Franziska Trauth

 

Wahlverwandt oder Gefährliche Liebschaften

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2017, Roman, 190 S., ISBN 978-3-86465-084-0, 12,80 EUR

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Die Ich-Erzählerin ist fast am Ende ihres Berufsweges als Lehrerin 
angelangt, als denkwürdige Ereig­nisse sie dazu bewegen, sich erneut mit der Weimarer Goethewelt – und damit auch ihrem eigenen Leben – auseinanderzusetzen.

Die Titelwahl bietet dabei eine reizvolle Assoziation zum Rätselhaften in Goethes „Die Wahlverwandtschaften“.

 

 

Leseprobe

 

I
Spuren

Wieder einer dieser frühen Novembertage – in schmutzige, wässrige Milch getaucht. Ich parke in meiner Einkaufsstraße und sperre die Schultasche wütend in den Kofferraum ein.

Wieder einer dieser frühen Nachmittage, an denen ich auf die Dunkelheit mit ihren künstlichen Lichtern warte, nur um dieser Zwielichtigkeit zu entfliehen, die mich wie in einer Schraubzwinge gefangen hält. Ich weiß, dass ich am Vormittag selbst unter einem noch hässlicheren Licht besser als jetzt funktioniert habe vor meinen Leistungskursschülern, die wie gelähmt mit mir unter Neonlicht saßen und Werthers Brief vom zehnten Mai lasen.

(1) Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein, und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine.

Das kalte, knisternde Schulneonlicht verwandelte sich für mich in eine warme Brutglockensonne, in der all die Mückchen und Käferchen Werthers zu schwirren schienen. Umso erbarmungsloser dann die Klingel, die mich in diesen lauen Mittag, der wie zäher, verschmutzter Brei vor sich hin kroch, entließ.

So laufe ich nun an diesen kleinen, sorgfältig sortierten Schaufenstern entlang, deren Inhaber kommen, sich einnisten und gehen wie Wandervögel, und bleibe vor der Buchhandlung stehen. Mein Blick bleibt an einem Frauengesicht hängen, dessen wimpernlose, graublaue Augen mich mustern. (S. 177) Groß und vorgewölbt beherrschen sie selbst die knochige Nase und ergeben gemeinsam mit einem kleinen, kindlichen und dennoch wissenden Mund einen hellwachen Blick. Das gepuderte Haar ist hoch toupiert aus der Stirn frisiert, die wie von feinen Spinnfäden durchzogen scheint – Spuren eines Ölgemäldes aus vergangenen Zeiten. Ich lese: „Goethe und Anna Amalia – Eine verbotene Liebe?“ und dann den Namen des Verfassers – Ettore Ghibellino. Ich errege mich innerlich über diesen marktschreierischen Unsinn; jeder weiß, dass die Ambitionen meines Dichters in eine ganz andere Richtung gingen. Die Liaison zu Charlotte von Stein war doch genügend kompliziert, als dass da noch eine andere Platz gehabt hätte. Und Anna Amalia, die Fürstinnenmutter, war ja noch älter als Charlotte, also insgesamt ein Jahrzehnt älter als Goethe. Ich hatte mich in der Vergangenheit immer wieder mit dieser Frau beschäftigt und war mir sicher, die war für diesen Klatsch mindestens drei Nummern zu groß. Ich hatte ein unsichtbares Band ergriffen, das mich immer wieder zu dieser Frau zog, obwohl sie doch nicht zu den Frauen gehörte, die als Goethes Geliebte galten. Ich ertappte mich des Öfteren, wie ich mich selbst mit dieser Frau verglich, und konnte mir meine Affinität nur erklären mit dem, was der Dichter in seinen „Wahlverwandtschaften“ schreibt, wenn er das Bindungsbestreben chemischer Stoffe auf Menschen überträgt. Vielleicht mag aber auch der Grund für mein tiefes Interesse an dieser Frau daran liegen, dass sie für mich stets in irgendeiner rätselhaften Weise untrennbar zu meinem Dichter gehörte. Und nun dieser Buchtitel von Ghibellino, von dem ich absolut nichts weiß.

Ich betrete die Buchhandlung und lese den Text auf der Rückseite.

(2) Die Liebe zwischen Goethe und Charlotte von Stein soll wegen der damaligen Standesschranken nur vorgetäuscht worden sein. Goethes Liebe galt Charlottes Herrin: der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar. Als die geniale Inszenierung nach einem Jahrzehnt aufzufliegen drohte, wird Goethe gezwungen, seiner Liebe zur Fürstin zu entsagen. Kein Verbot der Welt kann ihn aber davon abhalten, Anna Amalia in seinen Dichtungen zu verherrlichen.

 

„Ich bin zu neunundneunzig Prozent von der These überzeugt.“

Elke Heidenreich

„Ich glaube die Stein-Story wirklich nicht mehr.“

Prof. Dr. Jörg Drews

„Eine geniale Entdeckung.“

Rolf Hochhuth

 

Ich will zunächst kein Wort verstehen. Sogar die Heidenreich und Hochhuth werden als Zeugen zitiert. Dann sehe ich das Foto Ghibellinos – ein glatter Typ, noch jung und mit Fliege – und lese seine Vita. Also ein promovierter Jurist aus Oxford, aufgewachsen in Italien und Deutschland, was will man mehr in dieser Welt! Dass sich dieser Weltbürger dann aber in dem engen Weimar niedergelassen hat und dass dieses Buch schon 2003 erschienen sein soll, verwundert mich doch und weckt meine Neugier. Ich kaufe also den Sensationsschinken, um mich damit aus dem traurigen Novembernebel wegzustehlen. Ich weiß, nichts wird mein bisheriges Bild über Goethe und seine Frauen zerstören, ich will diese unerhörte Neuigkeit einfach auskosten, vergiften kann ich mich nicht damit, weiß ich doch, dass eine solche Nachricht immer mit dem Schein der Authentizität geschmückt ist, weil ihr Überbringer den Leser damit ködern will. Und auf Dauer ködern lasse ich mich schon gar nicht, aber genießen will ich diesen Schmöker doch, um mit gestärktem Rücken wieder vor meine Abiturienten treten zu können und sie daran teilhaben zu lassen, was es so alles für abwegige Ideen gibt. Außerdem frage ich mich, wie es mir passieren konnte, dass ich so lange nichts wusste vom Erscheinen der „verbotenen Liebe“. Hatte ich mir in den letzten Jahren Scheuklappen anlegen lassen, um wie ein Kutschpferd brav seine täglichen Touren zu ertragen? Nichts durfte den Tagesmarsch bremsen, was mich durch ein fremdes Licht hätte locken können auszubrechen aus meinem Geschirr.

Ich trage bzw. die Studiendirektorin Anna Helm geborene Steinhagen trägt dieses Geschirr nun schon fast sechs Jahrzehnte lang. Angelegt wurde es ihr als Kleinkind vom Vater, wuchs scheinbar mit ihr eine ganze Weile, bis es mehrere Male durch ein größeres und stabileres ersetzt wurde. Und als sie dann erwachsen war, wurde ihr ein besonders festes Leder umgeschirrt, das diesmal nicht mehr gewechselt werden musste. Jetzt hatte sich das Fohlen in ein braunes, verlässliches Warmblutkutschpferd verwandelt, mit glänzendem Fell, gut proportioniert, mit großen gelbbraunen Augen, alles an diesem Schädel in der richtigen Form und in der richtigen Größe, den kräftigen Beinen war keine Last zu viel, ohne Murren brachte es die Tagesmärsche hinter sich.

So stehe ich neben mir selbst, betrachte im nicht vorhandenen Spiegel mein Gesicht und weiß, ich habe gelernt, an dem braunen Bauernkutschpferd mit kleinen Tricks das Besondere sichtbar zu machen. So werden die Haare nun schon seit Jahrzehnten passend zu den gelbbraunen Augen gefärbt, die fransige Frisur, die jünger machen soll, wird selbst geschnitten, weil bisher jeder Friseur mit seiner gefälligen Einheitsfrisur versagt hat. Und ganz besonderer Wert wird auf den etwas zu klein geratenen Mund gelegt. Jahrzehntelanger Übung mit dem Kajalstift, immer in der linken Hand, ist es gelungen, diesen Mund, im Besonderen die Oberlippe, so behutsam zu vergrößern, dass keiner die millimeterbreite Überzeichnung sieht und merkt, dass diese Lippen künstlich zum Blühen gebracht wurden. Abgerundet wird das Ganze durch einen großen Karneolring, dessen Rotbraun des Öfteren an den Fingernägeln oder in der Kleidung wiederkehrt. Immer noch stehe ich vor diesem imaginären Spiegel und blicke auf mein langes, schwarzes Gewand mit den rotbraunen Zutaten. Heute hole ich mir diesen Schuss Extravaganz aus der Modeboutique, früher, mit dem mageren Angebot zu DDR-Zeiten, wurden eben aus weichen Jerseystoffen lange, schmale Röcke mit figurumspielenden Tuniken selbst geschneidert, um dem Einheitslook zu entgehen. Oft beneidet, aber auch oft mit schiefen Blicken meiner Lehrerkolleginnen betrachtet, gehe ich meinen eigenen Weg ein klein wenig abgehoben inmitten der grauen Schulwelt, die ich für mich nie gewollt hatte, aber dies ist ein anderes Thema.

Ich brauche mir den Spiegel nicht mehr vorzustellen, ich kann nun mit meinen rund 60 Jahren auch ohne ihn auf Anhieb die tiefen Falten zwischen Nase und Mundwinkeln entlangfahren und bin damit wieder in diesem Novembertag. Ich sehe meine Falten wachsen, besonders nach den letzten Wintern. Jedes Mal, wenn ich nach solch einem Winter Bestandsaufnahme mache, scheint der ohnehin recht kleine Mund noch winziger und tiefer eingebettet; ich ahne Züge meines Altersgesichtes, in welchem er eingetrocknet sein wird.

Noch ist es glücklicherweise nicht soweit, das rotbraune Kutschpferd steht noch da in seinem glänzenden Geschirr und verwandelt sich sogar für mich zurück in das winzige, springlebendige Fohlen, widerspenstig, trotzig. In meinen frühesten Erinnerungen liege ich bäuchlings mit nacktem Hintern auf einer braunen Holztischplatte, und die Hiebe meines Vaters prasseln auf mich nieder. Er will mit dieser Art der Folter ein „Danke“ für die mitgebrachte Schokolade erzwingen; ich bleibe stumm.

Später wiederholen sich diese Prügelattacken noch einige Male; sei es wegen der verlorenen Zahnspange beim Kartoffellesen oder wegen sonstiger Verbrechen meinerseits, die ich nicht wieder gutmachen kann. Dann liege ich in meinem Schlafzimmerarrestbett und die Weinkrämpfe wollen nicht enden. Irgendwann tröste ich mich mit Büchern, die ich stapelweise aus dem großen Bücherschrank in mein Zimmer hole, und versinke in eine andere Welt. Besonders angetan hat es mir ein kleines, in braunes Leder gebundenes Büchlein, was aussieht wie ein Gesangbuch, ein Druck von Faust I“. Es ist sogar bebildert, und so sehe ich zum ersten Mal, was ein Teufel ist, und ich sehe Gretchen in ihrem großen Kummer, der mir allerdings unverständlich bleibt, beim Gebet. Immer wieder blättere ich darin, es ist meine kleine Bibel. Die Geschichte muss ich nicht verstehen, Wörter und Bilder trösten mich und ich ahne, dass es viele geheimnisvolle Welten gibt. Und dann fällt mir unter den nach oben in mein Zimmer geschleppten Büchern wieder der Name „Goethe“ auf. Das Buch heißt „Das Testament“, an den Autor erinnere ich mich nicht. Viel interessanter ist es für mich, dass darin Geschichten über den Sohn und die Enkel von diesem Goethe stehen, auch wieder mit Bildern. Besonders angetan hat es mir die elfengleiche Alma. Wenn ich mich dagegen sehe, bin ich traurig. Man hat mir mein aschblondes Haar kurzgeschnitten, da es für lange Zöpfe oder gar eine schulterlange Frisur viel zu dünn und fettig ist. Die neue Zahnspange lässt mich zischeln und macht den kleinen Mund mit dem Metalldraht über den Schneidezähnen für mich noch unansehnlicher und die Pickel an meinem Kinn wachsen immer wieder neu. Ich sehe ein, ein Kind wie ich, das von seinem Vater, dem verhassten Schwiegersohn, abgerichtet wird, kann von seinem Großvater nicht beschützt oder gar geliebt werden. So gehören die Schläge unabänderlich zum Leben des kleinen, hässlichen Entleins.

Und mit diesem Bild bin ich plötzlich wieder in der Gegenwart vor dem Buch mit dem Porträt der Fürstin Anna Amalia. Nun weiß ich, warum das hässliche Entlein in mir wiedererstanden ist. Genau das hatte ich doch neulich in einer Selbstbetrachtung von dieser Frau gelesen. Vielleicht hatte mich deshalb ihre Biographie so stark interessiert, weil sie sich von ihren Eltern nicht geliebt und als „Ausschuß der Natur“ vorkam. Das Fürstinnenporträt aus dem 18. Jahrhundert rückt mir immer näher, ich fühle mich ihr wesensverwandt, ich weiß sehr genau, warum sie als Erwachsene so viel Sinn für Auftreten und Eleganz entwickelt hat, warum sie mit allen Mitteln versucht hat, das hässliche Entlein wegzuretuschieren. Ihr Äußeres wurde zum Stützkorsett für ihren Weg, den sie gehen musste. Sie schreibt in dieser Biographie

(3) Durch diese harten Unterdrückungen zog ich mich ganz in mich selbst. Ich wurde zurückhaltend, ich bekam eine gewisse Standhaftigkeit, die bis zum Starrsinn ausbrach. Ich ließ mich mit Geduld schimpfen und schlagen und tat doch so viel wie möglich nach meinem Sinn.

„Und tat doch so viel wie möglich nach meinem Sinn“; während ich ihr Bild betrachte, klingen mir die letzten Worte in den
Ohren. Wenn ich mich schon irgendwie wesensverwandt fühle mit dieser Frau, muss ich mich allerdings fragen, ob solch ein Bekenntnis auch von mir hätte sein können. Ich muss mir eingestehen, dass zumindest mein Lehrerdasein nicht nach meinem Sinn erwünscht war und mir einst als hartes Geschirr übergestülpt wurde, dessen steifes Leder mich schmerzte, rieb und wunde Stellen hinterließ. Doch eines Tages hatte ich mich daran gewöhnt, das Leder war weicher geworden und hatte sich meiner Haut angepasst. Es gab sogar Zeiten, da spürte ich es nicht mehr und glaubte, frei über meine Schritte entscheiden zu können, ohne Lasten im Schlepptau. Immer dann, wenn für das Kutschpferd der Wagen nur mit fast erwachsenen Schülern beladen wurde und kein Platz mehr da war für andere Fahrgäste, die einen anderen Weg bestimmen wollten, gab es diese Glücksmomente für mich.

Ich weiß jedoch an diesem Novembermittag auch, dass mein Geschirr in der letzten Zeit wieder zu schmerzen begonnen hatte. Vom jahrzehntelangen Gebrauch war es brüchig und damit wieder hart geworden, scheuerte meine Haut auf.

Der Drang es abzuwerfen wird immer stärker, besonders in diesem Schuljahr, das gleichzeitig auch das letzte in meinem Lehrerleben ist. Ich sehe mich bereits in den ersten Septemberwochen neben mir stehen mit drückendem Brennen in der Herzgegend und einer aufsteigenden Angst in der Kehle, den dicken Stapel abgelichteter Blätter nicht mehr sortieren zu können. Das Papier scheint sich immer mehr zu verselbstständigen und mich zu erdrücken. Mehrfach bin ich bereits zusammengeklappt mit rasenden Schmerzen in der Körpermitte, immer wieder habe ich mich in die Schule geschleppt und versucht, die ausgebrannte Kerzenhöhlung in mir zuzukleistern. Dabei wird der Docht immer kürzer. Nein, das ist nicht mehr meine Schule, zusammengelegt seit September mit einem anderen Gymnasium. Von einem Tag auf den anderen irre ich in den Pausen orientierungslos umher, eine Marionette mit verklemmter Mechanik. Die Versatzstücke meiner Schulexistenz dröhnen mir in den Ohren: „60½-jährige Studien­direktorin, Fachbereichsleiterin für Deutsch als Auslaufmodell kurz vor der Altersteilzeit“, „gib den Fachbereich endlich auf, die Neuen warten drauf“, „eh, was will die Alte von uns, kein Bock“.

 

 

 

 

 

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