Lotte Strub-Rayss

 

 

 

Verdammt und entrechtet
 

Stuttgart - Basel - Moskau... 16 Jahre Gulag und Verbannung

 

Autobiografie, hrsg. von Konrad Rayss

 

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2018, 666 S., 40 Fotos u. Abb., ISBN 978-3-86465-049-9, 29,80 EUR

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Zum Buch

 


 

Es ist die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die nach dem Ersten Weltkrieg in einer schwäbischen bürgerlichen Familie aufwuchs. Sie studierte Kunst an der Stuttgarter Kunstgewerbeschule, verliebte sich in den bekannten Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf und erlebte die ganz große Liebe.
Früh wandte sie sich der linken Bewegung zu und leistete Widerstand gegen das erstarkende NS-Regime.
1933 musste sie Deutschland verlassen. Sie floh nach Moskau. In Engels studierte sie Pädagogik, heiratete den Journalisten Lorenz Lochthofen. 1938 wurde sie Opfer des Stalinterrors.
Diese Autobiographie kann als bemerkens-werter Beitrag zur Dokumentation der Endzeit der Weimarer Republik angesehen werden, als eine – erschütternde – Aufklärungsschrift zur Gulag- und Verbannungspraxis und -geschichte in der Sowjetunion und als Beitrag zur weiteren Klärung des Schicksal deutscher Politemigranten.


 

INHALTSVERZEICHNIS

 

 

Dike!

2. Dezember 1999                                     11

 

Jetzt ist die Zeit gekommen. März 2001     13

 

 

1. Buch: In Stuttgart                               17

 

Für den Vater bestraft? 1915                     17

Kindzeit. 1915–19201                               23

Aschenbrödel. 1920–1925                         37

Das Verhängnis. 1927                               50

Arbeiterin. 1927–1928                              57

Konsultation bei Dr. Wolf. 1928                 64

Große Liebe und Hunger. 1928                  75

In Wolfs Auftrag Pionierleiterin der IAH. 1929–1931      82

Die Sache mit den Burschenschaftern. 1931                 85

Alltag einer Liebschaft. 1931–1932                              87

„Bauer Baetz“. 1932                                                   92

 

 

2. Buch: Im Exil                                                     101

 

Das Exil beginnt – für Wolf. 1933                              101

Frankreich – Frühsommer. 1933                              111

Selbst ins Exil / „Mamlock“. Sommer 1933               117

Unbeschwert in Frankreich. Spätsommer 1933         123

Ohnmachten. Oktober 1933                                    132

Rettung des Wolf-Archivs. Mitte Oktober 1933         136

Wolf geht in die Sowjetunion. Ende 1933                 144

Lena wird geboren. Februar 1934                            148

Exmittierung. März 1934                                         152

Die SS kommt nach Basel. April 1934                      154

Über Prag nach Moskau. Mai 1934                           157

Moskau, die erste Zeit. Mai/Juli 1934                       163

Wie Lenins Witwe befahl: Engels. August 1934         173

Trennung von Wolf. Herbst 1935                             185

Heirat, Ängste, Scheidung. Herbst 1935–Frühjahr 1937          196

 

 

3. Buch: Im Gulag                                               211

 

Verwicklungen, Verhaftungen, Larissa. Frühjahr/Sommer 1937                211

„Denn meine Seele ist tausend Jahre alt.“ Herbst 1937–Januar 1938       221

In der Gewalt des NKWD. 5. Februar 1938             227

„…mit diesem Leonardo rumgehurt“. 6. Februar 1938                             238

Larissa stirbt. 21. März 1938                                                                 248

Gefängnis und Verhöre. April–Oktober 1938          254

Transport ins Karlag und Urteilsverkündung. 14. Oktober-November 1938               275

Landwirtschaft in Dolinka. Dezember 1938–1939                                   281

Ein Mordversuch und der „Arbeitsunfall“. März–Juli 1939                         299

Lendenwirbelbruch: trotzdem arbeitsfähig. August 1939–Februar 1940                   311

Das Getreidelabor der Gulag-Wirtschaft. März 1940–Dezember 1940                      332

Im Buran. Sylvester 1940                                     344

Der Chirurg. Januar 1941                                      359

Gefängnis-Gulag. Herbst 1941–Herbst 1942          364

Feldarbeiten. Herbst 1942                                     384

In Erdhütten bei der Schafzucht. März 1943–März 1945                        395

Zur Rettung ein eigenes Kind. Juli 1946                  414

Trennung von Sachar. Winter 1945/1946              417

Als Gefangene Farmleiterin. Winter 1945–Frühjahr 1946                        425

Nikolai wird geboren. 28. April 1946                      428

 

 

4. Buch: In der Verbannung                             435

 

Die Verbannung beginnt – 17. August 1946          435

Vergiss, was einmal war – 1947                          443

Die tote Frau – Neujahr 1948                              454

Wirtschaftsschwester in Karaganda-Michailowka – Ab Sommer 1948                     459

Lena kommt… April 1949                                    470

…und geht für immer. Sommer 1950                   489

Die Pietà. Herbst 1950                                         492

Sowjetisches Leben. Herbst 1950–März 1953      494

 

 

5. Buch: Die Rückkehr                                     507

 

Die Ausreisegenehmigung. September 1954        507

Moskau. September 1954                                  512

Berlin. Oktober 1954                                          515

Sie wollen nicht loslassen. Später                        521

 

 

Die Suche nach Glück und die Kunst des Überlebens. Ein

kulturwissenschaftliches Nachwort Horst Groschopp                   529

 

Bildanhang                                            589

Editorische Notiz                                   625

Ausgewählte biografische Daten zu auftretenden Personen         631

Glossar                                                653

Über die AutorInnen                              659

 

 

 

 

LESEPROBE

 

Arbeiterin – 1927–1928

Ich saß vollkommen verdattert da. Mitten im Schuljahr abgemeldet? Und was nun? Wie sollte es weitergehen. Aber Mutter war noch nicht am Ende. „Ab nächsten Montag wirst du in der Metallfabrik arbeiten. Als ungelernte Arbeiterin.“ Sie schaute mich triumphierend an: „Die Firma Knecht liegt in Cannstatt. Ein weiter Weg zwar. Aber du kannst dort als Gehilfin im Entwurfsbüro arbeiten.“
Nun fuhr ich jeden Morgen ganz früh zur Arbeit. Umzusteigen brauchte ich nicht, aber die Straßenbahnfahrt dauerte etwa eine Stunde. Was mir zusagte: Die Metallfabrik „Knecht“ lag direkt gegenüber der hinteren Seite der Wilhelma. Der Eingang in den Park war nicht verschlossen, und auf einer nahen Bank aß ich in der Mittagspause stets mein mitgebrachtes Brot. Das Büro, in dem ich nun arbeitete, lag unterm Dach des Fabrikgebäudes. Der künstlerische Leiter, ein ruhiger, sehr stiller grauhaariger Mann, teilte mir die Arbeit zu. Ein enormer Berg von vorbereiteten Werbekatalogen war neben meinem Arbeitstisch gestapelt. Nach den Konturenzeichnungen, die mein Vorgesetzter angefertigt hatte, waren Lichtpausen angefertigt. Die sollte ich nun kolorieren.
Es waren Messingteile mit zeichnerischen Gravuren für Rauchtischplatten, Aschenbecher, Metallvasen, Taufgeschenke, Becher, Kinderbestecke mit hübscher Stielverzierung, Obstschalen auf einem dicken Mittelfuß und einem gläsernen Kelch. Die Farbe des Metalls wurde mit einem besonderen Verfahren aufgetragen; alles musste so gemalt werden, dass es dreidimensional wirkte.
Der künstlerische Leiter war sehr wortkarg. Aber des Öfteren sah ich ihm, wenn es Grund zum Aufstehen gab, über seine Schulter und war neidisch auf seine Arbeit. Gerne hätte ich auch kreativ gearbeitet, denn mein Kolorieren war mir zu eintönig. Deshalb hatte ich mir heimlich ein Zeichenblatt genommen und unter den großen Katalog, den ich in Arbeit hatte, gelegt. Den Katalog hielt ich wie ein Schutzschild hoch und zeichnete, was ich mir vorgestellt hatte. Plötzlich stand der Werkdirektor vor mir. Er war durch eine kleine Seitentür hereingekommen, die ich noch nicht bemerkt hatte. Ich ließ den Katalog auf meine Zeichnung fallen und sah erschrocken zu ihm auf. Er hob den Katalog an, schaute auf meine Skizze und sagte: „Morgen früh, Punkt 9.00 Uhr in meinem Büro!“ Dann drehte er sich um, ging zur Tür, fragte dann: „Haben Sie Zeichnungen zu Hause? Mitbringen!“
Am nächsten Tag legte ich das vor, was ich als geeignet ausgewählt hatte, darunter auch Entwürfe für Lederprägungen, die ich für Bekannte gemacht hatte. Die Folge war, dass der künstlerische Leiter, ein Familienvater, entlassen wurde. Nun arbeitete ich an den Entwürfen und an den Katalogen allein da oben unterm Dach. Da war ich sechzehn Jahre alt.
Der Firma schien es schlecht zu gehen. Neugestaltungen und Neuentwürfe wurden nicht mehr gebraucht. Eines Tages wurde das Entwicklungsbüro geschlossen, ich wurde in die Fabrikhalle versetzt. Erst lötete ich je zwei Griffe an Tortenplatten. Es war ein automatisches Karussell. Es drehte sich ruckweise, hielt mit einer Platte genau dort, wo ich stand, um den Griff anzulöten. Aber das machte ich nur ein paar Tage lang. Danach sollte ich Metallvasen, helles Messing mit schwarzem Lack bemalen – freihändig, mit Blumen, Blättern und Ranken. Eine Arbeit, die meinen Neigungen entsprach und die mir Spaß machte. Nur das Fräsen auf dem Metall war sehr laut, und der Metallstaub tat nicht gut.

Eine neue Woche begann. Frohgemut fuhr ich nach Cannstatt zur Arbeit. Die Menschen waren freundlich, wegen meiner Arbeit gab es nie ein tadelndes Wort. Beschwingt lief ich von der Tramhaltestelle zum Fabrikgebäude. Von weitem sah ich es schon. Alle Arbeiter standen vor dem Eingang. Man ließ uns nicht hinein. Auf den Stufen davor stand die Angestellte vom Lohnbüro: „Die Firma ist bankrott, es gibt keine Arbeit.“ Neben der Dame vom Lohnbüro stand ein großer Karton, aus dem sie jeweils eine Lohntüte herauszog, so als ziehe sie Lose. Sie rief den jeweiligen Namen auf und übergab dann die letzte Lohntüte mit den Arbeitspapieren.
Auch ich hielt meine Lohntüte in der Hand. Mit einem Monatslohn von achtzig Mark, die mir Mutter dann sofort wegnahm. Nur das Geld für die Fahrt zur Arbeit gab sie mir davon zurück. Ich schaute mich um, sah all die vielen Menschen, die nun bestimmt zum Arbeitsamt eilten. 1928 – die Zeit der schlimmsten Arbeitslosigkeit. Gab es für mich denn überhaupt Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz? Wieder schaute ich auf die vielen Arbeiter, die noch auf ihre Lohntüte und ihre Entlassungspapiere warteten. Kurz entschlossen rannte ich los. Bis zum Taxistand. Zwar war die Fahrt bis zur Stadtmitte für meine Verhältnisse eine teure Sache. Aber ich wollte als Erste auf dem Arbeitsamt sein. Nur dann hatte ich eine Chance. Meinte ich. – Ach, wie unwissend und unerfahren stand ich doch vor meinem Leben!
Im Arbeitsamt lief ich durch den langen Korridor. Fand ein Schild mit irgendeinem Hinweis, so etwa: „weiblich, jung“. Ich betrat den Raum. Stühle an den Wänden. Dicht bei dicht. Und alle Stühle waren besetzt, junge Mädchen standen am Fenster. Es dauerte Stunden, bis ich an die Reihe kam. Die Beamtin machte sich zunächst Notizen: bisherige Stellung, Ausbildung, Fähigkeiten, etc. etc. Sie fragte viel, schrieb alles auf. „Arbeit? Nein! Leider. – Fragen Sie in nächster Zeit mal wieder bei mir nach.“ Arbeitslosenunterstützung gab es für mich nicht.
Die Beamtin, sie hieß Fräulein Hartmann, eröffnete mir nach mehreren vergeblichen Besuchen: „Ich habe da etwas. Eine Stelle als Geschirrspülerin im Feinkostgeschäft ‚Böhm’. Alle Mädchen und jungen Frauen haben diese Arbeit bisher abgelehnt.“ „Ich nehme die Stelle“, sagte ich entschlossen. Fräulein Hartmann schaute mich an und meinte, es werde mir nicht leicht werden. Es sei eine schwere und auch unappetitliche Arbeit in einer feuchten Küche, die im Keller liege.
Also fing ich im Feinkostgeschäft „Böhm“ an. Die Eigentümerin, hochgewachsen und dünn, war stets schwarz gekleidet. Sie war eine despotische Frau, streng und autoritär. Dann gab es da noch den Sohn. Der schaute sich, ständig kontrollierend, im großen Laden, in den Warenlagern und im Kühlraum mit strengem Blick um und bewies, dass er alles im Griff hatte. In der Küche regierte eine korpulente Köchin. Sie war nicht unfreundlich. Aber zu mir, dem Putz- und Spülmädchen, hielt sie stets Distanz. Mein Monatslohn betrug siebzig Mark.
Schon früh am Morgen gab es Teller und Platten zu reinigen, die verschmiert waren mit Mayonnaise und Sülze und fettig von Öl, Käse, Butter, Wurst usw. Wirksame Spülmittel gab es zur damaligen Zeit noch nicht. Um das fettige Zeug abzukommen, war das Abwaschwasser mit Soda versetzt. Bald waren meine Fingernägel weich und brüchig. Sie splitterten. Die Fingerkuppen waren zerfressen von dieser Lauge.
In der Küche wurde gebrutzelt und gebraten. Kondenswasser triefte von den gekachelten Wänden herab. Das ständige Stehen auf dem kalten, gekachelten Fußboden forderte seinen Tribut. Bald hatte man Kreuzschmerzen. Zudem war die Luft schlecht, da die Küche nur dürftig belüftet wurde.
Wenn abends alle anderen Mitarbeiter Feierabend hatten, musste ich nach Ladenschluss noch den fast turnhallengroßen Verkaufsraum wischen. Wegen des großen Publikumsverkehrs war der Boden so sehr verschmutzt, dass ich mehrfach den langen Weg durch den Keller zur Küche zurücklegen musste, um neues Wasser zu holen und etwas Schmierseife hinzuzugeben.
Hatte ich diese Arbeit beendet und war der Boden des Verkaufsraums wieder trocken, nahm ich einen Korb und kontrollierte das Obst im Laden, sammelte dabei Äpfel, Birnen und Bananen ein, die schon leichte Flecken hatten. Das Obst benötigte ich, um am nächsten Morgen als erstes Müsli zu machen. Dafür weichte ich dann noch die Haferflocken ein. Erst dann war auch mein Arbeitstag beendet. Ich durfte gehen – als Letzte.
Wieder in der Küche, war früh am Morgen meine erste Aufgabe, das Müsli zu machen. In einer elektrischen Reibe hatte ich die Mandeln für das Bestreuen feingemahlen, hatte das Obst durch den Fleischwolf gedreht und dann mit den vorgeweichten Haferflocken vermischt. Ich füllte kleine Gläser, wog ab und bestreute das Müsli mit feingemahlenen Mandeln. Hunderte dieser Gläser hatte ich mit nassgemachtem Cellophanpapier luftdicht zu verschließen. Dann kamen die Gläser nach oben in den Laden in gläserne Kühlkästen. Dieses Müsli-Angebot war sehr beliebt. Der Laden von Böhm befand sich im Stadtzentrum Stuttgarts mit seinen vielen Büros. Aus Zeit- und Geldmangel holten sich all diese Büroangestellten für die Mittagspause so ein Glas mit leckerem Müsli. Blieb manchmal etwas übrig, so durfte ich drei bis vier Gläser Müsli zum halben Preis kaufen. Die brachte ich dann für Mutter und meine Geschwister mit nach Hause.
Wenn ich nicht gerade mit Spülen beschäftigt war, holte ich aus dem Laden die Käsereste, die beim Abwiegen für den Kunden entstanden waren. Der Käse, den ich in einer Reibemühle kleingemahlen hatte, wurde nun mit Butter, rotem Paprika oder mit gehackten Kräutern, Senf oder Tomatenmark vermischt. Hübsch geformt und verziert, wurden sie als fertiger Brotaufstrich zum Verkauf angeboten.
Als der Juniorchef meine kreativen Fähigkeiten entdeckte, holte er mich aus dem Keller hinauf: Ich sollte jetzt die Schaufenster dekorieren und Geschenkkörbe arrangieren. Oft wurden für besondere Festivitäten von der Kundschaft gleich achthundert bis neunhundert Appetithäppchen bestellt, die ich vorher mit viel Phantasie auf vielfältige Art schmückte. So hatte die anfängliche Arbeit und ihre erschreckende Eintönigkeit nun doch Abwechslung gebracht.

Diese wurde jedoch abrupt abgebrochen. Ich hatte vom Laden wieder Käsereste gebracht, dazu einige Stücke Butter, um sie zu verschiedenen Brotaufstrichen zu verarbeiten. Ich schaltete die elektrische Reibemaschine ein, um den Käse zu zerkleinern. Fertig. Ich schaltete ab, griff in die Trommel, weil eine Käsescheibe darauf klebte, zurückgeblieben war.

In diesem Augenblick lief die Maschine wieder auf vollen Touren los und riss meine linke Hand mit. Sofort griff ich mit der freien Hand nach dem Schalter. Irgendetwas war in die kleine Öffnung gefallen, und nur mit aller Kraft gelang es mir, die Maschine zu stoppen. Meine Hand sah bös aus, der Zeigefinger war blutüberströmt. Die herbeigerufene Prinzipalin machte mir einen Notverband und schickte mich zum Kassenarzt, der unweit des Geschäfts in derselben Straße wohnte. Er versorgte den verletzten Finger einige Tage lang. Dann aber erklärte er, dass der Finger, der inzwischen stark eiterte, nicht mehr zu retten sei. Am darauffolgenden Tage müsse er ihn amputieren, ich solle pünktlich sein.
Ich war entsetzt. Jetzt sollte ich mein ganzes weiteres Leben die verkrüppelte Hand vor Augen haben? Ich brauchte doch den linken Zeigefinger genauso wie den rechten. Wie sollte ich dann noch modellieren können, was meine liebste Beschäftigung war? Nein, zu diesem Kassenarzt würde ich nicht mehr gehen. Es musste doch einen Arzt geben, der mir helfen konnte.
Da fiel mir ein Arzt ein, der gegen chirurgische Eingriffe war. In Stuttgart wurde viel von ihm gesprochen. In Schaufenstern hatte ich Broschüren gesehen, die dieser Arzt verfasst hatte. Unüblich schon der weiße Einband, die Schrift blau oder auch rot. Diese Broschüren wirkten auf mich so rein und jung – und ungewohnt modern. Ein Titel war „Der schwache Punkt der Frau“ und ein anderer Titel, den ich witzig fand, „dein Magen – kein Vergnügungslokal“. Und ich musste an meinen geliebten Vater denken, den Gesundheitsfanatiker. Ihm hätte das imponiert.

 

Konsultation bei Dr. Wolf – 1928

Ich machte mich also kundig und fand die Adresse dieses Arztes heraus. So wurde ich die Patientin von Dr. med. Friedrich Wolf. Dr. Wolf besah sich den Finger, schüttelte den Kopf. Mich durchfuhr ein Schreck: Wollte auch er meinen Finger amputieren? Nein. Er säuberte die Wunde und verordnete mir, den Finger täglich so heiß wie möglich zu baden. Am Morgen sollte ich viel Kernseife im Wasserbad auflösen, am Abend Salz ins Wasserbad geben. Die Konsultation bei Dr. Wolf kostete fünf Mark, die ich sofort zu zahlen hatte.
Wegen meiner Wunde musste sich Mutter diesmal damit abfinden, mir meinen Monatslohn von siebzig Mark nicht abzuknöpfen. Der ärztliche Rat war gut gewesen, der Finger hörte denn auch auf zu eitern. Regelmäßig ging ich hin, ließ mir den Finger mit einer gelblichen Lösung behandeln – die anschließend aufgetragene Salbe linderte den Schmerz.
Das Haus, in dem sich die Praxis befand, lag am Hang. Der Zugang war an der Zeppelinstraße, das Grundstück reichte bis zur oberen Parallelstraße. Das Haus, weiß und mit einem Flachdach, wirkte irgendwie so modern, sauber und jung – ich hatte beim Betrachten dieses Hauses dasselbe Empfinden, das ich beim Anblick der Broschüren dieses Arztes gehabt hatte.
Ich war sehr beeindruckt von Ihm. Er war auch Schriftsteller. Im Wartezimmer hingen Theaterplakate. Eines der Stücke hieß demnach „Cyankali“. In Berlin war es uraufgeführt worden, in Stuttgart noch nicht.
Dr. Wolfs Haus erinnerte mich an die moderne Architektur, die ich vor nicht allzu langer Zeit in einer Internationale Bauausstellung Am Weißenhof in Stuttgart gesehen hatte. Künstler und Architekten aus aller Welt hatten dort ganz moderne, kubistisch wirkende Häuser errichtet. So sah auch sein Haus aus. In der unteren Etage war seine Praxis, innen mit einer hellen und freundlichen Ausstrahlung. Und Dr. Wolf wirkte auch so, hell und freundlich.
Der Arzt schien jung verheiratet. Denn oft sah ich zwei kleine Jungen im Vorgarten spielen, meist im Buddelkasten. Dr. Wolf arbeitete allein, es gab daher keine Arzthelferin und keine Empfangseinrichtung. Nur das Wartezimmer, daneben die Praxis. Ich war ihm unendlich dankbar, dass er mir nach acht Behandlungsterminen meinen Finger gerettet hatte. Nach der letzten Behandlung gab ich ihm sein Honorar und als er aufstand, um den nächsten Patienten ins Behandlungszimmer zu bitten – da küsste ich ihn auf den Mund und lief weg.

Seit die Sache mit Siegfried angefangen hatte, ging ich nicht mehr zu Ta-Ma zum Klavierunterricht, und er ging nicht mehr mit seiner Geige zu ihr. Wegen seiner Androhungen ging ich noch immer in sein Atelier, stand ihm Modell. Mit Skizzen lieferte ich ihm Ideen für seine Bilder, reinigte die Malpinsel und erfüllte alle seine sonstigen Aufträge.
Es war Abend. Marlis war schlafen gegangen. Mutter und Wolfgang saßen am Tisch. Soeben kam Tante Marie ins Wohnzimmer, flüsterte mit Mutter, setzte sich dann. Ich saß auf dem Diwan, neben meinem Malschrank. Das Licht war dort nicht so gut, da der Lampenschirm mit seinen Perlfransen über dem großen Tisch nicht viel Helligkeit in meine Ecke gab. Warum war Ta-Ma gekommen? Sie ließ doch sonst auch nicht am Abend ihre Mutter allein? Ich saß in meiner Ecke, spitzte mit einem Taschenmesser die Stifte, hing dem Gedanken nach, was ich als nächstes malen könnte, achtete nicht auf Ta-Ma, Mutter und Wolfgang, die am Tisch saßen. Es klingelte. Wolfgang lief hinunter, um die Haustür aufzuschließen. Seltsam. Zu so später Abendstunde kam nie jemand zu uns. Neugierig schaute ich auf die Zimmertür. – Siegfried! Was wollte der hier?
Auf ihn hatte man also gewartet. Hing das mit Tante Marie zusammen, die schließlich seit fast drei Jahren eine enge Beziehung zu ihm hatte? Siegfried hatte Platz genommen. Er war sichtlich nervös. Mutter legte ein Heft vor sich auf den Tisch, es war wieder einmal mein Tagebuch. Sie begann, daraus vorzulesen. Sie las, wie Siegfried mich in seinem Atelier vergewaltigte, nachdem er mir die Kleider vom Leib gerissen hatte.
Ich war entsetzt. Meinem Tagebuch hatte ich mein ganzes Leid anvertraut, im Heft alles erzählt, was mir dieser Mensch angetan hatte. Und das las Mutter nun vor – und Tante Marie und mein Bruder Wolfgang hörten sich das an. Siegfried auch. In diesem Moment verstand ich. Mutters Plan war vorbereitet. Mir wurde klar, warum sie mich damals, anstatt mich zu begleiten, im Stich ließ, als ich zur zweiten Sitzung für das Porträt in Siegfrieds Atelier gehen musste. Sie wollte Tante Marie als Ernährerin der Familie nicht verlieren und opferte mich.
Ich hatte den Kopf gesenkt. Schaute nicht einmal zum Tisch hinüber, an dem alle anderen saßen. Mutter hatte nicht weiter vorgelesen. Sie wandte sich an Siegfried.
„Es gibt für Sie nur ein Entweder-Oder, junger Mann“, sagte sie. „Ich fange mit dem ‚Oder‘ an. Dieses ‚Oder‘ bedeutet, dass es für Sie unmöglich sein wird, weiter als Studienassessor zu arbeiten. Denn so jemanden kann man nicht auf Kinder loslassen.“ Mutters höhnende Stimme war unerträglich. „Sie hätten keinerlei Zukunftschancen. Das können Sie sich wohl selbst ausrechnen.“
*
Sie ließ ihm Zeit, sich das auszumalen. „Mein ‚Entweder‘ heißt: Sie heiraten dieses von Ihnen missbrauchte Mädchen.“ Mutter machte auch hier wieder eine kleine Pause, damit Siegfried ihre Worte verdauen konnte.
„Sie verloben sich mit ihr. Und zwar am heutigen Abend, hier und heute. Sie setzen eine Annonce ins ‚Stuttgarter Tageblatt’. Das ist die unausweichliche Bedingung.“
Entsetzt hörte ich Mutters Worten zu. War ich irgendein Möbelstück oder sonst etwas, dass so über mich bestimmt wurde? Saß ich denn gar nicht hier im Zimmer?
Jetzt vernahm ich Siegfrieds Stimme: „Alle Kollegen und Vorgesetzten, die Studienräte, sie werden uns jetzt einladen, weil Sie meine Verlobte kennenlernen wollen. Sie wird dort in guten Stuben sitzen. Sie wird dort den Gestank verbreiten, der in ihren Haaren und in ihrer Kleidung sitzt. Nach ihrer Tätigkeit wird man sie fragen. Man wird fragen, ob sie sich aufs Abitur vorbereitet. Und wie ich sie kenne, wird sie ehrlich antworten: dass sie fettiges Geschirr spült in einer Küche im Keller und dass sie mit ihren Fingern den Schleim von Schnecken abkratzt.“
Schweratmend brachte er das vor, ohne Punkt und Komma. Alle schwiegen. Etwas ruhiger fuhr Siegfried fort: „Gut. Ich habe keine Wahl. Aber ich verlange, dass meine Verlobte standesgemäß und weil sie begabt ist, ab jetzt die Kunstakademie besuchen wird.“
Sie einigten sich. Ich wurde nicht gefragt, hatte keinen Ton von mir gegeben. So als wäre ich nicht anwesend, gehöre gar nicht hierher. Mutter stand auf. Sie reichte mir die Haustürschlüssel. „Du darfst Deinem Verlobten die Haustür öffnen. Bring’ ihn jetzt hinunter.“ Es waren die ersten Worte an diesem Abend, die man zu mir sprach.
Also gingen wir aus der Wohnung, „mein Verlobter“ und ich. Es war schon spät. Gleich nach der ersten Stufe zischte Siegfried mich an: „Du blöde Kuh. Du bist an allem schuld. Du verdammtes Luder.“ Dabei schlug er mich mit Fäusten, zumeist auf den Kopf. Beschimpfungen und Schläge setzte es vom zweiten Stock bis runter zur Haustür. Dort spuckte Siegfried mir ins Gesicht – und ging.
Dann erschien die von Mutter verlangte Annonce im „Stuttgarter Tageblatt“. Ich war nun offiziell verlobt. Ich war nun Siegfrieds Eigentum. So wie er vorausgesagt hatte, mussten wir nun den verschiedenen Einladungen seiner Kollegen folgen. Mir war all dies höchst unangenehm. Ein glückliches Gesicht vorzuspielen, das konnte ich nicht, hatte es noch nie gekonnt.

Als ich zum ersten Mal die Kunstakademie betrat, erfasste mich ein Schauer von Ehrfurcht und Erwartung. Eine Studentin sollte mir alle Abteilungen zeigen, damit ich einen Überblick bekam und mich entscheiden konnte, für welche Fächer ich mich einschreiben wollte. Mir gingen die Augen über, welche Möglichkeiten die Stuttgarter Kunstakademie bot. Am liebsten hätte ich mich für alle Fächer eingetragen. Nur Modedesign interessierte mich nicht.
Ich bekam ein Stipendium. Das bedeutete, dass ich von der Zahlung der Studiengelder befreit war. Denn ich war Halbwaise aus bedürftigem Haushalt, und mein verstorbener Vater hatte an einer Hochschule Architektur unterrichtet.
Ich war glücklich, restlos glücklich. Vor allem, weil ich hier etwas verwirklichen konnte, was seit meiner Kinderzeit in mir steckte. Wenn ich mich schöpferisch betätigte, kreativ sein konnte, vergaß ich alles. In mir war dann eine innere Zufriedenheit, die Konzentration auf mein Schaffen ließ keinen Raum, an etwas zu denken, was mich sonst stets bedrückte. Hatte man mir doch eingeredet, dass ich „anders“ war, verachtenswert. Und weil mein Leben ganz anders war, sich „nicht normal“ gestaltet hatte, war ich sehr scheu und verschlossen. Ich selbst konnte es nicht sehen, aber mein Gesichtsausdruck war sicher unfreundlich.

Zu Hause ließ man mich jetzt so ziemlich in Ruhe. Auch die Schikanen waren seltener geworden. Ich hatte ohnehin weniger Zeit, zu Hause zu sein, denn von Heslach nach Weißenhof war es ein weiter Weg. Zudem war ich verlobt, und die Pflichten, die ich dadurch hatte, wurden von meiner Familie nun akzeptiert.
Nach unserer „Zwangsverlobung“ betrachtete mich Siegfried nunmehr als sein Eigentum. Rücksichtnahme war jetzt erst recht nicht mehr vonnöten. Er wurde mehr als pervers, dazu unsagbar brutal. Er war ein Sadist, der Dinge von mir verlangte, die nicht zu beschreiben sind. Sie hier zu schildern, ist mir unmöglich. Aber die Angst vor seinen Drohungen und Misshandlungen – all dies zwang mich, immer wieder zu ihm hinzugehen.
In allem, was er forderte, meinte ich, ihm zu Diensten sein zu müssen. Nicht nur, dass ich seine schmutzige Wäsche mit zu mir nach Hause nehmen musste und sie ihm sauber und geplättet zurückzubringen hatte. Nein, wenn ich auch nur irgendwie freie Zeit hatte, musste ich ihm auch sein Essen auf dem Spirituskocher zubereiten. Er gab mir dann Geld, um die Zutaten zu kaufen. Kam ich zurück, musste ich auf Heller und Pfennig abrechnen. So geschah es, dass fünf Pfennige fehlten. Ich wusste einfach nicht, wo sie geblieben waren. Nun hatte Siegfried einen Anlass: Er stürzte sich auf mich, mit Fäusten schlug er auf mich ein. Ich schluchzte, weinte, versuchte, seine Schläge abzuwehren, vergeblich. Blut lief über mein Gesicht, wohl aus der Nase. Ich spürte, dass die Unterlippe geplatzt war. Und da fiel es mir ein: „Das Suppengrün, es hat fünf Pfennig gekostet.“ Da ließ er von mir ab.
Meine Grenzen waren erreicht. Auf seinem Zeichentisch sah ich das schwere Prismenglas, packte es – und warf es gezielt in Richtung seines Kopfes. Siegfried wich seitlich aus, das Glas durchschlug die Scheibe der Tür zu seinem Wohnraum. Größeren Schaden durch das schwere Prismenglas auf der anderen Seite befürchtend, lief er ins Nebenzimmer. Eher glaube ich, dass er das schwere Glas, das ich auf ihn geworfen hatte, suchen wollte, um mich damit zu bestrafen. Auf dem Zeichentisch lag ein Messer mit dickem Griff. Es sah aus, wie die Stanley-Messer aussehen. Er benutzte es beim Spannen der Leinwand. Ich packte dieses Messer und zerschnitt ein fertiges Bild, das er nach einem Entwurf von mir gemalt hatte, kreuz und quer. Dann ließ ich das Messer fallen und stürzte davon.
Wegen der Verletzungen, die Siegfried mir zugefügt hatte, musste ich zum Arzt. Ich ging wieder zu Dr. Wolf. Er besah mein zugeschwollenes, blaugeschlagenes Auge, versorgte die geplatzte Wunde, schrieb alles ausführlich auf. Ich war noch sehr aufgeregt. Wolf drückte mich an sich, beruhigte mich. Dann gab ich ihm sein Honorar und ging.
Zuhause sah mich Mutter an, sagte aber nichts, fragte auch nichts. Später übermittelte sie, Siegfried habe gefordert, dass ich zu ihm ins Atelier zu kommen habe. Ich reagierte nicht. Ich sah ihn nie wieder.

Pünktlich und regelmäßig ging ich zur Kunstakademie. Dort fand ich Ruhe und Zufriedenheit. Der Leiter der Kunstakademie vermittelte mir einen Auftrag. Auf Wunsch dreier wohlhabender Damen sollte ich einen Wandteppich für die neuerbaute Waldkirche in Degerloch weben. Sie wollten den Wandteppich „Maria mit dem Kinde“ der Gemeinde zur Erinnerung stiften. Ich ging gleich an die Arbeit. In meiner Vorstellung hatte ich den Entwurf schon im Kopf. Meine Skizze wurde vom Professor und den Gemeindevertreterinnen gelobt. Der Auftrag war perfekt. Als Lohn sollte ich achthundert Mark bekommen.
Unermüdlich arbeitete ich, Tag für Tag, denn der Termin war vorgegeben. Und meine Gedanken waren natürlich zunächst mit der Frage beschäftigt: Was würde ich mit dem Geld anfangen; was für Wünsche waren es, die ich mir mit dem Honorar erfüllen könnte. Oder? – Ach, natürlich: Mutter würde mir das Geld wegnehmen.
In der Familie befand ich mich nun, da ich meinem Verlobten „davongelaufen“ war, wieder im selben Status wie zuvor: Ich wurde rumkommandiert, beschuldigt, bestraft, entwürdigt. Dabei tat sich meine inzwischen älter gewordene Schwester mit Gehässigkeiten besonders hervor. Aber ich konnte das alles inzwischen ertragen, denn ich fand tägliche Erfüllung bei der Arbeit an meinem Gobelin; machte Pläne, was ich mir als nächstes vornehmen wollte, hatte Ideen, machte Entwürfe. Ich dachte an Dr. Wolf, an den spontanen Kuss, den ich ihm gegeben hatte. Mir wurde bewusst, dass ich mich verliebt hatte. (Siehe Abb. 2 und 3) Zu selten hatte ich vorher je erlebt, dass man zu mir freundlich und aufmerksam gewesen war? Beim Verbinden meines verletzten Fingers hatte Dr. Wolf zu mir gesagt: „Sie sind ein lieber Kerl. Bei Ihrem ersten Kind will ich Pate sein. Denken Sie daran, wenn es soweit ist.“
Ein absurder Gedanke. Ich hatte lachen müssen. Ich dachte viel an ihn, nicht nur aus Dankbarkeit für seine ärztliche Hilfe. Bei ihm hatte ich das Gefühl, er achtet mich als Mensch. Dass ich mich verliebt hatte – ein für mich völlig neues Gefühl und deshalb vielleicht so stark.
Aber wer war ich schon? Ein Nichts. Ich versuchte, mich in die Bücher zu retten. So wie ich als kleines Kind nach Prügeln Trost in den Märchenbüchern fand, so wie ich mich heute noch in die Bücher rette. Ich flüchtete in eine andere Welt. Aber die Gedanken an diesen Mann, sie ließen mich nicht mehr los. Ich fragte mich, ob er neben all den Patienten, die er behandelte, auch eine kleine Erinnerung an mich zurückbehalten hatte. Immer mehr nahmen mich die Gedanken an ihn in Besitz. Ich wusste: Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein.
Ich aß schlecht, ich schlief schlecht, ich magerte ab. Da meine Mutter unter gesundheitlichen Beschwerden litt, redete ich ihr zu, Dr. Wolf aufzusuchen. Sie lehnte ab: „Nein, nein. Er ist kein Kassenarzt, und ich habe nicht das Geld, ihn zu bezahlen.“ Ich überlegte, wie ich Mutter helfen konnte. Mit kleinen Aufträgen verdiente ich Geld dazu, mit dem ich ihr diesen Besuch ermöglichte.
Mutter war von Dr. Wolf beeindruckt. „Übrigens, er hat sich eingehend nach dir erkundigt. Ich habe Dr. Wolf gesagt, dass du so schlecht isst und so abgemagert bist. Vielleicht, weil du deine Verlobung aufgelöst hast.“ Ich schaute sie fragend an. „Ach ja. Und dann hat er noch gesagt, das sei gar nicht gut. So magere Mädchen möge er nicht.“ Ich machte mir Gedanken, was dieser Satz zu bedeuten hatte. Jedenfalls stand eines fest: Er hatte mich noch in Erinnerung.


Im Stuttgarter Schauspielhaus wurde ein Stück von Friedrich Wolf aufgeführt. Ich wollte es mir anschauen. Es gab eine Abendvorstellung, später noch eine Nachtvorstellung, speziell gedacht für Arbeiter, denn die Preise waren wesentlich niedriger. Ich kaufte mir eine Eintrittskarte für die Spätvorstellung.
Das Stück hieß „Die Jungens von Mons“. Die billigeren Plätze auf den Galerien waren bereits ausverkauft. Ich saß im Parkett in der dritten Reihe links. Die Sitzplätze vor und neben mir waren leer geblieben. Einige Meter vor mir befand sich eine Seitenloge, in der einige Herren saßen.
Da drehte sich ein Gesicht hin zum Saal – vermutlich um die Besucherzahl zu prüfen. Dann fiel der Blick auf mich – es war Friedrich Wolf. Als es im Saal dunkel wurde und sich langsam der Bühnenvorhang hob, da saß er schon neben mir. Während der ganzen Vorstellung blieb er bei mir sitzen. Hier und da flüsterte er mir eine Erläuterung zu seinem Stück zu, aber ich konnte davon nichts aufnehmen. Ich wusste nur eins: Er saß neben mir.
Am Ende des Stücks war er auf die Bühne gegangen. Es wurde applaudiert, er sprach zum Publikum. Am Schluss verließ ich, noch völlig benommen von meinen Empfindungen, das Theater. Und plötzlich war er wieder neben mir.
Wir gingen durch die nächtlichen stillen Straßen. Wir umarmten und, wir küssten uns. Wir ließen uns Zeit für den Heimweg. Er hatte den Arm um meine Schulter gelegt. So gingen wir, uns leise unterhaltend durch die nächtlich stillen Straßen. Blieben manchmal stehen, liebkosten uns, küssten uns. Im Weitergehen sagte er: „Nenne mich Wolf. Alle Freunde nennen mich so. Den Vornamen Friedrich mag ich nicht sonderlich. Mir ist selber so, als sei mein Nachname auch mein Vorname.“ Das gefiel mir.
„Ich muss dich wiedersehen. Ich liebe dich. Sag, wann?“ Ich hörte Wolfs Worte, blieb stehen. Ich schaute ihn an, blickte in dieses Gesicht, das ich davor immer wieder vor mein inneres Auge geholt hatte. Ich sagte: „Du bist verheiratet. Erst wenige Jahre, denn deine Kinder sind noch klein.“ „Es ist keine gute Ehe. Wir wollen uns trennen“, antwortete er. Nun hatte ich zwar nicht die geringste Lebenserfahrung und die Beziehung mit Siegfried war eine einzige brutale und pervers-sadistische Zeit des Horrors gewesen. Aber ich hatte viel gelesen, und die Bücher waren meine Lehrmeister.
Ich sagte daher zu ihm: „Ich treffe mich liebend gern mit dir. Aber erst, wenn ich mit Deiner Frau gesprochen habe.“ Diese Überlegung war ihm unsympathisch, er wehrte ab. „Also stimmt es doch nicht, was du gerade zu mir über deine Ehe gesagt hast?!“„Nein, nein. Es stimmt“, versicherte er mir.
„Ich bestehe auf einem Gespräch mit Deiner Frau.“ Ich wollte mich abwenden, da wir vor dem Haus standen, wo ich wohnte. „Nicht so, Liebste“ – er nahm mich in die Arme, bedeckte mein Gesicht mit Küssen. „Ich geb’ dir Bescheid. Es soll so sein wie du es möchtest.“ Als ich am nächsten Morgen früh wach wurde, roch mein Kopfkissen nach ihm, nach seinen Küssen. Ich war glücklich. Glücklich? Nein, noch viel mehr als das.
Wolf hielt sein Wort. Er gab mir Bescheid, dass seine Gattin mir eine Audienz gewähren würde. Bis zu diesem Termin machte ich mir viele, sehr viele Gedanken. Wie war diese Frau, die er, dieser wunderbare Mann, geheiratet hatte? Wie würde sie reagieren, wenn ich ihr sage, dass ich ihren Mann liebe? Würde sie mir vorwerfen, dass ich ihre Ehe zerstöre? Dass ich doch an die beiden Kinder denken solle? Dass ich zu jung und zu ungebildet sei für so einen hochgebildeten Mann? Unmöglich aufzuzählen, was mir vor dem vereinbarten Treffen alles durch den Kopf ging. Ich beschäftigte mich unablässig damit.
Eines wusste ich aber mit Gewissheit. Niemals hätte ich die Kraft, mich von diesem Mann völlig zu distanzieren. Dazu liebte ich ihn zu sehr. Und weil ich das sehr wohl wusste, stand bei mir eines fest: Wenn das Gespräch mit seiner Frau so ausfiel, wie es ausfallen würde, wenn ich mich in sie hineinversetzte, wie also ich an ihrer statt reagiert hätte, dann – ja dann durfte ich ihn nie mehr wiedersehen. Ich würde Stuttgart verlassen müssen. Ich würde wegfahren, weit weg. Vielleicht in die französische Schweiz, um mein Schulfranzösisch zu verbessern – als Dienstmädchen, Kindermädchen.
Der Termin mit Wolfs Ehefrau war da. Das Dienstmädchen führte mich in ihr Zimmer. Dann stand ich ihr gegenüber, einer großen stattlichen Frau. Meine Nervosität legte sich etwas. Mein Lampenfieber war geringer geworden, und so konnte ich mich auf das Kommende besser konzentrieren.
Sie setzte sich auf ihre Liege. Den Stuhl, auf dem ich Platz nehmen sollte, hatte sie so platziert, dass ich ihr so nah saß, dass sich unsere Knie fast berührten und ich etwas tiefer saß als sie. Wir schauten uns an. Schätzten uns ab. Sie mich. Ich sie.
Sie hatte goldblond glänzendes Haar. Auf den ersten Blick wirkte ihr Gesicht harmonisch, angenehm. Ihr Mund war schön geschwungen, sie hatte volle Lippen.
Natürlich war ich neugierig zu erfahren, wie sie war – vielleicht auch, um festzustellen, ob sie in meinen Augen würdig war, Wolfs Frau zu sein. Mir war gar nicht wohl in meiner Haut. Ich schämte mich. Mit gesenktem Kopf sagte ich: „Ich liebe Ihren Mann.“ Mehr nicht.
Else Wolf erhob sich. Ich stand auch auf. Abschätzig schaute sie mich von oben bis unten an. Mit abfälligem Gesicht sagte sie dann zu mir: „Heute sind’s Sie, morgen ein anderes kleines Mädchen.“

...

 

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