http://besucherzaehler-counter.de


 

Hardwin Jungsclaussen

 

Frei in drei Diktaturen.

Wie ich mein Leben erlebte und wie ich mein Glück fand

 

lieferbar seit 15. Juni 2015

 

=> Bestellanfrage beim Verlag

 

2015, 213 S., ISBN 978-3-86465-050-5, 18,80 EUR

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages

 

Zum Buch

 

Den Leser erwartet der Lebensbericht eines Menschen, geboren 1923, der alles Wahrgenommene verstehen will – die Welt, die Menschen, sich selbst – und der meint, einiges auch verstanden zu haben. Seine Mitmenschen haben ihn allerdings oft nicht verstanden, wenn er ihre gewohnten Denkwege verließ. Das führte gelegentlich zu Kontaktschwierigkeiten – u.a. auch damit erklärt, dass Mutter Natur
seiner Veranlagung wohl einen Tropfen Autismus beigemischt hat. Der Tropfen hatte aber auch sein Gutes – so der Autor – er hielt die Welt auf Distanz und sicherte ihm ein Stück persönliche Freiheit.

Wie ein Reiseleiter seinen Touristen Sehenswertes in fremden Ländern zeigt, so findet der Lesern hier Bemerkenswertes aus dem Leben dieses wissenschaftlichen Multidisziplinaristen. Jung­claussen transformiert den Film seines Lebens, der vor seinem inneren Auge abläuft, in Worte und Sätze. Sehen Sie dieses Buch also als „Doku­mentarfilm“, gelebt und „gedreht“ über neun Jahrzehnte.

 

 

Inhalt

Vorwort: Was den Leser erwartet            9

1.    Behütete Kindheit. Hamburg und Münster 1923–1927        11

2.    Wie ich zu mir selbst wurde. Jugendjahre in Kiel 1937–1942     19

     Wie ich aufwachte                        19

     Wie mein Vater Hitler erlebte          22

     Wie ich die Hitlerjugend erlebte      24

     Hans-Gerhard und Werner Creutzfeldt    32

     Internat und Privatunterricht          37

3.    Fünf Lebensjahre eines optimistischen Fatalisten. Krieg und Gefangenschaft 1942–1947    41

     Wie ich mir im Voraus das Leben rettete     41

     Staraja Russa                              42

   •  Wie ich mich von Hitler löste und wie ich aufhörte, Soldat zu sein    44

     Domodjedowo                              48

     Wie mein Gemüt auf das Gefangenendasein reagierte       57

     Worüber ich nachgedacht habe       67

4.    Sechs Jahre im Paradies  1947–1953. Laborant am Schwarzen Meer und der große Glücksfall   79

     Drei unglaubliche Tage                  79

     Gustav Hertz                                82

     „Inospezialisti“                              92

     Schönes und Schweres im Paradies     94

     Ein streng geheimes Ereignis von größter Bedeutung    97

     Quarantäne                                100

     Zwei „Zettel zum Glück“               102

   •  Mit Schintlmeister im Zentralkaukasus   104

5.    Physikstudium. Rostow am Don und Lomonossow-Universität Moskau 1953–1958         109

     Rostow am Don                          109

     Lomonossow-Universität Moskau   112

   •  Lew Landau                               116

     Diplomarbeit                              121

     Zu Gast bei Episkop Sergij            125

     Befreiung von Zweifeln                127

     Werner Hartmann                       128

     Zum Standesamt                        130

     Dmitri Schostakowitsch                132

6.    Erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten. Als Kernphysiker in Dresden und Dubna 1958–1968     139

   •  Nestbau in Bühlau                       139

     Im Institut von Prof. Schintlmeister   140

     Erinnerung an den Rückzug 1944   142

   •  Schritte in die Ehe. Suche nach meinem Weltbild      145

     Im Institut von Prof. Fljorow         151

7.    Erfolg und Misserfolg als Hochschullehrer. Informatikdozent an der TU Dresden 1969–1988    157

     Illusionen und ihr Ende                 157

   •  Flucht und Rettung                      163

   •  Das Operatorennetz-Projekt         171

     Das LEDA-Projekt                        172

8.    Schreiben im Elfenbeinturm und Experimentieren in Wien 1980–2013   177

   •  Simulation neuronaler Netze         178

9.    Rückblicke                                 185

     Wie ich Gustav Hertz auf Hiddensee erlebte     185

     Meine Mutter                              187

     Wie ich die russische Kultur erlebte 189

10. Antrieb und Ergebnisse meines Nachdenkens   197

     Die Wurzeln meines Glücks und meiner Freiheit        197

     Was ich glaube verstanden zu haben 199

11. Was uns Not tut                          203

     Was Europa Not tut                    203

     Was der Welt Not tut                  204

 

Dank                                               207

Literatur                                          211

Bildnachweis                                    213

 

 

 

Leseprobe

4. Sechs Jahre im Paradies  1947–1953. Laborant am Schwarzen Meer und der große Glücksfall

Drei unglaubliche Tage

Die Geschehnisse der letzten Tage: 26.9.47 Beim Morgenkaffee kommt ein Sergeant vom Stab zu mir und sagt: Nicht zur Arbeit, Sachen packen, Versetzung in anderes Lager. (Es kam vor, dass Gefangene in Straflager versetzt wurden, z.B. der frühere deutsche Lagerkommandant Bülow, der dann aus dem Straflager floh, aber gefasst und totgeschlagen wurde.) Rest der Gartenerträge verzehrt, Packen.

Vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen, insbesondere des Falls Bülow, interpretierten alle Augenzeugen den Befehl, meine Sachen zu packen, als Versetzung in ein Strafgefangenenlager. Mir selbst schoss gleich der Gedanke an den Vorfall mit der Brechstange am Sägegatter in den Kopf. Anderseits wusste ich von meiner Mutter, dass ihr Bruder sich in der Sowjetunion befand. Ein ganz schlimmer Gemütszustand, zerrissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

Während ich packte, hat Heinz auf meine Bitte hin seine Gedichte aus unserer gemeinsamen Zeit in mein Tagebuch eingetragen. Ich füge hier zwei der Gedichte ein.

 

Zukunft

(zu der Photographie, die ein Mitgefangener aus der Heimat bekommen hatte)

 

O Bildchen – Du junges Leben!

Knospe dem Frühling verwandt!

Vom lieben Herrgott gegeben

Kamst Du in meine Hand.

 

Und Deine lustigen Grübchen

Lächeln die Sorge mir fort.

Die Welt ist für Dich Dein Stübchen

Und Mama Dein einziges Wort.

In fluchvoller Zeit geboren,

Weißt Du nicht, was uns treibt.

Die Welt ist in Schuld verloren,

Doch Deine Unschuld bleibt.

So unbekümmert von Leiden

Leuchtet Dein kleines Herz,

Und Deine Augen strahlen

Und wissen von keinem Schmerz.

 

Ja, Zuversicht, Hoffen, Vertrauen

Fühlte ich, als ich Dich sah.

Und – Ehrfurcht trat in mein Schauen –

O Zukunft! – Ein Wunder geschah!

                    H. Rötger, Weihnacht 1946

 

Gebet in der Frühe

Blütenfrische Morgenwiese

Tauperlen-Glitzergeschmeide

Herb-kühler Atem des werdenden Tages

Hauchzarter Frühlingsschleier –

Und – schmetternde, klingende Lerchenlust!

Und Licht!

Blendend umspülende Sonnenlichtfluten!! –

Ein Wogen! – Ein Klingen! – Ein Gluten!

So klar! So frisch! So rein!

Und jung! Und schön! Und gut! –

Mit aller Schöpfung

Ein Dehnen ins Licht, ein Sehnen!

Selbst Sonnenlicht und Wiesenhauch und Lerchenflug!

Ein tiefer, tiefer Atemzug! –

Ein Lauschen,

Ein Blick, der in die Ferne geht –

Das ist mein Morgengebet!

                                             H. Rötger, 1947

 

Wenn ich diese Gedichte heute lese, empfinde ich dieselbe sentimentale Resonanz, die Heinz und mich immer verbunden hat.

26.9.1947  Mittags zum Stab. Da von Major mitgenommen. Auf dem Weg durch das Werkgelände sagte ich: „Ich durfte meine Schlafdecke nicht mitnehmen“. Er: „Wo Sie hinkommen, brauchen Sie Ihre Decke nicht.“ Ich: „Wohin gehen wir?“ Er nach kurzem Bedenken: „Kennen Sie Gerz?“ Ich: „Ja“. Er „Dahin fahren wir“. Das war ein unglaublicher Moment – Erlösung! Freiheit! Mit PKW (BMW) nach Moskau. In Osjory (bei Moskau)  abgesetzt. Blauer Himmel, rote Blätter, Blumen, Sonne. In leere Villa am See einquartiert, Essen: Kohlsuppe, Bratkartoffeln, Frikadellen, Brot. Auf Veranda in verwildertem Park gesessen. Wie im Märchen. Von Russen erfahre ich, dass etwas weiter deutsche Wissenschaftler mit Familien wohnen. Betten aufgestellt. Abends nochmal Essen. Mondspiegel im See. Schlafen.

27.9. um 6 Uhr geweckt, schnell! Paket Marschverpflegung: Brot, Butter, Wurst, 4 gekochte Eier. In kleinem Bus nach Moskau, kreuz und quer durch die Stadt, aus Moskau raus, nach ca. 30 km rechts ab – links ab – Flughafen, kurz gewartet, Passagiermaschine bestiegen – Start, südlicher Kurs, Frühnebel, tiefe dünne Wolkenschicht, dann klar, ab und zu interessante Wolken leicht böig. 13:30–14:00 Zwischenlandung Stalino. Dann großes Wasser, hohe Berge, Villen, Strand: Schwarzmeerküste, Adler 16:30. Regnerisch, dann wieder besser. Kurz darauf Ziel: Suchumi. Mit kleinem Bus nach Sinop. Von da zusammen mit deutscher Gesellschaft nach Agudseri. Hans holt mich vom Verwaltungsgebäude ab, von Tante Lotti an einer Villa empfangen.

28.9.47  „Hardwin-Zimmer“ eingerichtet. Symbolische Handlung: Verbrennung meiner Klamotten, des Kostüms des zweiten Aktes meines Lebens, damit Beginn des dritten Aktes. Baden im Schwarzen Meer, Parkspaziergang, Sonnenuntergang.-Das Erlebte noch unglaubhafter als das sensationellste Filmschicksal. 

29.9.47  Keinen Schritt wollte und will ich von dem von mir gewählten Weg abweichen. Eine schwere Zeit liegt hinter mir. Ich meine, ich habe durchgehalten. Nun beginnt die Probe in einer guten Zeit. In Lebensumstände geführt, wie sie günstiger und schöner für mein Ziel nicht sein können. Da muss sich meine Energie als noch ausdauernder beweisen. Ein Sprung aus den schwersten in die schönsten Tage meines Lebens. Nur eins vermag das noch zu übertreffen – eine Liebe.

 

Gustav Hertz

Der letzte Satz des Tagebucheintrages hat sich mehr als bewahrheitet! Davon später. Zu dem Eintrag einige Erklärungen. Mit „Gerz“ meinte der Major, der mich aus dem Lager abholte, den Physiker Gustav Hertz; das ist der Bruder meiner Mutter, also mein „Onkel Gustav“. Damit ist klar, wie es zu dem Vorkommnis auf dem Weg durch das Kriegsgefangenenlager gekommen war. Durch meine erste Rote-Kreuz-Postkarte, die ich meiner Mutter schicken konnte, hatte sie meine Anschrift in der Kriegsgefangenschaft erfahren, und die hat sie ihrem Bruder in die Sowjetunion geschrieben. Mein Glück, dass die sowjetische Postzensur das durchgelassen hat. Tante Lotti ist Onkel Gustavs zweite Frau. Seine erste Frau, Ellen, war bei einer Operation gestorben. Hans, vollständiger Vorname Johannes, ist der zweite Sohn von Tante Ellen und Onkel Gustav. An eine Begegnung mit meinem Onkel bei meiner Ankunft in Agudseri kann ich mich nicht erinnern; ich glaube, er hat sich gar nicht gezeigt. Der erste Sohn, Helmut, war nicht mitgekommen in die Sowjetunion.

Als die Russen nach der Kapitulation in dem von ihnen besetzten Teil Deutschlands damit begannen, Wissenschaftler „einzusammeln“, warben sie u. a. damit, dass adelige Wissenschaftler ihre Bereitschaft erklärt hätten, in Russland zu arbeiten. Damit war Baron Manfred von Ardenne gemeint. Als die Besatzer Hertz „unter ihre Fittiche“ nahmen, wäre es fast zu spät gewesen, denn kurz davor passierte Folgendes. Ein sowjetischer Soldat erschien in der Wohnung meines Onkels in Berlin und verlangte: „Urr-Urr!“, was soviel hieß wie „Gib mir deine Uhr!“ Hertz sagte, er habe keine Uhr, die sei ihm bereits abgenommen. In Wirklichkeit hatte er sie versteckt. Der Russe drohte. Hertz blieb bei seiner Aussage. Da zog der Russe seine Pistole und schlug damit auf die Glatze meines Onkels, die dieser sich wahrscheinlich auch an diesem Morgen sorgfältig rasiert hatte. Hertz blieb unbeeindruckt. Daraufhin drückte der Russe ihm die Hand mit den Worten „Gutt Mann!“ Mein Onkel war sich offensichtlich sicher, dass dem Soldaten klar war, dass es nutzlos sei, den vermeintlichen Besitzer totzuschießen. Der Anzug, den mein Onkel bei dem Vorfall trug, war blutüberströmt. Aber er ließ sich reinigen und hieß seitdem „Blutanzug“. Später wurde er mir vermacht; ich habe ihn jahrelang getragen, auch noch in der DDR. Der Vorfall mit dem russischen Soldaten ist ein Bespiel dafür, wie sehr das Verhalten meines Onkels vom Verstand gesteuert wurde und wie wenig von Emotionen, in diesem Fall wie wenig von Furcht. Das heißt natürlich nicht, dass er keine Furcht hatte, dass sie aber vom Verstand kontrolliert wurde.

Ich muss einen kleinen zeitlichen Sprung machen, um von einem Malheur mit einem anderen Anzug meines Onkels zu berichten, das in Agudseri passierte und das mein Onkel ebenfalls mit erstaunlichem Gleichmut hat über sich ergehen lassen. Wir standen zu Viert in der Küche, und mein Onkel gab mir den Auftrag, eine Flasche Chwanschkará aufzumachen; so hieß sein georgischer Lieblingsrotwein. Als ich die Flasche entkorkte, benahm sich der Wein wie Sekt. Ich drehte mich sofort um 180 Grad, um den Rotweinstrahl in den Ausguss zu lenken. Dabei überquerte der Strahl den Anzug meines Onkels von rechts oben nach links unten. Allgemeiner Aufschrei. Nur mein Onkel blieb völlig ruhig und kommentierte den Vorfall, eher amüsierter als ärgerlicher, mit den Worten: „Du bist wohl von der Feuerwehr“. Diesmal habe ich den Anzug nicht geerbt. Ich hatte ja auch schon einen.

Agudseri ist ein Sanatorium am schwarzen Meer etwas südlich von Suchumi. Das Sanatorium war als Institut für Hertz und seine Mitarbeiter eingerichtet worden. Sinop ist ein Sanatorium zwischen Suchumi und Agudseri, das für Baron von Ardenne als Institut eingerichtet worden war. Beide „Objekte“ – so wurden in der Sowjetunion geheime Einrichtungen bezeichnet – unterstanden Beria, der von Stalin den Auftrag erhalten hatte, die Atombombe zu bauen. Die Villa, vor der meine Tante mich empfing, war extra für Hertz gebaut und gerade erst fertig gestellt worden. Beim Bau des Hauses waren viele Teile verwendet worden, die von Stalins Datscha, die gleichzeitig am Rizasee gebaut wurde, abgezweigt worden waren. Im ersten Stock des Hauses gab es das sogenannte Hardwin-Zimmer; es war für mich vorgesehen und lag neben dem Zimmer meines Vetters Hans.

Der Bau einer Privatvilla für Hertz hat jedem, der die Villa sah, deutlich vor Augen geführt, welches enorme Interesse die Russen an Hertz hatten. Das ist kein Wunder, war er doch der Erfinder der Diffusionsmethode für die Trennung der Isotopen eines Elements. Ohne diese Erfindung hätte damals keine Atombombe, genauer keine Uranbombe, gebaut werden können. Die Bedeutung der Erfindung führte zu der weit verbreiteten Meinung, für sie habe Hertz den Nobelpreis erhalten. Tatsächlich hat er ihn zusammen mit James Franck im Jahre 1917 für das sogenannte „Franck-Hertz-Experiment“ erhalten. Das Experiment lieferte die erste experimentelle Bestätigung des Bohr’schen Atommodells. Nach einem halben Jahrhundert, im Jahre 1964, kam James Franck noch einmal nach Deutschland und besuchte meinen Onkel in Berlin. Es muss ein sehr bewegendes Wiedersehen gewesen sein. Meine Tante erzählte mir später darüber, dass es das einzige Mal gewesen sei, dass sie Tränen in den Augen ihres Mannes gesehen habe.

Es war also der 28. September des Jahres 1947, ein nach meinem Empfinden warmer Sommertag – tatsächlich war es ein subtropischer Herbsttag –, als ich meine gesamte verlauste Bekleidung des vergangenen Lebensabschnittes dem Feuer übergab. Hinter mir lagen Krieg und Gefangenschaft, vor mir lag das Schlaraffenland, in dem ich soviel essen konnte und soviel lernen konnte, wie ich wollte. Essen und Wissen gab es in Hülle und Fülle. Wissen gab es in den Büchern der Bibliothek des physikalischen Institutes, in dem ich von nun ab als Laborant tätig war, und noch viel interessanteres Wissen gab es in den Köpfen der Mitarbeiter; das waren Deutsche, Russen und Georgier.

Aus den ersten Monaten in Agudseri erinnere ich mich vor allem an meinen Heißhunger. Ich konnte an nichts Essbarem vorbeigehen, ich musste es in den Mund stecken, sogar die übel schmeckenden sauer-bitteren wilden Zitrusfrüchte, die zu der Zeit goldgelb, also offenbar reif, an einer Hecke auf dem Hertz’schen Grundstück hingen. In wenigen Wochen nahm ich 15 kg zu, die ich dann wieder abnahm, was etwas länger dauerte.

Während der 5 Jahre, die ich im Hause Hertz lebte, hab ich in meinem Onkel einen außergewöhnlichen Menschen kennengelernt, außergewöhnlich sowohl an Intelligenz als auch an Aufrichtigkeit, Gewissenhaftigkeit und korrekter Lebensführung. Dass er mich bei sich aufgenommen hat, rechne ich ihm hoch an. Wenn Nächstenliebe dabei eine Rolle gespielt hat, dann wohl weniger mir als eher meiner Mutter gegenüber, zu der er seit seiner Kindheit eine enge Beziehung hatte. Gegen meinen Vater hatte er wegen dessen Hitlerverehrung eine tiefe Abneigung. Mich hat er in seinem Haus gewissermaßen als Stiefsohn akzeptiert, obwohl er mich nicht so sehr gerne mochte; ich war ihm zu laut und sprach zu undeutlich. Mit den Jahren gab sich das. Viele Jahre später, als wir beide zu Zweit eine Woche in seinem Sommerhaus auf Hiddensee verbrachten, sagte er einmal zu mir: „Wir passen eigentlich ganz gut zusammen.“ Das war für mich die höchste Auszeichnung, und ich bin bis heute stolz darauf.

In Agudseri wurde ich, ebenso wie sein Sohn Hans, als Physiklaborant in das dortige Institut eingestellt. Mein Onkel teilte mich einem seiner Mitarbeiter zu mit den Worten (ziemlich wörtlich): „Du wirst bei Dr. Barwich arbeiten. Er ist ein sehr guter Physiker. Du darfst aber nur das für bare Münze nehmen, was er Dir über Physik erzählt.“ Barwich redete gerne, auch über Politik. Er war ein Linker. Dazu war er unter dem Einfluss seines Vaters geworden, der nach seinen Worten ein bekennender Anarchist war. Barwichs Anschauungen passten also recht gut in die sowjetische Landschaft. Mir fiel es nicht schwer, den Rat meines Onkels zu befolgen, denn Barwich benutzte mich zwar oft als Zuhörer, in der Regel aber nur, wenn es um Physik ging. Mich beeindruckte seine schöne Stimme. Mit seinen russischen Liedern gewann er die Herzen aller Russinnen. Oft habe ich über Barwichs Verballhornisierungen russischer Wörter gelacht. So machte er  aus „столовая“ „Stall-auwaja“; столовая wird stolówaja ausgesprochen und ist das russische Wort für Speisegaststätte. Das Wort „Stall“ passt durchaus auf so manche Stolowaja. In Agudseri hatten wir freilich eine saubere und ordentliche Stolowaja; hier sollten ja Deutsche speisen. Von meinem Onkel, der regelmäßig dort zu Mittag aß, habe ich nie eine abfällige Äußerung gehört.

Das sagt allerdings nicht viel, denn Hertz war ein bescheidener Mensch, der keine besonderen Ansprüche stellte, solange er die Umstände, in denen er lebte, nicht als unangenehm empfand, und solange er an Problemen arbeiten konnte, die ihn interessierten. Auch auf Dienstreisen lebte er bescheiden und gab die nicht verbrauchten Reisespesen stets zurück, und als er den Stalinpreis erhielt, meinte er, dass er den eigentlich gar nicht verdient hätte. In einer Rede an seinem 80. Geburtstag sagte er, dass er in seinem Leben stets dafür bezahlt worden sei, dass er getan hat, was ihm Spaß machte. Daran war nichts Überhebliches. Er war sich seiner Fähigkeiten zwar durchaus bewusst, war aber überhaupt nicht eingebildet. Über seinen Onkel, Heinrich Hertz, sagte er einmal zu mir: „Der war viel besser als ich.“ Er begründete das damit, dass Heinrich Hertz nicht nur ein exzellenter Experimentator, sondern auch ein ausgezeichneter Theoretiker gewesen sei, was er von sich selbst nicht behaupten könne. Ich – und nicht nur ich – meine allerdings, dass auch Gustav Hertz ein guter Theoretiker war. Ich habe es als Auszeichnung empfunden, als mein Onkel mir die Erstausgabe der „Mechanik“ von Heinrich Hertz mit Korrekturen von Gustav Hertz schenkte. Die Einleitung des Buches hat mich sofort begeistert; der Rest des Buches ist auf einem Niveau geschrieben, dem ich nicht auf Anhieb folgen konnte. Viele Abschnitte des Buches musste ich mehrmals lesen, um den Inhalt wirklich zu verstehen. Mit der „Mechanik“ von Heinrich Hertz ging es mir ähnlich wie mit der Quantenmechanik-Vorlesungen von Landau, von der ich noch berichten werde. Ich verstand zwar Landau’s mathematischen Herleitungen, doch wusste ich, dass ich die Einsichten, die sich hinter der Mathematik verbergen, nicht erfasst hatte. In dieser Selbsteinschätzung liegt keine intellektuelle Selbsterniedrigung; eher ist das Gegenteil der Fall. Ich weiß ziemlich genau, ob ich etwas verstanden habe oder nicht. Sehr häufig kommt es vor, dass Menschen gar nicht merken, wenn sie etwas nicht verstanden haben.

Für die Beziehung von Barwich zu Hertz ist eine Äußerung Barwichs mir gegenüber aufschlussreich. In Agudseri arbeiteten Hertz und Barwich gemeinsam an neuen Methoden der Isotopentrennung. Wenn Barwich für sich allein in seinem Arbeitszimmer nachdachte und Rechnungen durchführte, holte er mich oft zu sich, weil er gerne einen Zuhörer hatte. Eines Tages kam er nach einer Besprechung mit Hertz ins Labor, wo ich an einer Vakuumapparatur nach Undichtigkeiten suchte. Deutlich enttäuscht sagte er: „Der alte Hertz denkt immer noch besser als ich. Irgendwann muss sich das doch umkehren, denn bei mir geht es mit der Denkfähigkeit noch aufwärts, in seinem Alter kann es nur abwärts gehen.“ Aus diesem Geständnis sprach seine hohe Anerkennung und Ehrerbietung seinem Chef gegenüber. Diese Anerkennung wurde Hertz von allen Institutsangehörigen entgegengebracht, insbesondere auch von den georgischen Mitarbeitern. Ein Mensch wie Hertz braucht nicht anzuordnen, braucht nicht zu regieren; die Menschen ordnen sich seiner Intelligenz unter.

Letzteres gilt sogar für seine Vorgesetzten. Regelmäßig musste Hertz nach Moskau zur Berichterstattung. Danach zu urteilen, was ich sah und hörte, muss er in Moskau seine Vorstellungen und Wünsche weitgehend durchgesetzt haben. Dafür zwei Beispiele aus seinem privaten Leben. Sein Institut lag in einem Park unmittelbar am Meer. Das Territorium war eingezäunt und von Soldaten bewacht. Es gab einen Durchgang zum Strand. Eines Tages war dieser Durchgang zugesperrt. Hertz protestierte sehr hart; er erklärte, dass er seine Arbeit erst dann fortsetzen würde, wenn der Durchgang wieder geöffnet sei. Am nächsten Tag war er wieder geöffnet und blieb es für immer. Ein andermal protestierte Hertz gegen die rußende Heizungsanlage in seinem Haus. Er verstaute Rußflocken in einer Streichholzschachtel und zeigte sie seinem vorgesetzten General in Moskau. Es dauerte nicht lange, und die Heizungsanlage wurde verlegt, wozu in angemessener Entfernung ein spezielles Gebäude errichtet wurde.

Hertz konnte es sich auch leisten, Forderungen, die an ihn gestellt wurden, abzulehnen. Als er einmal nachts geweckt und aufgefordert wurde, sich unverzüglich nach Moskau zu begeben, sagte er, dass er nachts nicht gestört werden wolle, und schlief weiter. Seine Vorgesetzten, möglicherweise Beria selbst, ließ er warten; und sie warteten. Hertz lehnte auch Aufträge ab, wenn er sie für unerfüllbar hielt. Als der sowjetische staatliche Leiter des Objekts Agudseri, ein höherer Offizier, in einer Besprechung einmal etwas völlig Unmögliches verlangte, meinte Hertz: „Sie können von mir verlangen, an dieser Wand hochzuklettern – ich werde es nicht tun, weil ich es nicht kann.“ Das war schlagender Humor, der nicht übel genommen werden konnte.

Ja, Humor war eine Eigenschaft, die den Menschen Hertz auszeichnete. Es war ein Situationshumor; nur selten wollte er Menschen gezielt zum Lachen bringen, aber es kam vor, beispielsweise kurz vor der kirchlichen Trauung mit seiner Braut Ellen. Diese bestand auf der Teilnahme an vorbereitenden Bibelstunden. In einer dieser Bibelstunden stach ihren Bräutigam der Hafer, und Hertz flüsterte seiner Braut etwas ins Ohr, um sie zum Lachen zu bringen, mit durchschlagendem Erfolg. Seine Braut konnte sich vor Lachen nicht halten, als sie einen Schüttelreim zu hören bekam: „Es rissen mir die Stiebelbunde grad mitten in der Bibelstunde“.

Meinem Onkel brachte sein Humor viel Sympathie ein trotz aller Korrektheit, die er von seiner Umgebung verlangte. Insbesondere ließ er keine sprachlichen Unkorrektheiten und Unklarheiten durchgehen, auch nicht bei sich selbst. In seinem Glückwunschbrief zu Barwichs 50. Geburtstag schreibt er: „Leider bin ich im Schreiben unbeholfen, weil ich bei jedem Satz möchte, dass er genau das ausdrückt, was ich gerade denke, und da er das nicht tut, komme ich nicht weiter“.

Sein Humor hat ihm oft geholfen, Widerstände aus dem Weg zu räumen, und das auch im Umgang mit seinen Vorgesetzten. Aber die wussten, was sie taten, wenn sie ihm zu Willen waren, denn sie wollten ja seine Intelligenz ausschlachten. Wie wertvoll er für seine Arbeitgeber war, zeigt ein Vorkommnis bei der Firma Siemens, wo Hertz seit 1935 tätig war, nachdem er sein Amt als Hochschullehrer und Lehrstuhlinhaber niedergelegt hatte und zwar aus Protest. Die Nazis hatten ihm verboten, Examen durchzuführen.

Bei Siemens hatten Ingenieure einen Elektromotor entwickelt, eine Neukonstruktion, die nicht arbeiteten wollte. Niemand verstand warum. Die ganze Ingenieurselite stand vor einem Rätsel. Schließlich wurde Hertz zu Rate gezogen. Der erkannte sehr bald, dass nicht alle Leitungswicklungen, die bei Stromdurchgang das erforderliche Magnetfeld liefern sollten, in der richtigen Richtung gewickelt waren. Es handelte sich um eine ziemlich komplizierte Wicklung, und es bedurfte eines ausgezeichneten räumlichen Vorstellungsvermögens, um die Geometrie der Wicklung zu durchschauen. Nach Neuwicklung gemäß seinen Angaben funktionierte der Motor.

Aus der Siemenszeit stammt eine für den Hertz’schen Humor typische Geschichte. Eine Kommission stellte fest, dass in den Laborräumen einiges Quecksilber verstreut herumlag. Ein Kommissionsmitglied meinte zu Hertz, dass das Einatmen von Quecksilberdämpfen zu Haarausfall und Verminderung der geistigen Kräfte führt. Hertz antwortete: „Man muss sich’s leisten können.“ Ich kenne die Geschichte freilich nur aus seinen eigenen Erzählungen, so auch die folgende aus seiner Kindheit. Bei einem Essen der Verwandtschaft gab es als Nachtisch Kompott. Als die Kompottschüssel bei Gustav, dem Vorletzten in der Runde, ankam, war gerade noch eine Portion in der Schüssel. Gustav nahm sich die Portion und gab die leere Schüssel an seinen Vetter Oskar weiter mit den Worten: „Armer Oskar!“ Man könnte darin Egoismus oder Schadenfreude sehen. Ich denke, dass sein Verhalten eher seinem angeborenen Korrektheitsbedürfnis entsprang, das sich nie boshaft oder kleinlich äußerte und nur selten in Vorwürfen. Oft war es eher ein unbewusstes Bedürfnis, beispielsweise, wenn er beim Rundgang durch die Laborräume die Lage eines Buches korrigierte, das schief auf einem Tisch lag. Das haben mir seine damaligen Schüler erzählt, die – inzwischen promovierte Wissenschaftler – mit ihm nach Russland gegangen waren. Diese Reaktion auf mangelhafte Ordnung zeigt, dass sein Korrektheitsbedürfnis eine ästhetische Komponente hatte.

Bevor ich zu meinem Bericht über Agudseri zurückkehre, möchte ich noch ein Vorkommnis erzählen, das sich viel später zutrug, aber das Verhältnis von Hertz zu Barwich in ein besonderes Licht rückt. Als Hertz hörte, dass sein Lieblingsschüler Barwich in den Westen gegangen war – das war im Jahre 1968 –, meinte er (wörtlich): „Nun ist er ganz verrückt geworden.“ Für die DDR-Regierung war Barwich wegen „Republikflucht“ ein Feind der DDR. Dessen ungeachtet sagte Hertz nach Barwichs Tod in einer Rede, dass es doch sehr tragisch sei, wenn so begabte Menschen wie Barwich zu früh sterben. Auch das war ein Zeichen für seine Zivilcourage: die öffentliche Trauer um einen „Feind der Republik“.

...

 

Zurück zur letzten Seite                    Zur Startseite des Verlages