Zum Buch
Es
ist die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die nach dem Ersten Weltkrieg in
einer schwäbischen bürgerlichen Familie aufwuchs.
Sie studierte Kunst an der Stuttgarter Kunstgewerbeschule, verliebte sich in
den bekannten Arzt und Dramatiker
Friedrich Wolf und erlebte die ganz große Liebe.
Früh wandte sie sich der linken Bewegung zu und leistete Widerstand gegen
das erstarkende NS-Regime.
1933 musste sie Deutschland verlassen. Sie floh nach Moskau. In Engels
studierte sie Pädagogik, heiratete den Journalisten Lorenz Lochthofen. 1938
wurde sie Opfer des Stalinterrors.
Diese Autobiographie kann als bemerkens-werter Beitrag zur Dokumentation der
Endzeit der Weimarer Republik angesehen werden, als eine – erschütternde –
Aufklärungsschrift zur Gulag- und Verbannungspraxis und -geschichte in der
Sowjetunion und als Beitrag zur weiteren Klärung des Schicksal deutscher
Politemigranten.
INHALTSVERZEICHNIS
Dike!
2.
Dezember 1999 11
Jetzt
ist die Zeit gekommen.
März 2001 13
1.
Buch: In Stuttgart 17
Für
den Vater bestraft? 1915 17
Kindzeit. 1915–19201 23
Aschenbrödel. 1920–1925 37
Das
Verhängnis. 1927 50
Arbeiterin. 1927–1928 57
Konsultation bei Dr. Wolf. 1928 64
Große Liebe und Hunger. 1928 75
In
Wolfs Auftrag Pionierleiterin der IAH. 1929–1931 82
Die
Sache mit den Burschenschaftern. 1931
85
Alltag einer Liebschaft. 1931–1932
87
„Bauer Baetz“. 1932
92
2.
Buch: Im Exil
101
Das
Exil beginnt – für Wolf. 1933
101
Frankreich – Frühsommer. 1933
111
Selbst ins Exil / „Mamlock“. Sommer 1933
117
Unbeschwert in Frankreich. Spätsommer 1933 123
Ohnmachten. Oktober 1933
132
Rettung des Wolf-Archivs. Mitte Oktober 1933 136
Wolf geht in die Sowjetunion. Ende 1933
144
Lena wird geboren. Februar 1934
148
Exmittierung. März 1934
152
Die
SS kommt nach Basel. April 1934
154
Über Prag nach Moskau. Mai 1934
157
Moskau, die erste Zeit. Mai/Juli 1934
163
Wie
Lenins Witwe befahl: Engels. August 1934
173
Trennung von Wolf. Herbst 1935
185
Heirat, Ängste, Scheidung. Herbst 1935–Frühjahr 1937 196
3.
Buch: Im Gulag
211
Verwicklungen, Verhaftungen, Larissa. Frühjahr/Sommer 1937
211
„Denn meine Seele ist tausend Jahre alt.“ Herbst 1937–Januar 1938 221
In
der Gewalt des NKWD. 5. Februar 1938
227
„…mit diesem Leonardo rumgehurt“. 6. Februar 1938
238
Larissa stirbt. 21. März 1938
248
Gefängnis und Verhöre. April–Oktober 1938 254
Transport ins Karlag und Urteilsverkündung. 14. Oktober-November
1938 275
Landwirtschaft in Dolinka. Dezember 1938–1939
281
Ein
Mordversuch und der „Arbeitsunfall“. März–Juli 1939
299
Lendenwirbelbruch: trotzdem arbeitsfähig. August 1939–Februar
1940 311
Das
Getreidelabor der Gulag-Wirtschaft. März 1940–Dezember
1940 332
Im
Buran. Sylvester 1940
344
Der
Chirurg. Januar 1941
359
Gefängnis-Gulag. Herbst 1941–Herbst 1942 364
Feldarbeiten. Herbst 1942
384
In
Erdhütten bei der Schafzucht. März 1943–März 1945
395
Zur
Rettung ein eigenes Kind. Juli 1946
414
Trennung von Sachar. Winter 1945/1946
417
Als
Gefangene Farmleiterin. Winter 1945–Frühjahr 1946 425
Nikolai wird geboren. 28. April 1946
428
4.
Buch: In der Verbannung
435
Die
Verbannung beginnt – 17. August 1946 435
Vergiss, was einmal war – 1947
443
Die
tote Frau – Neujahr 1948
454
Wirtschaftsschwester in Karaganda-Michailowka – Ab Sommer
1948 459
Lena kommt… April 1949
470
…und geht für immer. Sommer 1950
489
Die
Pietà. Herbst 1950
492
Sowjetisches Leben. Herbst 1950–März 1953 494
5.
Buch: Die Rückkehr
507
Die
Ausreisegenehmigung. September 1954 507
Moskau. September 1954
512
Berlin. Oktober 1954
515
Sie
wollen nicht loslassen. Später
521
Die
Suche nach Glück und die Kunst des Überlebens. Ein
kulturwissenschaftliches Nachwort Horst Groschopp
529
Bildanhang 589
Editorische Notiz 625
Ausgewählte biografische Daten zu auftretenden Personen 631
Glossar 653
Über die AutorInnen 659
LESEPROBE
Arbeiterin – 1927–1928
Ich saß vollkommen
verdattert da. Mitten im Schuljahr abgemeldet? Und was nun? Wie sollte es
weitergehen. Aber Mutter war noch nicht am Ende. „Ab nächsten Montag wirst
du in der Metallfabrik arbeiten. Als ungelernte Arbeiterin.“ Sie schaute
mich triumphierend an: „Die Firma Knecht liegt in Cannstatt. Ein weiter Weg
zwar. Aber du kannst dort als Gehilfin im Entwurfsbüro arbeiten.“
Nun fuhr ich jeden Morgen ganz früh zur Arbeit. Umzusteigen brauchte ich
nicht, aber die Straßenbahnfahrt dauerte etwa eine Stunde. Was mir zusagte:
Die Metallfabrik „Knecht“ lag direkt gegenüber der hinteren Seite der
Wilhelma. Der Eingang in den Park war nicht verschlossen, und auf einer
nahen Bank aß ich in der Mittagspause stets mein mitgebrachtes Brot. Das
Büro, in dem ich nun arbeitete, lag unterm Dach des Fabrikgebäudes. Der
künstlerische Leiter, ein ruhiger, sehr stiller grauhaariger Mann, teilte
mir die Arbeit zu. Ein enormer Berg von vorbereiteten Werbekatalogen war
neben meinem Arbeitstisch gestapelt. Nach den Konturenzeichnungen, die mein
Vorgesetzter angefertigt hatte, waren Lichtpausen angefertigt. Die sollte
ich nun kolorieren.
Es waren Messingteile mit zeichnerischen Gravuren für Rauchtischplatten,
Aschenbecher, Metallvasen, Taufgeschenke, Becher, Kinderbestecke mit
hübscher Stielverzierung, Obstschalen auf einem dicken Mittelfuß und einem
gläsernen Kelch. Die Farbe des Metalls wurde mit einem besonderen Verfahren
aufgetragen; alles musste so gemalt werden, dass es dreidimensional wirkte.
Der künstlerische Leiter war sehr wortkarg. Aber des
Öfteren sah ich ihm, wenn es Grund zum Aufstehen gab, über seine Schulter
und war neidisch auf seine Arbeit. Gerne hätte ich auch kreativ gearbeitet,
denn mein Kolorieren war mir zu eintönig. Deshalb hatte ich mir heimlich ein
Zeichenblatt genommen und unter den großen Katalog, den ich in Arbeit hatte,
gelegt. Den Katalog hielt ich wie ein Schutzschild hoch und zeichnete, was
ich mir vorgestellt hatte. Plötzlich stand der Werkdirektor vor mir. Er war
durch eine kleine Seitentür hereingekommen, die ich noch nicht bemerkt
hatte. Ich ließ den Katalog auf meine Zeichnung fallen und sah erschrocken
zu ihm auf. Er hob den Katalog an, schaute auf meine Skizze und sagte:
„Morgen früh, Punkt 9.00 Uhr in meinem Büro!“ Dann drehte er sich um, ging
zur Tür, fragte dann: „Haben Sie Zeichnungen zu Hause? Mitbringen!“
Am nächsten Tag
legte ich das vor, was ich als geeignet ausgewählt hatte, darunter auch
Entwürfe für Lederprägungen, die ich für Bekannte gemacht hatte. Die Folge
war, dass der künstlerische Leiter, ein Familienvater, entlassen wurde. Nun
arbeitete ich an den Entwürfen und an den Katalogen allein da oben unterm
Dach. Da war ich sechzehn Jahre alt.
Der Firma schien es schlecht zu gehen. Neugestaltungen und Neuentwürfe
wurden nicht mehr gebraucht. Eines Tages wurde das Entwicklungsbüro
geschlossen, ich wurde in die Fabrikhalle versetzt. Erst lötete ich je zwei
Griffe an Tortenplatten. Es war ein automatisches Karussell. Es drehte sich
ruckweise, hielt mit einer Platte genau dort, wo ich stand, um den Griff
anzulöten. Aber das machte ich nur ein paar Tage lang. Danach sollte ich
Metallvasen, helles Messing mit schwarzem Lack bemalen – freihändig, mit
Blumen, Blättern und Ranken. Eine Arbeit, die meinen Neigungen entsprach und
die mir Spaß machte. Nur das Fräsen auf dem Metall war sehr laut, und der
Metallstaub tat nicht gut.
Eine neue Woche begann.
Frohgemut fuhr ich nach Cannstatt zur Arbeit. Die Menschen waren freundlich,
wegen meiner Arbeit gab es nie ein tadelndes Wort. Beschwingt lief ich von
der Tramhaltestelle zum Fabrikgebäude. Von weitem sah ich es schon. Alle
Arbeiter standen vor dem Eingang. Man ließ uns nicht hinein. Auf den Stufen
davor stand die Angestellte vom Lohnbüro: „Die Firma ist bankrott, es gibt
keine Arbeit.“ Neben der Dame vom Lohnbüro stand ein großer Karton, aus dem
sie jeweils eine Lohntüte herauszog, so als ziehe sie Lose. Sie rief den
jeweiligen Namen auf und übergab dann die letzte Lohntüte mit den
Arbeitspapieren.
Auch ich hielt meine Lohntüte in der Hand. Mit einem
Monatslohn von achtzig Mark, die mir Mutter dann sofort wegnahm. Nur das
Geld für die Fahrt zur Arbeit gab sie mir davon zurück. Ich schaute mich um,
sah all die vielen Menschen, die nun bestimmt zum Arbeitsamt eilten. 1928 –
die Zeit der schlimmsten Arbeitslosigkeit. Gab es für mich denn überhaupt
Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz? Wieder schaute ich auf die vielen
Arbeiter, die noch auf ihre Lohntüte und ihre Entlassungspapiere warteten.
Kurz entschlossen rannte ich los. Bis zum Taxistand. Zwar war die Fahrt bis
zur Stadtmitte für meine Verhältnisse eine teure Sache. Aber ich wollte als
Erste auf dem Arbeitsamt sein. Nur dann hatte ich eine Chance. Meinte ich. –
Ach, wie unwissend und unerfahren stand ich doch vor meinem Leben!
Im Arbeitsamt lief
ich durch den langen Korridor. Fand ein Schild mit irgendeinem Hinweis, so
etwa: „weiblich, jung“. Ich betrat den Raum. Stühle an den Wänden. Dicht bei
dicht. Und alle Stühle waren besetzt, junge Mädchen standen am Fenster. Es
dauerte Stunden, bis ich an die Reihe kam. Die Beamtin machte sich zunächst
Notizen: bisherige Stellung, Ausbildung, Fähigkeiten, etc. etc. Sie fragte
viel, schrieb alles auf. „Arbeit? Nein! Leider. – Fragen Sie in nächster
Zeit mal wieder bei mir nach.“ Arbeitslosenunterstützung gab es für mich
nicht.
Die Beamtin, sie hieß Fräulein Hartmann, eröffnete mir nach mehreren
vergeblichen Besuchen: „Ich habe da etwas. Eine Stelle als Geschirrspülerin
im Feinkostgeschäft ‚Böhm’. Alle Mädchen und jungen Frauen haben diese
Arbeit bisher abgelehnt.“ „Ich nehme die Stelle“, sagte ich entschlossen.
Fräulein Hartmann schaute mich an und meinte, es werde mir nicht leicht
werden. Es sei eine schwere und auch unappetitliche Arbeit in einer feuchten
Küche, die im Keller liege.
Also fing ich im Feinkostgeschäft „Böhm“ an. Die Eigentümerin, hochgewachsen
und dünn, war stets schwarz gekleidet. Sie war eine despotische Frau, streng
und autoritär. Dann gab es da noch den Sohn. Der schaute sich, ständig
kontrollierend, im großen Laden, in den Warenlagern und im Kühlraum mit
strengem Blick um und bewies, dass er alles im Griff hatte. In der Küche
regierte eine korpulente Köchin. Sie war nicht unfreundlich. Aber zu mir,
dem Putz- und Spülmädchen, hielt sie stets Distanz. Mein Monatslohn betrug
siebzig Mark.
Schon früh am Morgen gab es Teller und Platten zu reinigen, die verschmiert
waren mit Mayonnaise und Sülze und fettig von Öl, Käse, Butter, Wurst usw.
Wirksame Spülmittel gab es zur damaligen Zeit noch nicht. Um das fettige
Zeug abzukommen, war das Abwaschwasser mit Soda versetzt. Bald waren meine
Fingernägel weich und brüchig. Sie splitterten. Die Fingerkuppen waren
zerfressen von dieser Lauge.
In der Küche wurde gebrutzelt und gebraten. Kondenswasser triefte von den
gekachelten Wänden herab. Das ständige Stehen auf dem kalten, gekachelten
Fußboden forderte seinen Tribut. Bald hatte man Kreuzschmerzen. Zudem war
die Luft schlecht, da die Küche nur dürftig belüftet wurde.
Wenn abends alle anderen Mitarbeiter Feierabend hatten, musste ich nach
Ladenschluss noch den fast turnhallengroßen Verkaufsraum wischen. Wegen des
großen Publikumsverkehrs war der Boden so sehr verschmutzt, dass ich
mehrfach den langen Weg durch den Keller zur Küche zurücklegen musste, um
neues Wasser zu holen und etwas Schmierseife hinzuzugeben.
Hatte ich diese Arbeit beendet und war der Boden des Verkaufsraums wieder
trocken, nahm ich einen Korb und kontrollierte das Obst im Laden, sammelte
dabei Äpfel, Birnen und Bananen ein, die schon leichte Flecken hatten. Das
Obst benötigte ich, um am nächsten Morgen als erstes Müsli zu machen. Dafür
weichte ich dann noch die Haferflocken ein. Erst dann war auch mein
Arbeitstag beendet. Ich durfte gehen – als Letzte.
Wieder in der Küche, war früh am Morgen meine erste Aufgabe, das Müsli zu
machen. In einer elektrischen Reibe hatte ich die Mandeln für das Bestreuen
feingemahlen, hatte das Obst durch den Fleischwolf gedreht und dann mit den
vorgeweichten Haferflocken vermischt. Ich füllte kleine Gläser, wog ab und
bestreute das Müsli mit feingemahlenen Mandeln. Hunderte dieser Gläser hatte
ich mit nassgemachtem Cellophanpapier luftdicht zu verschließen. Dann kamen
die Gläser nach oben in den Laden in gläserne Kühlkästen. Dieses
Müsli-Angebot war sehr beliebt. Der Laden von Böhm befand sich im
Stadtzentrum Stuttgarts mit seinen vielen Büros. Aus Zeit- und Geldmangel
holten sich all diese Büroangestellten für die Mittagspause so ein Glas mit
leckerem Müsli. Blieb manchmal etwas übrig, so durfte ich drei bis vier
Gläser Müsli zum halben Preis kaufen. Die brachte ich dann für Mutter und
meine Geschwister mit nach Hause.
Wenn ich nicht gerade mit Spülen beschäftigt war, holte ich aus dem Laden
die Käsereste, die beim Abwiegen für den Kunden entstanden waren. Der Käse,
den ich in einer Reibemühle kleingemahlen hatte, wurde nun mit Butter, rotem
Paprika oder mit gehackten Kräutern, Senf oder Tomatenmark vermischt. Hübsch
geformt und verziert, wurden sie als fertiger Brotaufstrich zum Verkauf
angeboten.
Als der Juniorchef meine kreativen Fähigkeiten entdeckte, holte er mich aus
dem Keller hinauf: Ich sollte jetzt die Schaufenster dekorieren und
Geschenkkörbe arrangieren. Oft wurden für besondere Festivitäten von der
Kundschaft gleich achthundert bis neunhundert Appetithäppchen bestellt, die
ich vorher mit viel Phantasie auf vielfältige Art schmückte. So hatte die
anfängliche Arbeit und ihre erschreckende Eintönigkeit nun doch Abwechslung
gebracht.
Diese wurde jedoch abrupt abgebrochen. Ich hatte vom Laden wieder Käsereste
gebracht, dazu einige Stücke Butter, um sie zu verschiedenen Brotaufstrichen
zu verarbeiten. Ich schaltete die elektrische Reibemaschine ein, um den Käse
zu zerkleinern. Fertig. Ich schaltete ab, griff in die Trommel, weil eine
Käsescheibe darauf klebte, zurückgeblieben war.
In diesem Augenblick lief
die Maschine wieder auf vollen Touren los und riss meine linke Hand mit.
Sofort griff ich mit der freien Hand nach dem Schalter. Irgendetwas war in
die kleine Öffnung gefallen, und nur mit aller Kraft gelang es mir, die
Maschine zu stoppen. Meine Hand sah bös aus, der Zeigefinger war
blutüberströmt. Die herbeigerufene Prinzipalin machte mir einen Notverband
und schickte mich zum Kassenarzt, der unweit des Geschäfts in derselben
Straße wohnte. Er versorgte den verletzten Finger einige Tage lang. Dann
aber erklärte er, dass der Finger, der inzwischen stark eiterte, nicht mehr
zu retten sei. Am darauffolgenden Tage müsse er ihn amputieren, ich solle
pünktlich sein.
Ich war entsetzt. Jetzt sollte ich mein ganzes weiteres Leben die
verkrüppelte Hand vor Augen haben? Ich brauchte doch den linken Zeigefinger
genauso wie den rechten. Wie sollte ich dann noch modellieren können, was
meine liebste Beschäftigung war? Nein, zu diesem Kassenarzt würde ich nicht
mehr gehen. Es musste doch einen Arzt geben, der mir helfen konnte.
Da fiel mir ein Arzt ein, der gegen chirurgische Eingriffe war. In Stuttgart
wurde viel von ihm gesprochen. In Schaufenstern hatte ich Broschüren
gesehen, die dieser Arzt verfasst hatte. Unüblich schon der weiße Einband,
die Schrift blau oder auch rot. Diese Broschüren wirkten auf mich so rein
und jung – und ungewohnt modern. Ein Titel war „Der schwache Punkt der Frau“
und ein anderer Titel, den ich witzig fand, „dein Magen – kein
Vergnügungslokal“. Und ich musste an meinen geliebten Vater denken, den
Gesundheitsfanatiker. Ihm hätte das imponiert.
Konsultation bei Dr.
Wolf – 1928
Ich machte mich also
kundig und fand die Adresse dieses Arztes heraus. So wurde ich die Patientin
von Dr. med. Friedrich Wolf. Dr. Wolf besah sich den Finger, schüttelte den
Kopf. Mich durchfuhr ein Schreck: Wollte auch er meinen Finger amputieren?
Nein. Er säuberte die Wunde und verordnete mir, den Finger täglich so heiß
wie möglich zu baden. Am Morgen sollte ich viel Kernseife im Wasserbad
auflösen, am Abend Salz ins Wasserbad geben. Die Konsultation bei Dr. Wolf
kostete fünf Mark, die ich sofort zu zahlen hatte.
Wegen meiner Wunde musste sich Mutter diesmal damit abfinden, mir meinen
Monatslohn von siebzig Mark nicht abzuknöpfen. Der ärztliche Rat war gut
gewesen, der Finger hörte denn auch auf zu eitern. Regelmäßig ging ich hin,
ließ mir den Finger mit einer gelblichen Lösung behandeln – die anschließend
aufgetragene Salbe linderte den Schmerz.
Das Haus, in dem sich die Praxis befand, lag am Hang. Der Zugang war an der
Zeppelinstraße, das Grundstück reichte bis zur oberen Parallelstraße. Das
Haus, weiß und mit einem Flachdach, wirkte irgendwie so modern, sauber und
jung – ich hatte beim Betrachten dieses Hauses dasselbe Empfinden, das ich
beim Anblick der Broschüren dieses Arztes gehabt hatte.
Ich war sehr beeindruckt von Ihm. Er war auch Schriftsteller. Im Wartezimmer
hingen Theaterplakate. Eines der Stücke hieß demnach „Cyankali“. In Berlin
war es uraufgeführt worden, in Stuttgart noch nicht.
Dr. Wolfs Haus erinnerte mich an die moderne Architektur, die ich vor nicht
allzu langer Zeit in einer Internationale Bauausstellung Am Weißenhof in
Stuttgart gesehen hatte. Künstler und Architekten aus aller Welt hatten dort
ganz moderne, kubistisch wirkende Häuser errichtet. So sah auch sein Haus
aus. In der unteren Etage war seine Praxis, innen mit einer hellen und
freundlichen Ausstrahlung. Und Dr. Wolf wirkte auch so, hell und freundlich.
Der Arzt schien jung verheiratet. Denn oft sah ich zwei kleine Jungen im
Vorgarten spielen, meist im Buddelkasten. Dr. Wolf arbeitete allein, es gab
daher keine Arzthelferin und keine Empfangseinrichtung. Nur das Wartezimmer,
daneben die Praxis. Ich war ihm unendlich dankbar, dass er mir nach acht
Behandlungsterminen meinen Finger gerettet hatte. Nach der letzten
Behandlung gab ich ihm sein Honorar und als er aufstand, um den nächsten
Patienten ins Behandlungszimmer zu bitten – da küsste ich ihn auf den Mund
und lief weg.
Seit die Sache mit
Siegfried angefangen hatte, ging ich nicht mehr zu Ta-Ma zum
Klavierunterricht, und er ging nicht mehr mit seiner Geige zu ihr. Wegen
seiner Androhungen ging ich noch immer in sein Atelier, stand ihm Modell.
Mit Skizzen lieferte ich ihm Ideen für seine Bilder, reinigte die Malpinsel
und erfüllte alle seine sonstigen Aufträge.
Es war Abend. Marlis war schlafen gegangen. Mutter und Wolfgang saßen am
Tisch. Soeben kam Tante Marie ins Wohnzimmer, flüsterte mit Mutter, setzte
sich dann. Ich saß auf dem Diwan, neben meinem Malschrank. Das Licht war
dort nicht so gut, da der Lampenschirm mit seinen Perlfransen über dem
großen Tisch nicht viel Helligkeit in meine Ecke gab. Warum war Ta-Ma
gekommen? Sie ließ doch sonst auch nicht am Abend ihre Mutter allein? Ich
saß in meiner Ecke, spitzte mit einem Taschenmesser die Stifte, hing dem
Gedanken nach, was ich als nächstes malen könnte, achtete nicht auf Ta-Ma,
Mutter und Wolfgang, die am Tisch saßen. Es klingelte. Wolfgang lief
hinunter, um die Haustür aufzuschließen. Seltsam. Zu so später Abendstunde
kam nie jemand zu uns. Neugierig schaute ich auf die Zimmertür. – Siegfried!
Was wollte der hier?
Auf ihn hatte man also gewartet. Hing das mit Tante Marie zusammen, die
schließlich seit fast drei Jahren eine enge Beziehung zu ihm hatte?
Siegfried hatte Platz genommen. Er war sichtlich nervös. Mutter legte ein
Heft vor sich auf den Tisch, es war wieder einmal mein Tagebuch. Sie begann,
daraus vorzulesen. Sie las, wie Siegfried mich in seinem Atelier
vergewaltigte, nachdem er mir die Kleider vom Leib gerissen hatte.
Ich war entsetzt. Meinem Tagebuch hatte ich mein ganzes
Leid anvertraut, im Heft alles erzählt, was mir dieser Mensch angetan hatte.
Und das las Mutter nun vor – und Tante Marie und mein Bruder Wolfgang hörten
sich das an. Siegfried auch. In diesem Moment verstand ich. Mutters Plan war
vorbereitet. Mir wurde klar, warum sie mich damals, anstatt mich zu
begleiten, im Stich ließ, als ich zur zweiten Sitzung für das Porträt in
Siegfrieds Atelier gehen musste. Sie wollte Tante Marie als Ernährerin der
Familie nicht verlieren und opferte mich.
Ich hatte den Kopf
gesenkt. Schaute nicht einmal zum Tisch hinüber, an dem alle anderen saßen.
Mutter hatte nicht weiter vorgelesen. Sie wandte sich an Siegfried.
„Es gibt für
Sie nur ein Entweder-Oder, junger Mann“, sagte sie. „Ich fange mit dem
‚Oder‘ an. Dieses ‚Oder‘ bedeutet, dass es für Sie unmöglich sein wird,
weiter als Studienassessor zu arbeiten. Denn so jemanden kann man nicht auf
Kinder loslassen.“ Mutters höhnende Stimme war unerträglich. „Sie hätten
keinerlei Zukunftschancen. Das können Sie sich wohl selbst ausrechnen.“
*Sie ließ ihm
Zeit, sich das auszumalen. „Mein ‚Entweder‘ heißt: Sie heiraten dieses von
Ihnen missbrauchte Mädchen.“ Mutter machte auch hier wieder eine kleine
Pause, damit Siegfried ihre Worte verdauen konnte.
„Sie verloben sich mit ihr. Und zwar am heutigen Abend, hier und heute. Sie
setzen eine Annonce ins ‚Stuttgarter Tageblatt’. Das ist die unausweichliche
Bedingung.“
Entsetzt hörte ich Mutters Worten zu. War ich irgendein Möbelstück oder
sonst etwas, dass so über mich bestimmt wurde? Saß ich denn gar nicht hier
im Zimmer?
Jetzt vernahm ich Siegfrieds Stimme: „Alle Kollegen und Vorgesetzten, die
Studienräte, sie werden uns jetzt einladen, weil Sie meine Verlobte
kennenlernen wollen. Sie wird dort in guten Stuben sitzen. Sie wird dort den
Gestank verbreiten, der in ihren Haaren und in ihrer Kleidung sitzt. Nach
ihrer Tätigkeit wird man sie fragen. Man wird fragen, ob sie sich aufs
Abitur vorbereitet. Und wie ich sie kenne, wird sie ehrlich antworten: dass
sie fettiges Geschirr spült in einer Küche im Keller und dass sie mit ihren
Fingern den Schleim von Schnecken abkratzt.“
Schweratmend brachte er das vor, ohne Punkt und Komma. Alle schwiegen. Etwas
ruhiger fuhr Siegfried fort: „Gut. Ich habe keine Wahl. Aber ich verlange,
dass meine Verlobte standesgemäß und weil sie begabt ist, ab jetzt die
Kunstakademie besuchen wird.“
Sie einigten sich. Ich wurde nicht gefragt, hatte keinen Ton von mir
gegeben. So als wäre ich nicht anwesend, gehöre gar nicht hierher. Mutter
stand auf. Sie reichte mir die Haustürschlüssel. „Du darfst Deinem Verlobten
die Haustür öffnen. Bring’ ihn jetzt hinunter.“ Es waren die ersten Worte an
diesem Abend, die man zu mir sprach.
Also gingen wir aus der Wohnung, „mein Verlobter“ und ich. Es war schon
spät. Gleich nach der ersten Stufe zischte Siegfried mich an: „Du blöde Kuh.
Du bist an allem schuld. Du verdammtes Luder.“ Dabei schlug er mich mit
Fäusten, zumeist auf den Kopf. Beschimpfungen und Schläge setzte es vom
zweiten Stock bis runter zur Haustür. Dort spuckte Siegfried mir ins Gesicht
– und ging.
Dann erschien die von Mutter verlangte Annonce im „Stuttgarter Tageblatt“.
Ich war nun offiziell verlobt. Ich war nun Siegfrieds Eigentum. So wie er
vorausgesagt hatte, mussten wir nun den verschiedenen Einladungen seiner
Kollegen folgen. Mir war all dies höchst unangenehm. Ein glückliches Gesicht
vorzuspielen, das konnte ich nicht, hatte es noch nie gekonnt.
Als ich zum ersten Mal die Kunstakademie betrat, erfasste mich ein Schauer
von Ehrfurcht und Erwartung. Eine Studentin sollte mir alle Abteilungen
zeigen, damit ich einen Überblick bekam und mich entscheiden konnte, für
welche Fächer ich mich einschreiben wollte. Mir gingen die Augen über,
welche Möglichkeiten die Stuttgarter Kunstakademie bot. Am liebsten hätte
ich mich für alle Fächer eingetragen. Nur Modedesign interessierte mich
nicht.
Ich bekam ein
Stipendium. Das bedeutete, dass ich von der Zahlung der Studiengelder
befreit war. Denn ich war Halbwaise aus bedürftigem Haushalt, und mein
verstorbener Vater hatte an einer Hochschule Architektur unterrichtet.
Ich war glücklich, restlos glücklich. Vor allem, weil ich hier etwas
verwirklichen konnte, was seit meiner Kinderzeit in mir steckte. Wenn ich
mich schöpferisch betätigte, kreativ sein konnte, vergaß ich alles. In mir
war dann eine innere Zufriedenheit, die Konzentration auf mein Schaffen ließ
keinen Raum, an etwas zu denken, was mich sonst stets bedrückte. Hatte man
mir doch eingeredet, dass ich „anders“ war, verachtenswert. Und weil mein
Leben ganz anders war, sich „nicht normal“ gestaltet hatte, war ich sehr
scheu und verschlossen. Ich selbst konnte es nicht sehen, aber mein
Gesichtsausdruck war sicher unfreundlich.
Zu Hause ließ man mich
jetzt so ziemlich in Ruhe. Auch die Schikanen waren seltener geworden. Ich
hatte ohnehin weniger Zeit, zu Hause zu sein, denn von Heslach nach
Weißenhof war es ein weiter Weg. Zudem war ich verlobt, und die Pflichten,
die ich dadurch hatte, wurden von meiner Familie nun akzeptiert.
Nach unserer „Zwangsverlobung“ betrachtete mich Siegfried nunmehr als sein
Eigentum. Rücksichtnahme war jetzt erst recht nicht mehr vonnöten. Er wurde
mehr als pervers, dazu unsagbar brutal. Er war ein Sadist, der Dinge von mir
verlangte, die nicht zu beschreiben sind. Sie hier zu schildern, ist mir
unmöglich. Aber die Angst vor seinen Drohungen und Misshandlungen – all dies
zwang mich, immer wieder zu ihm hinzugehen.
In allem, was er forderte, meinte ich, ihm zu Diensten sein zu müssen. Nicht
nur, dass ich seine schmutzige Wäsche mit zu mir nach Hause nehmen musste
und sie ihm sauber und geplättet zurückzubringen hatte. Nein, wenn ich auch
nur irgendwie freie Zeit hatte, musste ich ihm auch sein Essen auf dem
Spirituskocher zubereiten. Er gab mir dann Geld, um die Zutaten zu kaufen.
Kam ich zurück, musste ich auf Heller und Pfennig abrechnen. So geschah es,
dass fünf Pfennige fehlten. Ich wusste einfach nicht, wo sie geblieben
waren. Nun hatte Siegfried einen Anlass: Er stürzte sich auf mich, mit
Fäusten schlug er auf mich ein. Ich schluchzte, weinte, versuchte, seine
Schläge abzuwehren, vergeblich. Blut lief über mein Gesicht, wohl aus der
Nase. Ich spürte, dass die Unterlippe geplatzt war. Und da fiel es mir ein:
„Das Suppengrün, es hat fünf Pfennig gekostet.“ Da ließ er von mir ab.
Meine Grenzen waren erreicht. Auf seinem Zeichentisch sah
ich das schwere Prismenglas, packte es – und warf es gezielt in Richtung
seines Kopfes. Siegfried wich seitlich aus, das Glas durchschlug die Scheibe
der Tür zu seinem Wohnraum. Größeren Schaden durch das schwere Prismenglas
auf der anderen Seite befürchtend, lief er ins Nebenzimmer. Eher glaube ich,
dass er das schwere Glas, das ich auf ihn geworfen hatte, suchen wollte, um
mich damit zu bestrafen. Auf dem Zeichentisch lag ein Messer mit dickem
Griff. Es sah aus, wie die Stanley-Messer aussehen. Er benutzte es beim
Spannen der Leinwand. Ich packte dieses Messer und zerschnitt ein fertiges
Bild, das er nach einem Entwurf von mir gemalt hatte, kreuz und quer. Dann
ließ ich das Messer fallen und stürzte davon.
Wegen der
Verletzungen, die Siegfried mir zugefügt hatte, musste ich zum Arzt. Ich
ging wieder zu Dr. Wolf. Er besah mein zugeschwollenes, blaugeschlagenes
Auge, versorgte die geplatzte Wunde, schrieb alles ausführlich auf. Ich war
noch sehr aufgeregt. Wolf drückte mich an sich, beruhigte mich. Dann gab ich
ihm sein Honorar und ging.
Zuhause sah mich Mutter an, sagte aber nichts, fragte auch nichts. Später
übermittelte sie, Siegfried habe gefordert, dass ich zu ihm ins Atelier zu
kommen habe. Ich reagierte nicht. Ich sah ihn nie wieder.
Pünktlich und regelmäßig
ging ich zur Kunstakademie. Dort fand ich Ruhe und Zufriedenheit. Der Leiter
der Kunstakademie vermittelte mir einen Auftrag. Auf Wunsch dreier
wohlhabender Damen sollte ich einen Wandteppich für die neuerbaute
Waldkirche in Degerloch weben. Sie wollten den Wandteppich „Maria mit dem
Kinde“ der Gemeinde zur Erinnerung stiften. Ich ging gleich an die Arbeit.
In meiner Vorstellung hatte ich den Entwurf schon im Kopf. Meine Skizze
wurde vom Professor und den Gemeindevertreterinnen gelobt. Der Auftrag war
perfekt. Als Lohn sollte ich achthundert Mark bekommen.
Unermüdlich arbeitete ich, Tag für Tag, denn der Termin war vorgegeben. Und
meine Gedanken waren natürlich zunächst mit der Frage beschäftigt: Was würde
ich mit dem Geld anfangen; was für Wünsche waren es, die ich mir mit dem
Honorar erfüllen könnte. Oder? – Ach, natürlich: Mutter würde mir das Geld
wegnehmen.
In der Familie befand ich mich nun, da ich meinem Verlobten
„davongelaufen“ war, wieder im selben Status wie zuvor: Ich wurde
rumkommandiert, beschuldigt, bestraft, entwürdigt. Dabei tat sich meine
inzwischen älter gewordene Schwester mit Gehässigkeiten besonders hervor.
Aber ich konnte das alles inzwischen ertragen, denn ich fand tägliche
Erfüllung bei der Arbeit an meinem Gobelin; machte Pläne, was ich mir als
nächstes vornehmen wollte, hatte Ideen, machte Entwürfe. Ich dachte an Dr.
Wolf, an den spontanen Kuss, den ich ihm gegeben hatte. Mir wurde bewusst,
dass ich mich verliebt hatte. (Siehe Abb. 2 und 3) Zu selten hatte ich
vorher je erlebt, dass man zu mir freundlich und aufmerksam gewesen war?
Beim Verbinden meines verletzten Fingers hatte Dr. Wolf zu mir gesagt: „Sie
sind ein lieber Kerl. Bei Ihrem ersten Kind will ich Pate sein. Denken Sie
daran, wenn es soweit ist.“
Ein absurder
Gedanke. Ich hatte lachen müssen. Ich dachte viel an ihn, nicht nur aus
Dankbarkeit für seine ärztliche Hilfe. Bei ihm hatte ich das Gefühl, er
achtet mich als Mensch. Dass ich mich verliebt hatte – ein für mich völlig
neues Gefühl und deshalb vielleicht so stark.
Aber wer war ich schon? Ein Nichts. Ich versuchte, mich in die Bücher zu
retten. So wie ich als kleines Kind nach Prügeln Trost in den Märchenbüchern
fand, so wie ich mich heute noch in die Bücher rette. Ich flüchtete in eine
andere Welt. Aber die Gedanken an diesen Mann, sie ließen mich nicht mehr
los. Ich fragte mich, ob er neben all den Patienten, die er behandelte, auch
eine kleine Erinnerung an mich zurückbehalten hatte. Immer mehr nahmen mich
die Gedanken an ihn in Besitz. Ich wusste: Das durfte nicht sein. Das konnte
nicht sein.
Ich aß schlecht, ich schlief schlecht, ich magerte ab. Da
meine Mutter unter gesundheitlichen Beschwerden litt, redete ich ihr zu, Dr.
Wolf aufzusuchen. Sie lehnte ab: „Nein, nein. Er ist kein Kassenarzt, und
ich habe nicht das Geld, ihn zu bezahlen.“ Ich überlegte, wie ich Mutter
helfen konnte. Mit kleinen Aufträgen verdiente ich Geld dazu, mit dem ich
ihr diesen Besuch ermöglichte.
Mutter war von Dr.
Wolf beeindruckt. „Übrigens, er hat sich eingehend nach dir erkundigt. Ich
habe Dr. Wolf gesagt, dass du so schlecht isst und so abgemagert bist.
Vielleicht, weil du deine Verlobung aufgelöst hast.“ Ich schaute sie fragend
an. „Ach ja. Und dann hat er noch gesagt, das sei gar nicht gut. So magere
Mädchen möge er nicht.“ Ich machte mir Gedanken, was dieser Satz zu bedeuten
hatte. Jedenfalls stand eines fest: Er hatte mich noch in Erinnerung.
Im Stuttgarter Schauspielhaus wurde ein Stück von Friedrich Wolf aufgeführt.
Ich wollte es mir anschauen. Es gab eine Abendvorstellung, später noch eine
Nachtvorstellung, speziell gedacht für Arbeiter, denn die Preise waren
wesentlich niedriger. Ich kaufte mir eine Eintrittskarte für die
Spätvorstellung.
Das Stück hieß „Die Jungens von Mons“. Die billigeren Plätze auf den
Galerien waren bereits ausverkauft. Ich saß im Parkett in der dritten Reihe
links. Die Sitzplätze vor und neben mir waren leer geblieben. Einige Meter
vor mir befand sich eine Seitenloge, in der einige Herren saßen.
Da drehte sich ein Gesicht hin zum Saal – vermutlich um die Besucherzahl zu
prüfen. Dann fiel der Blick auf mich – es war Friedrich Wolf. Als es im Saal
dunkel wurde und sich langsam der Bühnenvorhang hob, da saß er schon neben
mir. Während der ganzen Vorstellung blieb er bei mir sitzen. Hier und da
flüsterte er mir eine Erläuterung zu seinem Stück zu, aber ich konnte davon
nichts aufnehmen. Ich wusste nur eins: Er saß neben mir.
Am Ende des Stücks war er auf die Bühne gegangen. Es wurde applaudiert, er
sprach zum Publikum. Am Schluss verließ ich, noch völlig benommen von meinen
Empfindungen, das Theater. Und plötzlich war er wieder neben mir.
Wir gingen durch die nächtlichen stillen Straßen. Wir umarmten und, wir
küssten uns. Wir ließen uns Zeit für den Heimweg. Er hatte den Arm um meine
Schulter gelegt. So gingen wir, uns leise unterhaltend durch die nächtlich
stillen Straßen. Blieben manchmal stehen, liebkosten uns, küssten uns. Im
Weitergehen sagte er: „Nenne mich Wolf. Alle Freunde nennen mich so. Den
Vornamen Friedrich mag ich nicht sonderlich. Mir ist selber so, als sei mein
Nachname auch mein Vorname.“ Das gefiel mir.
„Ich muss dich
wiedersehen. Ich liebe dich. Sag, wann?“ Ich hörte Wolfs Worte, blieb
stehen. Ich schaute ihn an, blickte in dieses
Gesicht, das ich davor immer wieder vor
mein inneres Auge geholt hatte. Ich sagte: „Du bist verheiratet. Erst wenige
Jahre, denn deine Kinder sind noch klein.“ „Es ist keine gute Ehe. Wir
wollen uns trennen“, antwortete er. Nun hatte ich zwar nicht die geringste
Lebenserfahrung und die Beziehung mit Siegfried war eine einzige brutale und
pervers-sadistische Zeit des Horrors gewesen. Aber ich hatte viel gelesen,
und die Bücher waren meine Lehrmeister.
Ich sagte daher zu ihm: „Ich treffe mich liebend gern mit dir. Aber
erst, wenn ich mit Deiner Frau gesprochen habe.“ Diese Überlegung war ihm
unsympathisch, er wehrte ab. „Also stimmt es doch nicht, was du gerade zu
mir über deine Ehe gesagt hast?!“„Nein, nein. Es stimmt“, versicherte er
mir.
„Ich bestehe auf einem Gespräch mit Deiner Frau.“ Ich wollte mich abwenden,
da wir vor dem Haus standen, wo ich wohnte. „Nicht so, Liebste“ – er nahm
mich in die Arme, bedeckte mein Gesicht mit Küssen. „Ich geb’ dir Bescheid.
Es soll so sein wie du es möchtest.“ Als ich am nächsten Morgen früh wach
wurde, roch mein Kopfkissen nach ihm, nach seinen Küssen. Ich war glücklich.
Glücklich? Nein, noch viel mehr als das.
Wolf hielt sein Wort. Er gab mir Bescheid, dass seine Gattin mir eine
Audienz gewähren würde. Bis zu diesem Termin machte ich mir viele, sehr
viele Gedanken. Wie war diese Frau, die er, dieser wunderbare Mann,
geheiratet hatte? Wie würde sie reagieren, wenn ich ihr sage, dass ich ihren
Mann liebe? Würde sie mir vorwerfen, dass ich ihre Ehe zerstöre? Dass ich
doch an die beiden Kinder denken solle? Dass ich zu jung und zu ungebildet
sei für so einen hochgebildeten Mann? Unmöglich aufzuzählen, was mir vor dem
vereinbarten Treffen alles durch den Kopf ging. Ich beschäftigte mich
unablässig damit.
Eines wusste ich aber mit Gewissheit. Niemals hätte ich die Kraft, mich von
diesem Mann völlig zu distanzieren. Dazu liebte ich ihn zu sehr. Und weil
ich das sehr wohl wusste, stand bei mir eines fest: Wenn das Gespräch mit
seiner Frau so ausfiel, wie es ausfallen würde, wenn ich mich in sie
hineinversetzte, wie also ich an ihrer statt reagiert hätte, dann – ja dann
durfte ich ihn nie mehr wiedersehen. Ich würde Stuttgart verlassen müssen.
Ich würde wegfahren, weit weg. Vielleicht in die französische Schweiz, um
mein Schulfranzösisch zu verbessern – als Dienstmädchen, Kindermädchen.
Der Termin mit Wolfs Ehefrau war da. Das Dienstmädchen führte mich in ihr
Zimmer. Dann stand ich ihr gegenüber, einer großen stattlichen Frau. Meine
Nervosität legte sich etwas. Mein Lampenfieber war geringer geworden, und so
konnte ich mich auf das Kommende besser konzentrieren.
Sie setzte sich auf ihre Liege. Den Stuhl, auf dem ich Platz nehmen sollte,
hatte sie so platziert, dass ich ihr so nah saß, dass sich unsere Knie fast
berührten und ich etwas tiefer saß als sie. Wir schauten uns an. Schätzten
uns ab. Sie mich. Ich sie.
Sie hatte goldblond glänzendes Haar. Auf den ersten Blick wirkte ihr Gesicht
harmonisch, angenehm. Ihr Mund war schön geschwungen, sie hatte volle
Lippen.
Natürlich war ich neugierig zu erfahren, wie sie war – vielleicht auch, um
festzustellen, ob sie in meinen Augen würdig war, Wolfs Frau zu sein. Mir
war gar nicht wohl in meiner Haut. Ich schämte mich. Mit gesenktem Kopf
sagte ich: „Ich liebe Ihren Mann.“ Mehr nicht.
Else Wolf erhob sich. Ich stand auch auf. Abschätzig schaute sie mich von
oben bis unten an. Mit abfälligem Gesicht sagte sie dann zu mir: „Heute
sind’s Sie, morgen ein anderes kleines Mädchen.“
...
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