, im wahrsten Sinne des Wortes ein „goldenes Kind“, wie in Polen Kinder reicher Geschäftsleute genannt werden, die materiell verwöhnt, aber seelisch verwahrlost sind. Niemand kennt das Mädchen, wahrscheinlich gehört sie zu jenen geheimnisvollen Fremden, die das Festival „Endlich am Meer“, das jährlich in der Nähe stattfindet, besuchten. Ihr Tod gibt Rätsel auf, denn ihr Körper hat Stichwunden, die nicht Todesursache sein konnten. Wurde sie ermordet oder war es ein Unfall? Steht ihr Ende mit anderen Verbrechen im Zusammenhang?
Der erfahrene Oberkommissar Sandacz, der kurz vor der Pensionierung
steht, und seine Mitarbeiterin Danuta Schulze, die gerade die
Polizeischule verlassen
hat, recherchieren gründlich. Der Kreis der Verdächtigen erweitert sich immer mehr...
Leseprobe 1. Die Tote, die am Strand der Ostsee gefunden wurde, wirkte wie ein Wesen aus der Welt von Feen und Elfen. Sie trug einen goldfarbenen Büstenhalter, einen ebensolchen Slip, darüber ein Kleid aus dünnem, halbdurchsichtigen Stoff, der ebenfalls goldfarben schimmerte. Dazu gehörten sehr hochhackige goldene Schuhe, höher als jene, die Aschenputtel jemals auf einem Ball getragen hatte. Ihr langes Haar, das von blondestem Blond war, fiel ihr wellenförmig über den Rücken, das Gesicht hatte sich in den Sand gebohrt, als habe sie sich in ihren letzten Lebensminuten vom Himmel abwenden wollen, vom heraufziehenden Tag, vom Leben überhaupt. Es war am Morgen gegen 10:00 Uhr, als die Polizei am Strand eintraf. Ein Mann von 63 Jahren namens Sandacz, was „Zander“ heißt, leitete als Oberkommissar der Mordkommission Kołobrzeg die Ermittlungen. Kleinere Fälle, solche, die nicht ins Ausland führten und zu dem gehörten, was man die internationale Kriminalität nannte, wurden in Kołobrzeg bearbeitet. Jedenfalls bisher. Man konnte nie sicher sein, ob nicht doch am Ende die Kollegen aus Szczecin die Bearbeitung aller fraglichen Todesfälle übernehmen würden, denn es hatte in letzter Zeit immer wieder Umstrukturierungen im Polizeiapparat gegeben. Gerade kürzlich war der zuständige Chef des zentralen Büros für Investigation, CBSP, abgelöst worden, auch Vorschriften zur Überwachung wurden ständig geändert und es wurde immer schwieriger, auf dem Laufenden zu bleiben. Sandacz sah für sein Alter gut aus. Er war groß, wenngleich leicht gebeugt und mit Bauch, und hatte ein markantes Gesicht, in dem drei parallel verlaufende Falten auffielen, die sich halbmondförmig von der Nase bis zum Kinn hinzogen. Wenn er mürrisch war, was zuweilen vorkam, konnte man den Eindruck gewinnen, in seinem Gesicht spiegele sich sein ganzes Leben im Polizeidienst ab. Das Haar trug er stoppelkurz und sein Kopf hatte, wenn man ihn von der Seite betrachtete, die Form einer Halbschale. Oben gab es seitlich zwei Höcker, aus denen jederzeit Hörner wachsen konnten. Seine Augen waren groß und grau, damit blickte er sein Gegenüber für gewöhnlich prüfend an. Wenn er lachte, zeigte er seine makellosen Zähne, wirkte harmlos wie ein Kind, wenn er allerdings ernst blieb und dabei die buschigen Augenbrauen zusammenzog, ähnelte er einem verärgerten russischen General. Weil er es vermochte, von einer Minute zur andern seinen Gesichtsausdruck zu ändern und es trotz der Augenbrauen sogar vermochte, feine Eleganz auszustrahlen, hatte ihm jemand in der Jugend geraten, Schauspieler zu werden. Aber was sollte es bringen, andere Männer nachzumachen? So hatte er sich nach dem Abitur, als es ernst wurde mit der Berufswahl, gefragt, was er am liebsten tat und kam in einem Gespräch mit seinem Vater, einem alten Milizionär, auf die Jagd. Sie war seine eigentliche Passion: für ihn schwang in den Wörtern „Jagd“ und „Jagen“ eine ganze Welt mit, die das Fischen, die Jagd auf verschiedene Wildarten und sogar das Pilze-Suchen und das Graben nach Trüffeln einschloss. Besonders begeisterte ihn das Angeln, die Auswahl des Köders. In seiner Wohnung hingen mehr als dreißig Angeln an der Wand und er besaß mehrere Kisten mit Ködern, darunter Gummifische aller Größen. Dabei interessierte ihn nicht die Beute, nicht die Größe des Fanges, sondern der Prozess, der Vorgang, das Warten, das Suchen, die Beurteilung, ob sich gerade in diesem See Hechte aufhalten und wann, ob im Walde am Geruch zu erkennen war, dass es hier Steinpilze oder gar Trüffel gibt, der Genuss des Lauerns, das Auf-die-Spur-kommen, das Einkreisen der Beute. Das Ziel konnte auch die Enttarnung von Verbrechern sein. Warum also nicht Kriminalpolizist werden? Dann darfst du aber keine Angst vor menschlichen Abgründen haben, hatte ihn sein Vater gewarnt. Eine ewige Jagd – so hatte sich Sandacz die Arbeit bei der Kriminalpolizei vorgestellt. Leider stimmte das nur manchmal. In Momenten, in denen es interessant wurde, nahm sein Gesicht den Ausdruck angespannter Ruhe an, seine ganze Person bekam etwas Lauerndes. Nun stand er wieder vor einer Leiche. Im Laufe seines langen Polizistenlebens hatte er schon viele Tote gesehen: junge, alte, dicke, dünne, nackte und angezogene, solche mit Glatze und Haar, das so lang war, dass es sich um die Hüfte der Leiche gewickelt hatte. Es waren Menschen, die das Meer ausgespuckt hatte. Sie waren von einem Fischerboot bei Sturm ins Meer gespült worden und ertrunken, auf See verstorben oder ermordet worden, die meisten aber waren Selbstmörder. Was die Selbstmörder anging, so hatte Sandacz so viel Erfahrung, dass er sich in den meisten Fällen nach einem ersten Blick auf die Leiche ein Urteil darüber zutraute, ob es sich um Selbstmörder aus Liebe oder Verzweiflung handelte. Selten, so glaubte er jedenfalls, hatte er sich geirrt. Aber was würde ihm solches Wissen nützen, wenn er bald in Pension ging? Gab es nicht jenseits der vom Tod entstellten Gesichter, jenseits von Motiven wie Habgier, Wut und Dummheit noch so viel Schönes auf der Welt? Gab es nicht seit Jahrhunderten Menschen, die den Strand gemalt hatten oder das Meer, seine Tiefen erforscht und es sogar in Erzählungen und Gedichten besungen hatten? Solche Gedanken machte er sich in letzter Zeit besonders häufig, denn seine Monate im Polizeidienst waren gezählt, schon hatte man ihm eine junge Kollegin zugeteilt, die er anlernen sollte, was immer das hieß. Die Füße, die ihn hinaustragen würden, standen bereits vor der Tür.
Auch die Gerichtsmedizinerin, Marta Karlowa, mit der der Oberkommissar schon seit Jahren zusammenarbeitete und der er vertraute, war für eine erste Begutachtung zum Strand gekommen. Sie hatte ebenfalls schon viele Tote gesehen, meist alte Männer, die, benebelt vom Alkohol, von irgendeiner Seebrücke gefallen waren und bei denen unklar war, ob sie jemand gestoßen hatte oder sie einfach nur gestürzt waren. Es gab auch junge Frauen, die ihr Kind bei einem Unfall verloren hatten, die meisten aber waren ältere Frauen, die von ihren Verwandten aus Habgier erstochen worden waren oder jene, die durch Selbstmord einer schweren Krankheit oder der Einsamkeit hatten entgehen wollen. Das Mädchen hier war ungewöhnlich und das sagte Frau Dr. Karlowa auch sofort. Sie lag da, als hätte sie jemand für ein Foto drapiert. Es war die schönste Tote, die jemals am Strand von Rogowo gefunden worden war. Da sie keine Ausweispapiere bei sich trug und sie niemand als vermisst gemeldet hatte, konnte sie nicht identifiziert werden. Keiner kannte sie und nun überlegten alle, ob es sich um eine Einheimische, also eine Polin, oder eine Ausländerin handelte. In Rogowo kannte man sich, aber es gab auch Touristinnen. Diese schöne Frau wäre wohl aufgefallen. Die Gerichtsmedizinerin wusste, wie man das Alter unbekannter Toter schätzt – man ließ sich nicht vom Gesicht täuschen, sondern besah sich den Hals und die Fingerkuppen. Danach konnte sie höchstens 17 Jahre alt sein. Aber schon bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes begannen die Unsicherheiten. Das müsste die Obduktion ergeben, nach erster Schätzung war sie mindestens 24 Stunden tot. Auf alle Fälle war sie eine Frau, die alles tat, besser gesagt, getan hatte, um ihre Schönheit zu betonen: sie hatte nicht nur ihr Haar gebleicht und künstlich verlängert, sondern trug auch farbige Haftschalen, um das Blau ihrer Augen noch mehr hervorzuheben. Sie war sorgfältig geschminkt und erst kürzlich waren Nase und Kinn korrigiert worden, die Narben deuteten darauf hin. Waren sie ihr erst nach dem Tode zugefügt worden? Vor allem: woran war sie gestorben? Offensichtlich hatte sie sich den Knöchel verletzt, aber da man daran nicht stirbt, forschte die Gerichtsmedizinerin weiter und konnte schließlich äußerlich zwei Einstichstellen entdecken, eine kleinere zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbel, die wohl von einer Spritze herrührte und eine größere am Rücken in Herzhöhe. Die größere Einstichstelle war besonders markant, jemand hatte der jungen Frau mit einem spitzen Gegenstand im wahrsten Sinne des Wortes das Herz durchbohrt. Dennoch hegte die Gerichtsmedizinerin Zweifel daran, dass sie tatsächlich an dem Einstich verstorben war. Tatsächlich würde sich später bei der Obduktion herausstellen, dass ihre Lungen schwer und mit Flüssigkeit gefüllt waren, sie also im Salzwasser ertrunken war. Aber wann genau war das geschehen und warum dieser Herzstich? Wer hatte sich so viel Mühe gemacht? Diesmal war sich Sandacz nicht sicher, was es mit der Toten am Strand der Ostsee auf sich hatte. Wer war sie? Man hatte sie in Rogowo gefunden. Hier, normalerweise ein Ort mit wenigen Einwohnern, in dem die deutsche, die russische und die polnische Armee ihre Spuren hinterlassen hatten, fand gerade das Festival „Plötzlich am Meer“ statt. An ihm hatte das Mädchen möglicherweise teilgenommen. Diese Veranstaltung zog junge Leute aus der ganzen Welt an, hauptsächlich aber aus Polen und Deutschland, die am Strand campierten, also in keinem Hotel wohnten und daher nicht bei der Polizei gemeldet waren. Außerdem war das Festival bereits zu Ende. Der kleine Ort würde wieder das werden, was er den größten Teil des Jahres war – ein unscheinbares Dorf mit vielen Arbeitslosen, in dem man das ganze Jahr über vom Fischen und im Sommer von den wenigen Touristen lebte. ...
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