Katharina Rothärmel 

 

 

Auf rauen Pfaden zu den Sternen

 

 

2013, 101 S., Erzählungen, ISBN 978-3-86465-031-4, 11,80 EUR


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Zum Inhalt

„Schau und gedenke." (Lew Tolstoi)

Die, die wir noch auf Erden sind, dürfen die Geschichte nicht vergessen. Blicke in die Vergangenheit können helfen, die Hoffnung nicht aufzugeben, die Hoffnung, dass der Mensch ein lernfähiges Wesen der Natur ist und verantwortlich für ihren Erhalt handeln kann.

– Ein plötzlich losbrechender Himmelssturm fetzt die Wolken. Durch die Wolkenlöcher strömt gelebtes Leben und blickt auf unsere Niederungen. Leni, Frieda, Doris und Gert beobachten, kommentieren und erinnern, jeder auf seine Weise, das Leben auf Erden.

Johanna hat noch Jahre vor sich. Im Sturmwind scheint sie Friedas Stimme zu vernehmen: „Freut Euch des Lebens! Oder wartet Ihr darauf, dass Eure Sinne abgeschaltet werden? Dann lebt Ihr als Roboter..."

 

 

 

LESEPROBE

 

Leni

 

Leni hat sich wohlig eingerichtet inmitten der Wolkenschichten.

Das zwanzigste Jahrhundert war dem Ende nahe, als ihr Sohn ihr die Augen zudrückte und sie ihren Körper abgab und ihr Geist in die Höhe schwebte durch das Dach des Hauses, in dem sie ihre letzten Lebensjahre verbracht hatte.

Die Energieströme, die sich in ihrem Nervensystem verankert haben, ermöglichen in der freien Himmelsbahn, dass sie auch ohne ihren sichtbaren und greifbaren Körper die Wahrnehmungen die sich durch ihr achtzigjähriges Leben auf der Erde im Energiesystem gespeichert haben, abrufen kann.

Langsam wird es ungemütlich, die Hinderniswolke, auch Wolkenkratzer genannt, macht Wellenbewegungen in der Atmosphäre, auf die Erde klatschen siebzig Liter Wasser pro Quadratmeter. Leni sitzt schon eine Woche fest. Sie will höher kommen, raus aus dem Wolkenkratzer.

Sie will weiter hoch, in den Himmel und dort Frieda treffen, die Freundin.

Lenis Sinne kribbeln und springen auf und ab wenn sie an Frieda denkt. Ist die auch noch in den Wolken oder schon im Himmel?

Die höheren Wolkengruppen sind die Federwolken, Schleierwolken, Schäfchenwolken, die sind 2000 bis 6000 Meter hoch. Leni ist noch unter 2000 Meter. Der Himmel erscheint ihr als Halbkugel, die die Erde umschließt und nach innen hin die Gestirne trägt. Alle im Weltraum befindlichen Massen, Sonne, Monde, Kometen und Fixsterne, all das will Leni endlich hinter sich lassen. Langsam wird es heller! Es ist soweit, jetzt steigt Leni auf, sie erreicht die Schleierwolken!

Plötzlich ist ihr Friedas Stimme ganz nahe.

„Nu pass ma uff, nu hör ma zu. Jetzt bin ick gleich achtzig, die Menschen müssen endlich ihr Hirn erweitern, dass kein Krieg mehr kommt. Die Waffen die sie jetzt haben, na schönen Dank an das Gehirn! Mit denen werden nicht nur einzelne Flächen zerstört, ganze Erdflächen werden herumfliegen.

Wenn so ein Atompilz hochgeht, dann ist keiner und nichts mehr sicher. Warum denkt sich ein Mensch überhaupt so etwas aus? Warum nutzen sie nicht ihren Geist und denken darüber nach, wie Zerstörungen verhindert werden können? Jeder der etwas erfindet, was der Zerstörung dient, dem müßte das ganze Hirn aus dem Kopf springen und er sollte tot umfallen.

Pass uff! Wenn die Sonne weiter weggeht von uns, dann wirds immer heller und im Juno macht sie wieder einen anderen Kurs. Sie kommt zu uns runter und es wird wieder kühler. Tag und Nacht und hell und dunkel. Das ist der ewige Kreislauf. Bis jetzt. Aber wenn der Mensch da eingreift, wird der Kreislauf zerstört, dann ist kein Leben mehr auf der Erde möglich."

Friedas Stimme ist verhallt, Leni steigt weiter auf, sie sieht den kleinen Bären, den Himmelswagen, in ihm liegt der Polarstern.

Leni hat keinen Körper mehr, ihre Organe sind zerfallen, die Pelle ihres Körpers ist verwest. Lenis Materie liegt in einem Kasten unter Sand und Baumwurzeln, über der Kiste ist Gras gewachsen und vom Sohn gepflanzte Blumen blühen im Frühjahr und Sommer, im Herbst und Winter legt er Tannenzweige auf die Grabstelle. Leni ist ein Jahr tot und die Kiste beherbergt ihre Knochen, eingehüllt von dem langen, aus seidigem Stoff hergestellten Kleid.

Lenis Geist ist auf dem kleinen Bären zugeströmt, ihre Sinne flattern auf und ab, sie schütteln sich, zerströmen zwischen Schleierwolken, Schäfchenwolken und Federwolken. Staub durchweht die Wolkenschichten, er bündelt sich, packt sich zu einer Masse, die die Pforten in das Reich des Himmels verschließen.

Der sich selbst regulierende Mechanismus der Sinne übt heftigen Druck aus, die Sinne schwirren durcheinander. Der Druck führt zu Hammergeräuschen, Schraubgeräuschen und dumpfen Klopfgeräuschen. Leni spürt die Kiste, sie fühlt das Holz, das sich wie Knochen anfühlt. Der plötzlich aufbrechende Himmelssturm schiebt Wolke für Wolke beiseite.

Leni hört ein Klingelton. Sie geht zur Wohnungstür. Sie öffnet. Der Hausmeister teilt ihr mit, dass ein Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg gefunden wurde. Alle müssen raus aus ihren Wohnungen. Sie hat eine halbe Stunde Zeit, die wichtigsten Papiere in ihre Handtasche zu packen, dann wird sie abgeholt. Die dann folgenden Stunden haben sich so stark in Lenis Nervenzellen eingeprägt, dass die Energieströme die Spur aufnehmen und das Zittern ihrer Nervenzellen den Hausmeister Schubert erscheinen lässt, der ihr die Hand zum Gruß reicht und sie auffordert die Wohnung zu verlassen. Es erklingen laute Töne, schrille Töne und dunkle, beruhigende Klänge die sich zu Worten formen.

„Guten Morgen Frau Breitner, Sie müssen die Wohnung verlassen. Bei Erschließungsarbeiten zur Erweiterung des Wohngebietes ist ein Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg gefunden worden. Ich muss Sie bitten, alle wichtigen Papiere mitzunehmen. Für alle Fälle."

„Eine Fliegerbombe. Mir zittern die Knie. Die Erinnerung kommt zurück. Die Erinnerung an damals."

Die wichtigsten Papiere sollte sie mitnehmen. Sie riss die oberste Schublade ihrer Kommode auf, nahm einen Pappkarton heraus, öffnete ihn und entnahm SV-Ausweis, Rentenschein und die Heiratsurkunde. Lang, lang ist es her, damals ist sie jung gewesen, verliebt und glücklich.

Der 20. Mai 1938 war ein herrlicher Frühlingstag. Dieser schönste Tag in Lenis Leben liegt 46 Jahre zurück.

„Ach Heinrich deine Musik ging mir ins Herz. Auch hier oben spüre ich die Töne. Deine Klänge begleiten mich im Universum. Mein Heinrich! Als du fort musstest, hast du noch einmal Mozart gespielt, nur für mich. Hitler hatte den Krieg gegen Russland angefangen und du wurdest eingezogen. Ich habe dich zum Bahnhof gebracht, wir standen auf dem Bahnsteig. Hilflos. Richtig Abschied genommen hatten wir zu Hause. Ich trug das Kleid, das ich am Tag unserer ersten Begegnung anhatte. An unserem Abschiedstag saßen wir auf unserem Sofa dicht beieinander und wir haben uns in die Augen gesehen. Du hast mir ein goldenes Medaillon geschenkt, es hing an einer goldenen Kette. In dem Medaillon war ein Kleeblatt. Vierblättrig. Es sollte uns Glück bringen. Ich habe das Medaillon schon lange nicht mehr. Ich habe es in die Erde von Mariannes Grab gegeben. Du warst schon in fremder Erde verscharrt, als unsere kleine Tochter starb.

Jetzt bin ich bei euch! Wo seid ihr!? Die Wolken schwirren umher, ich spüre euch nicht."

Es klappert und pfeift.

 

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