Bernd Ulbrich

 

Zwischenspiel mit dem Tod. Ein Roman über die Liebe

 

 

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2015, 660 S., ISBN 978-3-86465-046-8, 26,80 EUR
 

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ZUM ROMAN

Faszination und Grausamkeit des Krieges. Dito die der Liebe! Die Weltliteratur ist voll vom symbiotischen Miteinander dieser Extreme menschlichen Seins. Menelaos führt Krieg um Helena, Othello liebt glücklos Desdemona, Rhett Butler liebt Scarlett O’Hara, Tolstois Pierre liebt Natascha, Anna Karenina liebt Wronski. Um Frauen zu gewinnen oder zu vergessen ziehen Männer in den Krieg. Ein Ende nicht absehbar.

Aus enttäuschter Liebe verschreibt sich Sebastian, achtzehnjährig, dem Krieg des 21. Jahrhunderts. Schwerverwundet kehrt er zehn Jahre später aus Afghanistan zurück. Hat das Zwischenspiel mit dem Tod ihn etwas gelehrt? Zumindest den Mut, sich eigenem Versagen zu stellen, und dem der Geliebten zu begegnen. Doch davor sind andere Prüfungen gesetzt, neue Lieben, die keine sind, und alte Zwischenspiele in frischem Gewand. Wenn auch reifer, stünde er am Ende wiederum allein, wären da nicht sein Freund, der kosmische Sänger Zombie, intrigenverwickelt die wunderbaren Großeltern, Exprimaballerina Alice und Großschauspieler Albert, Onkel Paul, opernsingender Schneider aus Ulm, der philosophische Nachbar und Kräuterlikörexperte Prof. Schmalzenegger, nicht zuletzt die jüngst verstorbene Erbtante Amalie, der die ganze Gesellschaft via Internet manch wertvollen Tip aus dem Jenseits verdankt. Wie man zum Beispiel mit Leichen im Keller umgeht und mit der Liebe.

 

Besprechung von Horst Illmer:

„Die Menschen sind feige. Sie wagen kein eigenes Urteil, rückversichern sich lieber bei Autoritäten. Das war schon immer so, und heute mehr denn je. Daran wird sich nichts ändern.“

(Bernd Ulbrich, Zwischenspiel mit dem Tod)

"Was mag, was kann man als „Autorität“ dazu noch sagen? Vielleicht das Folgende: ZWISCHENSPIEL MIT DEM TOD, das wie ein operettenhaft-ironisches Genrebild beginnt, entwickelt sich mehr und mehr zur bedeutendsten philosophisch-moralischen Neuformung der Menschlichen Komödie seit den Tagen von Balzac und Dickens.

Was bleibt einem armen Sterblichen angesichts eines solchen sprachmächtigen Zauberbuches denn anderes übrig, als entweder den Autor zu verfluchen, ob seiner unmenschlichen Fähigkeiten zur Imagination, oder, viel einfacher und näherliegender, auf die Knie zu sinken und jedwedem Schöpfer zu danken, dass er Solches zuließ?"

                                    

 

 

Leseprobe

Gorgonenhäuptig entsetzlichen Blicks zelebrierte der Meister seinen Fluch in die Welt. Mit apokalyptischer Endgültigkeit schleuderte er den Bannstrahl wider jenen unschuldigen Auswuchs eklektizistischen Deliriums und tat der Profanität damit ungewollt Ehre an. Zweifellos ein freudiger Ausbruch, wenn auch noch umworben vom Echo der Verzweiflung.

Mithin den Gewalten der Natur entboren, grollte Alberts Stimme im Zorn. Schneegestöber entgegen stieß sein Mund Nebelschwaden hervor. Blitze entluden sich gleichsam den Augen. Vom Sturm der Empörung getragen, wogte wollüstig züngelnd sein prächtiger Schopf. In einem, Demiurg und Weltverderber, bot er dem Enkel doch ein Spektakel ohnegleichen. Welch faustischer Anspruch aber auch, dieser Akt des Exorzismus! Indes als Seelenretter, ganz Philanthrop und Übermensch, genoß er seinen Auftritt. Applaus! Das Publikum vergalt ihm die grandiose Schöpfungstat mit seiner Liebe. Allein mit Wortes Macht beschwor er eine geistige Chimäre, steingewordener Homunkulus, beseelt von wahrhaft Babylonischer Vermessenheit.

Nun ja, ein Schauspieler eben, wenn auch ein außerordentlicher, ein ganz ungewöhnlicher, einmaliger vielleicht in seiner Zeit, zweifellos indes ein wahrer Mensch, ein Liebender. Beigott, nicht alle, nur den Einen, hier und jetzt, den es zu bewahren galt vor der Finsternisse Macht mit den Formeln heilsamer Beschwörung:

»O Zeiten, o Sitten. Dies ist kein Haus! Dies ist eine Ungeheuer­lichkeit! Leugnung zehntausendjähriger Kultur! Beleidigung
ästhetischen Sinns! Monströse Anmaßung! Lästerung alles Schönen und Erhabenen. Mißbrauch schöpferischen Genies. Verhöhnung menschlichen Seins! Ausgeburt bourgeoisen Dünkels und nationalen Größenwahns. Teufels Ruhm und Fluch der Götter. Mit einem Wort: Ha!«

Lag nicht in diesem einsamen gepreßten Laut die vertane Kraft revolutionärer Epochen? Das war sie, hier und jetzt, getragen von unbeugsamem Geist, die gefürchtete Macht des Wortes, um nichts weiter, als einer einzigen armseligen Kreatur.

Welch dialektische Predigt aber auch, über das Glück im Widerstand zu leben; verkleidet mit doppelzüngigem Witz, das scheiternde Moment der Willfährigkeit. So kannte und liebte Sebastian seines Großvaters Temperament und verstand ihn vollkommen. Die Frage, was das Letzte seiner wehrhaften Epistel mit dem Vorletzten zu tun hatte, mußte nicht erörtert werden, so wenig wie dieses mit jenem davor, und so wagte er dreist, doch notwendigen Ernstes, bescheidenen Widerspruch. Gegen das Brausen des Windes, das Rauschen der Wipfel, das Prasseln des Schnees mußte er ihn herausschreien, und dahin war’s mit der Bescheidenheit.

»Hat es aber nicht auch dessen morbiden Charme?! Gib es zu, großer Mime, wenigstens Tante Amalie zuliebe! Damit ihr Geist Ruhe findet vor deiner Lästerei und nicht bis in alle Ewigkeit hier herumspuken muß, wie weiland du als Vater Hamlets Geist!«

»Wie kommst du darauf, sie würde spuken?«

Sebastian zuckte mit den Schultern. »Nur so, vom Gefühl her.« Ein vogelgleiches Lächeln überbrückte die Abgründe in seinem Antlitz.

»Ein Gefühl.« entzückte Albert sich. »Der Junge ist auf dem rechten Weg. Ein Gefühl!« verkündete er der Welt. »Ha! Welch ein Triumpf, er lebt«, flüsterte er voller Ehrfurcht vor sich selbst und vor dem Willen, den er einstmals gepflanzt.

Wie sollte Sebastian die Obsessionen des Großvaters nicht verehren, der sich jetzt, als ein moderner Don Quixote, mit dramatisch veredelter Geste eleganten Ausfalls des wütenden Wetters und seines Widerworts zu erwehren anschickte.

Ich werde dich lehren, der Kunst zu spotten. En garde, jugendlicher Ignorant. Die Kunst duldet keinen Zweifel und auch die Liebe nicht. Ha!

Auf schneeglattem Parkett des Bürgersteigs fochten sie ein Scheinduell, durchbohrten einander von einem Augenblick auf den anderen, bis Albert im Taumel des Triumphes stürzte, und der soeben noch Besiegte eilte, ihm aus der Schneeverwehung aufzuhelfen.

»Ergib dich, Schurke.«

»Einigen wir uns auf unentschieden. Dein Sieg ist Pyrrhus‘!«

Sich dieser komödiantischen Leidenschaft wortlos auszuliefern, hätte in Sebastian ein Grenzen sprengendes Gelächter wie aus Kindheitstagen heraufbeschworen. Vor den Bildern jüngster Vergangenheit war es ihm verwehrt, zu jener unbeschwerten Fröhlichkeit zurückzufinden; angesichts durchschnittener Kehlen und geschändeter Leichen – im Namen Allahs oder in dem des Gesalbten – sah er sich unfähig, den Horror des Krieges ins Grab der Zeit zu versenken. Allerdings, ein leises Knistern und Knacken in Wangen und Kinn, wie vom Reißen des Eises gegen Winterende, kündigte eine Art frühlingshaften Drängens an. Geheimnisvolle Kräfte schacherten mit Gott Kronos, stahlen der Zukunft ein paar goldene Wochen, zu Monaten summiert, und verlagerten sie in die Vergangenheit. Langsam, unendlich langsam und doch, begannen Schatten zu weichen; Aufbruch irgendwo in seinem Innern zu lichteren Gefilden, irgendwohin jedenfalls, vielleicht, wahrscheinlich, möglicherweise, immerhin:

Adelante caballero de la estatura triste! Trotzen wir der Zukunft dräuenden Mahlwerks.

Den Ritter von der traurigen Gestalt wollte er nicht auf sich sitzen lassen, und war doch dem Großvater für seine fulminante Inszenierung unendlich dankbar. Wenngleich die Anspielung auf Windmühlen ihn ein wenig kränkte, war sie indes mit feinem Sinn und doppelbödig formuliert.

Als Gigant hatte ihn auf der Bühne erlebt, und Bühne war dem Jünger Thalias und Großmeister der darstellenden Kunst letztlich jeder Ort. Hier und jetzt ein Göttervater, versetzt in irdische Sphären, verachtend den profanen Gegenstand menschlicher Behausung, ein wenig lachhaft vielleicht, seiner eigenen Allmacht spottend, indessen unbenommen von abgründiger Tragik, gefaßt in etwa vier Dutzend Worte. Unstrittig ein sorgender Vater auch. War das der Funke, der da Kräfte in ihm freisetzte, deren komödiantischer Herr er immerhin noch zu sein schien und doch im Herzen zerrissen wie ein allzu menschlich Liebender, dem es graut vor der Last irdischer Triebe und, der davon entbunden, die Freiheit des Nichts fürchtet? Meisteretüde oder die größte seiner Rollen? Wollte er an diesem beliebigen Ort, vor handverlesenem Publikum zum einen, sowie Voyeuren einer zufälligen verborgenen Jury zum anderen, den Göttern gefallen? Er konnte ja nicht anders, als Diener zweier Herrn zu sein. Doch in diesem Augenblick spielte er für den Einen, den über alles geliebten Enkel, der, dem Heldentod entronnen, einen Weg zurück ins Leben suchte.

Dramaturgischer Gegenstand: dieses Erbe einer heruntergekommene Villa; im wohlhabenden Westen Berlins immerhin ein Kuriosum. Auf den ersten Blick schien das Bauwerk einfach nicht genug Substanz für derartigen Aufwand zu liefern. Wollte er sich vielleicht doch nur seiner selbst vergewissern, der alten Kraft und Herrlichkeit, bevor er endgültig abtrat von der Bühne des Lebens und von des Lebens Bühne, ein letztes Mal noch unvergeßlichen Eindruck schindend? Ach, dieser eitle, selbstgefällige Clown. Der war er auch. Tun wir ihm nicht unrecht? Stand er nicht immer im Dienste der Menschenliebe und waltete als Künstler nach bestem Wissen und Gewissen seines Amtes, so auch jetzt?

Ganz dramatisches Talent pflegte er zu übertreiben, um so mehr, galt es doch, ein beschädigtes Gemüt zu heilen. Außerdem war er Optimist; Schwarzmalerei gehörte dazu, und er wußte, wie er die Düsternis im Blick des Enkels aufhellen konnte, das zerstörte Wesen gesunden, das Grauen bannen durch eines, das keines war; ein Spektakel gegen das Monstrum der Erinnerung. Als wäre die Kulisse eigens für seinen Auftritt geschaffen, ahnend, was sie erwartete, stand er, siegreicher Feldherr nach verlorener Schlacht, hochaufgerichtet vor dem Objekt seines angeblichen Widerwillens.

Umschlossen von schier undurchdringlicher Wildnis, wiewohl gleichsam bewacht von stupider Akkuratesse großbürgerlicher Wohlanständigkeit ringsum, lag die ›Ausgeburt‹ inmitten weitläufigen Grundstücks: seltsam zerklüfteter Fremdkörper von Wagner’schen Ambitionen, zu empfangen die Vermessenen, welche die Geschichte zu korrigieren sich anmaßten, gegen Alberichs Orakelspruch und anderer Mächte Warnung. Wehender Mähne, flatternden Schals, wallenden Mantels trotzte der Usurpator Schneetreiben und Kälte, dem Krachen morschen Geästs, und übertönte noch das Heulen Calibans.

»Da hat sich das alte Mädchen was ausgedacht, vermacht uns eine Ruine. Zu sterben in solchen Zeiten, da wahre Schönheit nichts mehr gilt, ist freilich bequem. Neuerdings erhebt man drei Brüste zum Ideal! Wußtest du das nicht in deinem Wüstencamp im wilden Hindustan? Eine westlich-plebejische Erscheinung, gewiß. Modescouts bedeutender Firmen haben deren Marktpotential erkannt. Die einäugigen Gegner des Wahns machen Jagd auf die Närrinnen. Geile avatarische Augenprothesen, ein weiterer lukrativer Trend. O Zeiten, o Sitten!« extemporierte er ins Tosen des Wetters. »Was fangen die Modechirurgen mit der Unmenge amputierter Augen an? Dr. Tod wird sie plastinieren und ein Kunstwerk daraus erschaffen, eine Installation, eine Performance. Wir werden ihr einen Titel verleihen, ein Motto, etwa so, mit dem einen sieht man besser. Vielleicht wird es bald Mode, sich ein Bein kürzen zu lassen. Wie verwertet man die millionenfach herausgesägten Segmente? Sie als Hundefutter oder als Dünger zu vermarkten, wäre ethisch zwar vertretbar, doch unrentabel. Man könnte sie in flüssigem Stickstoff konservieren, bis der- oder diejenige mal den Kieferaufbau ins Auge faßt. Eine Marktlücke tut sich auf. Eine Geschäftsidee ist geboren. Denn der Trend geht eindeutig zu George-Cloony-Kinnladen, vornehmlich bei Frauen, während Männer unzweifelhaft die Kinnpartie Virginia Woolfs favorisieren. Was sagst du dazu, Sohnenkel?«

Sebastian war sich im klaren, daß die Anrede nicht als Aufforderung zur Kontroverse zu verstehen war und überhaupt, keine Erwiderung duldete. Doch seit seiner Rückkehr ins deutsche Land, nach dem Lärm der Gefechte, dem Schreien der Verwundeten, der Stille des Gehorsams, verlangte es ihn nach Widerspruch, wenn kein anderer zur Verfügung stand, auch und gerade gegen den über alles geliebten Großvater, gegen sein kosmisches Verständnis, seine universelle Liebe, seine große Seele. Obwohl er ihm andererseits ungern ins Wort fiel, schätzte er doch dessen theatralische Tiraden über alle Maßen. Den Ausgang des Labyrinths zu finden, erhellte das Wetterleuchten fernen Lächelns sein Innerstes.

»Wie immer übertreibst du ein bißchen, nicht wahr?«

»Ich übertreibe keineswegs. Ich rede in Gleichnissen.«

»Aber was hat das nun mit Tante Amaliens Villa zu tun?«

»Schweig, Nichtswürdiger und widersprich deinem Großvater nicht. Hast du das bei der Truppe in Belutschistan gelernt? Das ist keine Villa, das ist ein Gespensterschloß, ein Hort übler Dämonen. Sie werden dich lehren, was es heißt, eine Vergangenheit zu besitzen. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Ha! Eines Tages werden die Einäugigen mit den Dreibrüstigen sich verbünden und auf Artikel X des Grundgesetzes abheben: Alle Menschen sind ungleich. Außerdem auf Artikel Y, der die Diskriminierung von Mehrheiten verbietet. Als solche werden sie durchsetzen, daß der Nichtbesitz von Villen sie benachteilige. Man wird uns enteignen.«

»Aber das Eigentum ist hierzulande doch heilig«, spottete Sebastian gegen diese Persiflage marxistischen Gedankenguts.

»Eigentum ist nicht gleich Eigentum. Das ist Dialektik. Davon verstehst du nichts«.

Vom Großvater hätte Sebastian selbst das Todesurteil heiter entgegengenommen, wußte er doch, daß sich in dessen Person der Sheriff von Nottingham und Robin Hood in nichtantagonistischer Einheit verbündeten.

»Man muß als Besitzender bei den anderen Besitzenden akzeptiert sein. Das ist eine geschlossene Gesellschaft. Wir passen so wenig hierher, wie ein Europäer nach Afghanistan. Uns fehlt der Stallgeruch, der Glaube ans Geld in diesem Fall, der Glaube, daß Geld nicht stinkt. Pecunia olet! Eines nahen oder fernen Tages werden die Nachbarn jubeln, uns los zu sein. Schau, wie sie begehrlich hinter Fenstern lauern oder einen Investor herbeisehnen, der hier einen gesichtslosen Wohnbunker hinknallt, daß es die toten Seelen graust und sie den Ort fliehen. Eine geschichts- und zukunftslose Wüstenei hinterbleibt. Aber wir werden ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.«

»Werden die nicht enteignet?«

»Die sind reich. Die können sich bessere Anwälte leisten.«

»Bist du als Träger des Ifflandrings nicht auch reich?«

»Du vergißt, daß ich seit geraumer Zeit keine Angebote mehr erhalte. Für einen unbequemen Arbeitslosen bedeutet diese Ruine ein Faß ohne Boden und die Barerbschaft wird bald aufgezehrt sein.«

»Aber Tante Amalie hat verfügt, daß nichts verändert werden darf.«

»Das ist ja das Teure, mein Sohn. Sie hat, wie du weißt, außerdem unsere Wohnpflicht verfügt. Wir sind ihrer Willkür über den Tod hinweg ausgeliefert.«

In der Tat war dem Nachlaßpfleger auf zehn Jahre das Recht übertragen worden, die Einhaltung des Letzten Willens der Erblasserin zu kontrollieren. »Andernfalls geht die Hütte an Deine Tante Leonie, und dieser falschen Schlange gönne ich nicht das Schwarze unterm Fingernagel. Sie und ihr Mann sind die geborenen Erbschleicher und Spekulanten. Sollen wir denen das Schloß überlassen?«

»Es ist eine Ruine, eine Ungeheuerlichkeit, ein Faß ohne Boden!« erinnerte Sebastian ihn kategorisch unernst.

»Widersprich nur, widersprich nur. Das ist das Recht der Jugend. Niemand anderem als meinem Lieblingssohnenkel räume ich es ein.«

»Da du zusammen mit meiner Lieblingsgroßmutter, mein Lieblingsgroßvater bist, weiß ich die Ehre zu schätzen.«

Sebastians Tonfall befreite Albert von einer schweren Last. »Da wären wir uns also wieder einmal einig. Wo in dieser verlotterten Welt sprächen denn Alter und Jugend noch mit einer Stimme? Schauen wir also frohgemut grimmig in die Zukunft. Werfen wir einen Blick auf unsere künftige Residenz, und rüsten wir auf gegen jedweden Widerstand. Weist du ein Maschinengewehr zu bedienen? Natürlich weist du. Dort oben in der Gaube werden wir eines stationieren und jeden umlegen, der unser Daseinsrecht und unser Eigentum infrage stellt. Wir können auch anders.«

Hinter hohen Wipfeln verborgen zeigten sich in Segmenten die vielfach strukturierten Giebel des Gebäudes. Der höchste ihrer wurde noch überragt von einem quadratischen Turm in Tudormanier, während der Rest ein eklektisches Gemisch aus Neostilen des neunzehnten Jahrhunderts, versehen mit maurischen Anlehnungen, sowie Schweizer Cottageelementen darstellte. Besagte Gaube lugte zwischen entlaubtem Geäst einer alten Ulme hervor. Dieser mächtige Baum schien mehr an Schutz bereitzuhalten als ein freies Schußfeld. Und Projektile gegen Fanatismus, Gier und Größenwahn hatten sich längst als obsolet erwiesen. Doch des Großvaters anarchische Wut löste den Krampf der Rundumverteidigung in Sebastians Innerem und er lächelte nunmehr tatsächlich.

»Eigentum oder nicht Eigentum«, seufzte er tiefgründig angesichts der großväterlichen Phantasien und bekannte: »In einem hast du sicherlich recht. Auch ich fühle mich fremd hier, in doppelter Hinsicht. Nach den Jahren im Ausland hoffte ich auf vertraute Umgebung, auf Menschen außerhalb der Familie, die mich kennen und lieben, die mich verstehen, meinen Schmerz und meine Verzweiflung mit mir teilen. Aber das ist wohl hier wie da eine Illusion.« Ein schneller, scharfer Blick – geübt im Erkennen von Heckenschützen und Mienen – in die Nachbarschaft edelstählerner Fassaden, antiken Plagiats und architektonischer Hyperräume umriß den Gegenstand seiner Bedenken. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier jemals heimisch werde. Aber vielleicht ist das noch einmal eine Prüfung, die ich ertragen muß. Warten wir ab, wo die mich hinführt.« Das klang schon ein wenig nach Optimismus, nach einem imaginierten Ziel wenigstens, wenn auch einem vagen.

Er versuchte, sich vorzustellen, wie jene Landschaft wohl aussähe, die seiner Sehnsucht, mit lichten Hainen, Matten von kargem Grün und schroffen, unwegsamen Höhen in denen, zu keinem anderen Nutzen, die Phantasie schweifen durfte, versuchte, sich Menschen vorzustellen, freundliche Zeitgenossen, die den Wanderer einluden, an dieser Schönheit teilzuhaben, mit ihnen zu speisen, zu tanzen und zu lieben. Das war die andere Seite seiner Erfahrung, neben Dreck und Gestank, dem Geruch des Blutes und des Pulverdampfs; verwirbelt mit dem Schweiß der Todesangst, die Aromen von exotischen Gewürzen, verströmt über erhitzte braune Mädchenhaut. Noch heute erregte ihn die Vorstellung davon und löste Schutzimpulse in ihm aus. Er hatte sie ja in den Armen gehalten, die verschreckte, gedemütigte Kreatur. Wenn er daran dachte, dünkten ihm die Greuel und Schrecken der Einsätze etwas weniger furchtbar und dennoch unerträglich. Wenigstens vor dieser Erinnerung verloren die Gespenster der Vergangenheit ihre Gewalt über ihn, Quentchen für Quentchen nur, aber immerhin. Wen, außer den Großeltern, sollte er daran teilhaben lassen? Nicht einmal den Psychologen hatte er davon erzählt. PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung, leere Begriffe. Er wollte die Bilder der Vergangenheit nicht durch sie gefiltert sehen.

Für einen Moment war der Sturm abgeflaut. Doch ein kräftiger Wind trieb in gelichtetem Wirbel noch immer Millionen von Flocken vor sich her. Die Augen der Häuser blickten starr und unversöhnlich auf sie herab. Von ihrer spiegelblanken Fläche reflektierte sich das Konterfei der Schneekönigin. Ihr Lächeln war verlockend, ihr Atem tödlich, ihre Liebe zeitlos. Unter ihren halbgeschlossenen Lidern loderte eisiges Feuer. Ihre Lippen gaben Zärtlichkeiten preis, wie kein Sterblicher sie zu ersinnen vermochte. Was nur neidete sie den beiden heroisch armseligen Gestalten auf dem verschneiten Trottoir, die sich da gegenseitig Mut zusprachen, endlich mit der Zukunft zu beginnen? Wozu in drei Teufels Namen brauchten Sie Mut? Bei einem, der gerade so dem Tod entronnen war, und mit einem flüchtigen Blick jenseitige, bessere Welten erhascht haben mochte, verständlich. Was aber hielt Albert ab, vorwärts zu stürmen und das großartige Erbe in Besitz zu nehmen? Suchte er schon jetzt nach Argumenten, seiner Liebsten, seiner Alice, die Sache schmackhaft zu servieren? Das würde ein harter Brocken werden, weigerte sie sich doch bislang umzuziehen. Hartnäckig wie ein Teufel konnte sie sich wahrlich gebärden, wenn’s drauf ankam. Noch immer unentschlossen, wanderten sie also auf dem schmalen Trampelpfad auf und ab, kämpften sich durch gefrorene Untiefen, rüttelten hier und da an den Speerspitzen des Zauns, warfen Blicke aus verschiedener Perspektive auf die ererbte Last. Immer aufs Neue verlockend, bot sie sich ihnen mit der ganzen Widersprüchlichkeit unberührter Jungfräulichkeit und lasterhafter Dekadenz dar. Dem Charakter des Bauherrn waren wohl die wehrhaft wirkenden Elemente zu verdanken, die Zinnen und Erker, die Balkone und Spitzgiebel, als Reflex einer glorreichen Historie einerseits, die frühe Jugendstilform der Fenster und Türen als Referenz an die Gegenwart. Manch geisterhafte Schnitzerei dämonischer Visagen oder verkappte Anzüglichkeiten deuteten einen Libertin an, mithin einen Phantasten, oder nur Ausdruck nostalgischer Attitüde jener Zeit. Die Grenze war schwerlich zu ermitteln.

»Ach, mein Junge!« rief der Großmime elegisch aus. »Die guten Menschen sind vom Winde verweht. Du wirst sie weder im Osten, noch hier im Westen finden. Das Böse triumphiert. In Nirwanistan wollte es dich physisch vernichten. Hier, in der föderativen Republik Groß-Bananien, hat man es auf deine Seele abgesehen. Macht und Reichtum genügt den Obstproduzenten nicht. Jeden Flecken der Erde wollen sie besitzen und ausbeuten. Ungeheure Angst, ihre Bedeutung als Vitaminbombenhändler einzubüßen, treibt die designierten Eigner der Sonne und der Sterne um. Sie können erst wieder ruhig schlafen, wenn sie auch noch über dein Herz verfügen. Meide den Blick aus ihren toten Augen. Damit melken sie dich wie die Vampire, saugen dich aus, bis du als gefügige Kreatur ihrem Willen unterliegst. Dann bist du ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Trotzen wir also der Gefahr. Diese Bruchbude beherbergt immerhin einen Teil unserer Familiengeschichte. Wäre das nicht ein Anknüpfungspunkt? Die Geister unserer Ahnen, Leichen im Keller, bildlich gesprochen. Ha!«

»Uralten Cognac erwähnst du vorsichthalber nicht«, zitierte Sebastian nachsichtig die läßliche Schwäche des Großvaters, »und Geister von Toten schleppe ich schon genug mit mir herum, Leichen auch, bildlich gesprochen. Da wären der Gefreite Müller, der Jäger Cordmangel, der Feldwebel Schmidt-Ehrentraut, der Stabsunteroffizier Dürrfuß.«

»Dies sind die Geister von Opfern«, ermahnte der Großvater ihn. »Hier wirst du, wenn mich meine Intuition nicht trügt, denen von Tätern begegnen, im guten wie im bösen Sinn.«

Er äußerte das leichthin, als hätte es gar keine Bedeutung, ein Spiel wie auf der Bühne, wo die edlen Schurken letztlich tragisch scheitern und die Guten an ihrem Sieg verzweifeln. Doch im allgemeinen Dasein gestalteten sich diese Dinge wesentlich unspektakulärer. Dies war seine wahrhaftige Überzeugung. Auf des Lebens Bühne sortierten sich Charaktere und Schicksale nicht nach dramaturgischen Gesetzen. Die Vielschichtigkeit des gemeinen Individuums galt ihm als eine Wahnidee von Romanautoren und Stückeschreibern. Die familiäre Wahrheit, soweit seine bisherige Kenntnis reichte, hieß schlicht: die Vorfahren waren von durchschnittlichem Talent und eben solcher Moral, was in diesem Fall nur eine zufällige und keinesfalls notwendige Beziehung darstellte.

In mehr oder weniger herausgehobener Position dienten sie zu allen Zeiten widerspruchsfrei der Macht, wie Tausende anderer auch. Sie versteckten keine Juden im Keller und zogen ohne Revolte in den Krieg. Noch weiter zurück waren sie kaisertreu, und massakrierten keine Hottentotten. Was miteinander nichts zu tun hat. Noch weiter und noch weniger rückwärts gerierten sie sich als Demokraten der ersten und auch der letzten Stunde mit konservativer Attitüde und immerfort sauberer Vergangenheit. Dazwischen existierte der Glaube an Gott und seine Unfehlbarkeit. Der HerR, unser Hirte. Der Mensch ist wandelbar und bleibt, was er ist. Schämen mußte man sich dieser Verwandtschaft nicht unbedingt. Doch den Adelsbrief Freien Geistes hatte sich auch niemand erkämpft. Bis auf Tante Amalie vielleicht, vielleicht auch nicht. Er wußte wenig über ihr Leben und doch einiges, was Fragen aufwarf. Immerhin, die Bruchstücke, die ihm gehässig oder wollüstigen Schauders kolportiert worden waren, schienen, gleich den Fragmenten einer antiken Skulptur, ausreichend, ihren künstlerischen und historischen Wert, ihre Einmaligkeit, ihre Allgemeinheit zu ermessen und gleichzeitig zu bezweifeln.

...

 

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