Bernd Ulbrich

 

Die Konferenz oder Wie G.O.T.T. erfunden wurde

 

 

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Roman, 2015, 671 S., ISBN 978-3-86465-056-7, 26,80 EUR
 

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Besprechung von Horst Illmer

Ein junger Manager und ein totkranker Dichter freunden sich an, überleben einen Flugzeugabsturz in einer abgelegenen schneebedeckten Bergregion und erwachen in einem utopischen Paradies. Einhundert Menschen leben hier in einer alle Grundbedürfnisse bedingungslos befriedigenden Gemeinschaft von Gleichen. Doch natürlich gibt es auch in diesem Tal der Glückseligkeit verbotene Früchte und eine verborgene Wahrheit – allerdings hat dieses Paradies keinen Ausgang.

In einer Zeit, in der die Apokalypse modischer Gegenstand popkultureller Unterhaltung in TV- und Comic-Serien geworden ist, in der sich die Leute darum reißen, in BIG-BROTHER-Shows dauerüberwacht zu werden und die Untergangsprediger Hochkonjunktur haben, tritt Bernd Ulbrich einen Schritt zurück und betrachtet das Thema mit den Augen eines „Weisen vom Berge“. Die Moralphilosophie eines Immanuel Kant, die utopischen Ideen eines Plato, der immer noch unterschätzte Humor eines Franz Kafka und die Perspektive eines neoliberalen Wirtschaftsmathematikers sind die Filter auf der Linse, vermittels derer der Autor das ewige Streben des Menschen nach Freiheit und Erkenntnis unter die Lupe nimmt.

In seiner sprachmächtigen Parabel hält Bernd Ulbrich unserer Gesellschaft einen auf Hochglanz polierten schwarzen Spiegel vor das geschminkte, gepiercte, geliftete, tätowierte oder sonnenstudiogebräunte Gesicht.

 

 

 

Leseprobe

 

Er starrte hinauf. Unendlich hoch schien der Schacht über ihm; verborgen hinter unreinem Licht von der Farbe toter Flamingos lag die Decke. Aus unbegreiflichem Anlaß stellte er sich tote Flamingos vor, blaß in der Kälte des Todes jedenfalls und von irgend etwas beschmutzt. Was hätte ein Mensch in seiner Lage sich sonst vorstellen sollen? Alles mögliche, natürlich alles mögliche, gotTwEißwas, die Geliebte, die Eltern, scharfe Mädchen, ein Konzert von Purcell. Warum gerade Purcell? Es schien sich um eine jener Unwägbarkeiten zu handeln, eine Laune, nichts von tieferer Bedeutung. Er aber wollte sich nicht der Bedeutungslosigkeit ausliefern. Zu Purcell hatte er nie eine besonderes Verhältnis empfunden, Kadenzen, Takte, Synkopen; konnte sich überhaupt an Töne nicht erinnern in diesem anscheinend schalltoten Zerrbild eines Kubus‘. Stand für Taube die Zeit still? Wie wär‘s mit Autismus der gelegentlichen Hellsichtigkeit wegen? Dann schon lieber tot oder besser, Bilder aus der Vergangenheit. Verreckte Flamingos sind so gut wie alles andere. Vielleicht war es der Reflex eines Erlebens jenseits des unermeßlichen Zellenschachtes, jenseits der Erinnerung. Irgendein Filmvorspann begann so: Flamingos und wippende, braune Brüste. Na bitte, da haben wir sie ja, die Verbindung zum entsetzlich Banalen. Immer kehrt der Mensch auf Umwegen dahin zurück. (Noch unterm Fallbeil bekennt er sich zu den heren Idealen der Revolution). Und denkt doch an das warme Fleisch der Menschin, an den süßen Duft der Liebe, an Verführung, zitternde Erwartung. Make love, not war. Ficken statt Schießen und all der andere Schwachsinn militanter Pazifisten. Dialektik? Hatte er sich immer gewünscht. Jetzt hatte er sie. Und verstand Gott noch immer nicht. Wie sollte er da sich selber verstehen? Für sich selbst suchte er nach einem Credo jenseits von Moden und Traditionen und fand keines.

Money, money, money, money, money, money, money, money, money, money, money, money, moneymoneymoney, money, money, money.

Alles war Cabaret. Triste Einsicht, aber gesungen klang sie doch ganz nett; und GoTt ist ewig, tirili, tirila.

Am Grunde der Unendlichkeit hockte er. Manchmal ging er auf und ab, manchmal ließ er sich nieder, manchmal maß er mit den Füßen Länge und Breite des Raumes aus, manchmal nicht. Es ergab sich ja keine Veränderung. Aber wenn der Wunsch danach allzu stark in ihm wurde, unternahm er doch wieder einen Versuch, setzte balancierend Fuß vor und Fuß neben Fuß, errechnete infinitesimale Flächenverschiebungen als Beginn eines statistischen Bauwerkszerfalls. Er proklamierte die Auflösung der Materie als ehernes Gesetz des Fortschritts. Er beschwor die Brownsche Molekularbewegung und den Maxwellschen Dämon im Namen des Vaters, des Sohnes und der ganzen Heiligen Scheiße und hatte gleichzeitig deren Abschaffung beschlossen.

Die ihr hier eingeht, laßt alle Hoffnung fahren! Das war keine moderne Zelle, wie man sie aus Filmen wie ‘Das Blöken der Lämmer‘ kennt, auch kein Verlies à la ‘Graf von Monte Carlo‘, obwohl sein Schicksal, ohne Parallelen zu bemühen, dem des unglückseligen Grafen ungleich näher lag als dem des Kannibalen Hannibal Lector. Sie, die Zelle, stellte irgend etwas dazwischen dar. Ein paar Füße und etwas lang, ein paar Füße und etwas breit, acht und vierzehn jeweils und etwas, vielleicht das Viertel und das Drittel der Fußlänge oder der Hackenbreite, dieses Etwas. Soweit die Normalität. Aber die Höhe! Den Kopf weit in den Nacken gelegt, versuchte er, ihre Größe zu schätzen. Wenn man sich am Blick hinanziehen könnte, wie weiland Münchhausen am Zopf aus dem Sumpf, wohin gelangte man dann? Ungeachtet der unbeantwortbaren Frage, versetzte die Vorstellung einer solchen Möglichkeit ihn in einen seltsamen Zustand der Träumerei. Er konnte, aller Realität zum Trotz, wieder hoffen, nicht tatsächlich auf Rettung, aber doch auf ein Wunder. Hatten SIE so etwas eingeplant, vorausgesehen? Was bezweckten SIE damit, damit, ja, damit? Mit seinem Glauben, mit seiner Hoffnung zu spielen. Mit allem bezweckten SIE etwas. Mitmitmit, kiwitt, kiwitt, kommmit, kommmit. Wie klein man sich vorkam als Zweck, Zwecke, Zecke. Es war lächerlich, ihn noch zusätzlich zu quälen. Aber was wußte er von deren Motiven? Sie hätten ihn gleich töten lassen können, ohne viel Aufhebens, ein Schuß; ein Schlag ins Genick, ist billiger (aber die mußten nicht sparen), den Leichnam verscharrt im Gletschereis. Fünftausend Jahre später würde die Mumie der Wissenschaft Rätsel aufgeben. Lag Verbrechen vor oder Hinrichtung, ein Unfall? Was bedeutete diese Narbe, jener alte Bruch, der letzte Mageninhalt?

Sie haben tatsächlich noch Fleisch gefressen, damals. Richtiges, echtes Fleisch! Shocking! The Queen is not amused.

Die Queen würde es noch geben, irgendeine jedenfalls, notfalls einen King. Frauen konnten es schon immer besser. Und ewig grüßt das Empire. Rule Britannia, Britannia rule the waves! Wie ging doch gleich die Melodei? Da dadada dadada dadada. Klingt irgendwie nicht. Gott erhalte Franz den Kaiser. Daaaa dadaada daadadahada. Ein Trauermarsch. Allons enfants de la patrie. Dada dada dadadada. Das schon eher, riecht nach Kampf und Ruhm, wenn auch blutrünstig. Ein Weltreich im Geiste erobern. Die Russen hatten Napoleon geschlagen, starkes Volk eben, Bollwerk gegen, trotz Wodka oder wegen. Wie sollte man nüchtern diese Welt ertragen? Er wußte, daß er sich nicht besaufen würde vor dem letzten Gang. Ein Gläschen Champagner vielleicht, Brut, Chateau de Sade, verschafft klaren Blick. Hatte Le Empereur gefehlt. Wahrscheinlich würden die Moskowiter wieder einen CZaren haben, während die Deutschen sich ängstlich unter der Knute der Demokratie eines kommunistischen Kaisers ducken würden. Der Große Bruder liebt dich. He is democrat mit Leib und Seel und liebt alle, natürlich alle verdammt noch mal, wie dë liobê Got. Ozeanien würde Krieg führen gegen Eurasien. Zweifelsohne würde man englisch sprechen zu jener Zeit, vielleicht denglisch im wieder zerfallenen Europa. Zur Völkerverständigung würde es hinreichen. Auf englisch klingt alles nach Understatement, selbst in Neusprech, gerade dann, erträglich eben, selbst das Dramatischste, eben very british. Tomorrow will go down the world, dubblepluscool. Aber bitte nicht five o clock! The Queen would not be amused, tastete Gott zu Armageddon die geheiligte Teestunde an. Was würde die Queen sagen, überbrächte man ihr die Nachricht vom Auffinden seines Leichnams? Der Große Deutsche Bruder würde ihn für sich beanspruchen, ebenso der CZar. Grund für einen neuen Krieg. Doch vielleicht hatten die Deutschen bis dahin einen veganischen Großkaiser, der den Gegner mit Kohlköpfen bombardierte. Man würde die Gletschermumie nach Majestät benennen, sofern ihr Mageninhalt rein pflanzlicher Herkunft wäre. Er bemerkte, daß er grinste. Ja, so würde er vors Peloton treten und mit dem überlegenen Grinsen des Fleischfressers, des Kannibalen, des siegreichen Soldaten, des strapazierten Menschen, des ewigen Verlierers, des Weisen der vorletzten Erkenntnis, des hoffnungslosen Idealisten, des Träumers und Gläubigen des letzten Moments, des niemals Aufgebenden, in den Tod gehen. Sollten sie rätseln, warum die Mumie grinste. Rätsel über Rätsel. Vielleicht war das ein Ritualopfer, von Vegetariern vollzogen. Recht so, die Mumie grinst. Gott segne den Käsar und seine Mahlzähne! Veganer, Fruttarier, harmlose Irre gegen die, in deren Auftrag er exekutiert werden sollte, deren Person und Namen er nicht kannte, über deren Ziel und Absicht er nur grob informiert war. Aber auch das Wenige konnte gedacht sein, ihn in die Irre zu führen.

Der Ehrenwerte Vorsitzende Richter beugte sich ihm zu und lieblächelte fürchterlich, so daß die Beisitzer erbleichten und um ihr Leben bangten, nicht etwa um seines.

– Was haben wir denn empfunden, als wir die Mama mit dem Onkel erwischten?

– Ich verstehe nicht, was die Frage mit meinem Fall zu tun hat. Ich war ein Kind.

– Sie haben Anspruch auf Gerechtigkeit. Wenn wir Sie erschießen, wollen wir das mit gutem Gewissen tun und wenn nicht, dann auch.

Die Gefahr, die von dieser zweideutigen Formulierung ausging, zog ihm plötzlich den Magen zusammen. Wer waren seine Gegner? An denen würde die Welt nicht genesen, und die Queen würde nicht amüsiert sein. Die kannten keinen Spaß. Profit kennt keine Possen. Eher hat ein Fundamentalist Witz als ein Profiteur. Dreihundert Prozent, fünfhundert Prozent, tausend! Auf was hatte er sich da eingelassen in seiner Naivität, in seinem lächerlichen Willen zu leben (und das auch noch sinnvoll). Er hätte schon längst tot sein können, erfroren im ewigen Schnee eines unbekannten Gebirges. Ein schöner Tod, ein leichter Tod. Warum noch ein Gerichtsverfahren?

Giftgrünes Ölpaneel, unter schmutzigroséfarbenem Kalkanstrich in der dritten und vierten Dimension. Vergangenheit und Zukunft in einem einzigen fortdauernden Moment; ja, was hatte er empfunden, damals? Auf dem Zellenfußboden (in der Farbe getrockneten Bluts) inventarisierten sich: ein Klapptisch, eine Pritsche, ein Hocker und der Abort. Ausguß und Wasserhahn wirkten neu. Poliertes Chrom und Porzellan schufen die Illusion zivilisatorischer Verläßlichkeit. Man würde ihn nicht quälen. Er ließ Wasser tropfen, um verrückt zu werden. Aber er wurde es nicht. Tock, tock, tock, tock. Er zählte bis sechshundertsechsundsechzig, die Zahl des Tieres. Dann gab er den Versuch auf und starrte in den blaßroséfarbenen Tod.

Wie Gottes Glanz drang stets für ein paar Stunden aus unerreichbarer Höhe diffuse Helligkeit durch ein Geviert von Glassteinen zu ihm herein. Nachts verbreitete eine Glühbirne hinter vergitterter Abdeckung brandiges Licht, das bis in seine Träume drang. Es hatte keinen Sinn, die Tage zurück oder nach vorn zu numerieren. Denn das Datum seiner Hinrichtung war unbestimmt. Von Mal zu Mal sagte man ihm, morgen, von Mal zu Mal, nächste Woche, von Mal zu Mal, nächsten Monat. Dann hob man den Termin wieder auf und verschob ihn ins Irgendwann. Wie lange noch? fragte er, allein wegen dessen Grinsens, den Wärter, der ihm dreimal täglich eine Mahlzeit hinkrachte. Der Ton seiner Frage variierte von eindringlich über fordernd befehlend zu um Erbarmen bittend. Die Reihenfolge war nicht festgelegt, folgte keinem Konzept, keiner Strategie. Wie lange? Aber der Wärter spitzte nur sein Breitmaul, um desto effektiver in ein Grinsen mit immer dem nämlichen Affekt auszubrechen; Clownerie eines angekündigten Todes. Diese Verläßlichkeit empfand er als beruhigend. Er verfügte über keinen Rechtsanspruch auf den Zeitpunkt der Exekution. Auf gar nichts besaß er einen Anspruch. Man hatte seine Existenz reduziert auf einen Stempel, ein Formular und ein paar Unterschriften. In solchem Zustand ist nichts mehr maßgeblich als die Erinnerung. Um ihr ab und an etwas hinzufügen zu können, fragte er, von einem gewissen Trotz geleitet, in regelmäßig unregelmäßigem Intervall nach dem Wann und erhielt als Antwort jedesmal ein überlegen stumpfsinniges Grinsen und ein clowneskes Schulterzucken. Tat er dem Manne nicht unrecht? Vielleicht verspürte der Mitleid und drückte sich auf diese Weise aus. Wieviel unschuldig Verurteilte mochte er betreut haben, ein Dutzend, hunderte? Dann würde er, auch ohne die Muttersprache des Delinquenten zu beherrschen, die Frage verstehen. Oder nicht und seine Mimik galt irgend etwas gänzlich anderem, der eigenen Not oder einer sadistischen Freude. Aber wenn er einen Arzt anforderte, dann kam der Arzt. Jedes Mal aufs neue verlieh der ihm den Status, ohne Befund, selbst dann noch, was selten vorkam, wenn er ihm völlig grundlos Medikamente schickte, ohne Befund. Er spülte die Tabletten und Pillen im Klo hinunter. Wann? fragte er auch den und erhielt immer die gleiche Antwort:

»Werden Sie erst mal gesund.«

»Ich bin nicht krank.«

»Ich bin für Ihre Gesundheit verantwortlich.«

»Es ist so still hier.«

»Na sehen Sie!«

»Ich bin nicht taub.«

»Vielleicht helfen Ihnen Selbstgespräche.«

Das schien ein wahrhaftig menschlicher Ratschlag zu sein, und irgendwann beherrschte er Rede und Gegenrede seiner monologischen Erinnerung sogar in unterschiedlicher Diktion.

Er hatte es sich abgewöhnt, nach Logik in den Antworten des Mediziners wie in seinen eigenen zu suchen, nach der Logik seines Zustands überhaupt. Diplomatische Verwicklungen schien sein Schicksal nicht zu bewirken. Niemand kümmerte sich um ihn. Offiziell war er vielleicht längst für tot erklärt worden, abgestürzt in einer klapperigen Chartermaschine an unbekanntem Ort, von keinem Satellitenortungssystem auffindbar, unter Schnee und Eis begraben, wie in dieser Zelle unter blaßroségrünen Reflexen. Das kleine Universum aus unberechenbarem Raum um ihn herum war unbewohnt. Er schien der einzige Gefangene zu sein. Niemals vernahm er einen anderen Laut, als den Schritt des Wärters, aus der Ferne des langen Ganges näher kommend, das Rasseln der Schlüssel, das Schurren und Krachen des Geschirrs wenn er es absetzte. Einmal am Tag Hofgang, eine halbe Stunde. Hohe Mauern schirmten die Sicht nach allen vier Seiten hin ab. Die Luft roch gleichmäßig kühl. Auch von außerhalb drang niemals ein Laut, bis auf den Wind gelegentlich. Niemals ließ sich ein Vogel nieder.

Anfangs hatte er sich das Gehirn zermartert, warum er schuldig sein sollte. Schuldig wessen? Er hatte die Anklagepunkte ihrem Sinn gemäß nicht verstanden. Ein Schriftstück war ihm nie ausgehändigt worden. Andererseits hinterließ das Hohe Gericht bei ihm nicht den Eindruck der Voreingenommenheit. Richter und Staatsanwalt hatten in sachlich-professionellem Ton Inhalt und Auslegung von Paragraphen verhandelt. Die Fragen an ihn waren von keinerlei Emotion getragen, ja, sie erweckten im großen und ganzen sogar den Anschein menschlichen Wohlwollens.

– Wann kam Ihnen zum ersten Mal die Idee, es handele sich um eine weltweite Verschwörung?

 

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