Zum Buch
Marie Steinhagen, geboren zu Beginn der
„Goldenen Zwanziger“, erinnert Stationen ihres Lebens. An einem
Spätsommernachmittag fragt sie sich, über den „Mittag“ ihres Lebens bereits
hinaus, wieviele der Jugendträume übriggeblieben sind, welches Recht sie als
alternde Frau überhaupt hat, für sich selbst noch einmal ein neues Leben und
damit die Liebe zu wollen.
So spannt sich ein weiter Bogen von der
Kindheit und Jugend einer Thüringer Großbauerntochter, einer geschiedenen
Frau, bis zur Genossenschaftsbäuerin, bis zur Tagelöhnerin.
Ein deutsches Frauenschicksal, bestimmt
durch Weltkrieg, Teilung, Maueröffnung und Wende wird schlaglichtartig
erhellt, unabgegoltene Vergangenheit bestimmt Gegenwärtiges. Große Teile
über den DDR-Dorfalltag sind bereits um 1980 entstanden und unter dem Titel
Spätsommernachmittag erschienen.
Geschichten zum Schmunzeln, komische sowie
ernste Situationen wechseln mit magischen Momenten, die die Menschen im
abgezirkelten Thüringer Flusstal berühren.
Die Illustrationen von Teresa Trauth,
verwunschen, voller Rätsel, bieten vielfältige Deutungen, erweitern den
Blick.
Vorspann
Blaue Seide weht im Frühlingswind hoch oben auf der nackten Bergkuppe, setzt
sich im Blau darüber fort, so als hätte der Himmel mit diesem langen Band am
Hals der Frau ein Stück von sich selbst hergegeben, um sie in seine
traumblauen Fernen zu locken.
So steht die
schmale Gestalt auf dem Felsen und blickt in das Tal. Das Seidenband tanzt
um ihre schwarzen langen Kleider, mit einer Hand schirmt sie die Augen vor
der Sonne ab, am Ringfinger glänzt ein Bergkristall, zackig, ein Brennglas.
Der Wind wird stärker, fährt in lange offene Haare, deren Farbe in dieser
Sonnenbeleuchtung nicht auszumachen ist; blondgrauweiß. Das längliche
Gesicht, die hohe Stirn, die griechische Nase mit dem kleinen Höcker, die
leicht geöffneten Lippen scheinen alterslos. Die Frau singt, Worte bleiben
unverständlich im Wind. Ihr Blick ist unverändert ins Tal gerichtet, saugt
da unten das neugeborene Grün, vielfarbig, würzig, in sich auf. Ihre
Nasenflügel weiten sich, riechen den Duft lockender junger Blüten, auf ihrer
Zunge schmeckt die Frau deren süßen Nektar, den Blütenhonig, von dem sie
schon vor uralten Zeiten als Kind
gelutscht hatte.
Da unten erstrecken sich weite gelbe Rapsfeldteppiche, auf denen die
Strahlen der bereits heißen Mittagssonne lasten. Die Blicke der Frau wandern
weiter zu den Wiesen mit den grasenden Kühen, Lebewesen, die vorgestern und
übermorgen dort wie drapiertes Spielzeug immer gleich erscheinen. Da hinten
wieder ein Band, diesmal nicht blau, sondern silbrig schimmernd; die
Flussschlange, die alle hier über die Zeiten hinweg hält.
Die Frau im
fremden Licht, fast durchsichtig, scheinbar ohne Alter, nimmt das
bewegungslose Wasser von da oben bewegungslos wahr, das wie mit einem fetten
Pinselstrich durchgehend gezogen erscheint. Doch sie weiß, ganz nah,
inmitten des Wassers stehend, würde sie seine Kräfte spüren, die ziehende
Flut würde sie mitreißen können und auch nach ihr noch viele. Wenn sie genau
hinsieht, kann sie sogar als kleines dunkles Rechteck die Brücke sehen. Die
erscheint aus der Höhe wie zu Urzeiten, aus alten Steinen in Handarbeit
zusammengefügt, stark und doch zierlich. Würde die fremde Frau sie jedoch
betreten, hätte sie sich in eine hässliche, bestenfalls unscheinbare
industriell geformte Betonbrücke verwandelt, deren Bau jetzt, mitten im
zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, notwendig geworden war. Die alte
Naturbrücke war im alten Jahrtausend als Brücke für Panzer missbraucht
worden, zerschunden von Kriegsmaschinerie und zu Zeiten der DDR von globigen,
ratternden Mähdrescherungetümen.
So ist das eben mit den verschiedenen Blickwinkeln; manchmal tut es gut,
ganz nahe an die Dinge heranzukommen, manchmal bringt jedoch eher die Ferne
den für die Menschen so notwendigen Glauben an Liebgewordenes.
Die Frau auf dem Felsen weiß um die Vergänglichkeit, dieses Tal hat schon
viele Reiche gesehen, den braunen Spuk, die kleine Talheimat in der DDR, die
die unüberwindlichen Landesgrenzen vergessen ließ. Aber auch heute, trotz
der großen Angst der kleinen Talmenschen vor Terrorakten, Religionskriegen
und vor der Gier der Mächtigen nach Geld und damit Weltherrschaft würde das
Tal seine Bewohner beschützen. Und ewig würde das Grün wieder hervorkriechen
aus scheinbar toter Erde, gewärmt von den Strahlen der Brutglockensonne.
Immer wieder neu, solange die kleine Dorfkirche bestand, würde sie am Tag
der Sommersonnenwende den Strahlenkranz der Heiligenfigur über dem Altar wie
ein Blitz treffen.
Die Frau zieht den langen blauen Schal fester um die Schultern, will jetzt
hinabsteigen zu ihrer Kirche, zur alten Friedhofsmauer nahe dem Grab der
dreizehn unbekannten KZ-Häftlinge. Sie will wissen, ob es das Loch inmitten
der Steine noch gibt, durch das sie als Kinder steigen konnten, um gleich
dahinter die süßen Kirschen in ihre Münder zu stopfen. Die Fremde gesteht
sich ein, es gab sie einmal hier, in einem ersten Leben. Würde sie den Platz
ihrer Kindheit wiederfinden?
Unten angekommen, verwandelt sich die Frau in eine von den anderen, blauer
Schal und Bergkristall leuchten nicht mehr, die Friedhofsmauer ist in den
Schatten des gewöhnlichen Lebens getaucht.
Abspann
Blaue Seide weht im Frühlingswind
hoch oben auf der nackten Bergkuppe, setzt sich im Blau darüber fort, so als
hätte der Himmel mit diesem langen Band am Hals der Frau ein Stück von sich
selbst hergegeben, um sie in seine traumblauen Fernen zu locken.
So steht die schmale Gestalt auf
dem Felsen und blickt in das Tal. Das Seidenband tanzt um ihre schwarzen
langen Kleider, mit einer Hand schirmt sie die Augen vor der Sonne ab, am
Ringfinger glänzt ein Bergkristall, zackig, ein Brennglas.Der Wind wird
stärker, fährt in lange offene Haare, deren Farbe in dieser
Sonnenbeleuchtung nicht auszumachen ist; blondgrauweiß. Das längliche
Gesicht, die hohe Stirn, die griechische Nase mit dem kleinen Höcker, die
leicht geöffneten Lippen scheinen alterslos. Die Frau singt, Worte bleiben
unverständlich im Wind. Ihr Blick ist unverändert ins Tal gerichtet, das
auch im letzten Jahrhundert bis nun schon weit über die Jahrtausendwende
hinaus die Hoffnungen mehrerer emsiger kleiner Bienenvölker in sich
aufgenommen hat.
Da gab es die Suche nach
unauffindbaren Verstecken während der Weltkriege, das Beten für das Ende der
Massenmorde und das Warten auf den Beginn einer neuen Zeit in Träumen vom
Glück des Alltäglichen. Das fleißige Talvolk begann zu schuften, zu sammeln,
zu bauen. Und wieder betrogen von den Mächtigen, machten sich die Menschen
daran, Löcher in ihre Friedhofsmauer zu höhlen, um an die süßen Kirschen
dahinter heranzukommen.
Endlich konnten sie heraus aus den Mauern! Waren frei wie Zugvögel. Doch
neue Gefahren bedrängten sie in ihrer vogelfreien Höhenluft. Die große
giftige Drachenwelt war hereingebrochen in ihr unschuldiges Tal. Es schien,
als hätte Mephisto wieder einmal so viel Papiergeld über die Mächtigen
geworfen, dass deren unermessliches Kapital nach verbrecherischem Einsatz
förmlich schrie, überall auf dem Globus.
„Und doch!“ die leuchtend blaue Frau da oben streicht über den Bergkristall
an ihrem Finger. Sie weiß, den kleinen Menschen da unten bleibt nichts
anderes übrig, als mehr denn je nur sich selbst zu vertrauen in dieser
Irrlichtwelt, die sie mit aller Gewalt, schonungslos, auf sich selbst
zurückgeworfen hatte, auf den gelben, duftenden Talfrühling, auf das Blau
ihrer Träume. Und damit auch auf das Wissen um Wiedererwachen nach Kälte und
Todesstarre. Das Tal da unten würde vom Bergfelsenplatz der fremden Frau
immer gleich erscheinen, ohne Risse, ohne Schrunden. Die konnte sie nur
sehen, wenn sie hinabgestiegen war bis zu ihrer Friedhofsmauer nahe dem Grab
der dreizehn unbekannten KZ-Häftlinge.
Die Frau zieht sich den langen
blauen Schal fester um die Schultern und tritt den Weg ins Tal an. Von
weitem hört sie laute Kinderstimmen, die hinter der Mauer rund um den
uralten Kirschbaum, der gerade in voller Blüte steht, Staffellauf mit
Abklatschen spielen. Die Frau steht ganz in ihrer Nähe, freut sich mit
ihnen, rennt als kleines Mädchen mit, klatscht ein anderes
Kind ab, gibt den Stab weiter. Merkwürdig ist nur, dass die Kindfrau von den
anderen nicht als fremdes Kind wahrgenommen wird. Keiner merkt etwas.
Die alterslose Frau mit dem leuchtend blauen Schal und dem Bergkristall am
Finger weiß, die Kinder um sie herum werden irgendwann weggehen aus dem Tal,
sie weiß jedoch auch, irgendwann werden sie wiederkommen.
Die Sonne leuchtet die weißrosa Blüten wie ein Scheinwerfer aus: Baum, Wiese
und Kinder, ein Bild aus einem fremden Märchen. Ein Windstoß stäubt eine
Blütenwolke über die Spielenden. Ein Moment prallen Lebens, gefühlt in
unzähligen Nervenenden, inmitten der unfühlenden, ewigen Natur.
Die blaue Frau löst sich in der blauen Luft auf.