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Alfred Hirschenberger

 

Eruption und Erosion

 

 

 

 

 

2013, 273 S., [= Autobiographien, Band 43], ISBN 978-3-86465-011-6, 16,80 EUR

 

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Klappentext

Es ist nicht zu überhören, täglich berichtet die Presse darüber: Riesengewinne für Konzerne, enorme Abfindungen für erfolglose Manager, Abwanderung von Betrieben in sog. Billiglohnländer ohne Sozialstandards, drücken der Einkommen durch Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn, ständig steigender Leistungsdruck...

Die Klagen werden goutiert, man stimmt ihnen zu, aber belässt es dabei. Die Hinweise werden nicht zu Ende gedacht. Man blockt ab, scheut vor den hochkommenden Konsequenzen...

Hirschenberger legt den Finger in die Wunde. Der 90-Jährige erzählt uns romanhaft die Geschichte seiner Jugend. Und zwingt uns durch die Kraft seines Erzählens, die Fragen unserer Gegenwart nicht mehr so leicht zur Seite zu schieben.

Er scheut sich nicht, seiner bewegenden Prosa einen politökonomischen Essay hinterzuschicken, der die Quintessenz seines Lebens als homo politicus verkörpert.

Schwerere, sachliche Kost nach der emotionalen – aber er hat uns den Boden gut bereitet.

Danke, Alfred Hirschenberger.

 

 

Leseprobe

 

Im zwanzigsten Jahrhundert

- I -

November 1918. Noch ist das Grollen der Geschütze nicht verhallt, das Wehgeschrei nach den Müttern, das der Mütter nach den Kindern nicht verstummt. Das Wetterleuchten am Horizont nicht erloschen, die zerfetzten Leiber nicht verscharrt. Noch sind sie nicht aus den Gräben gekrochen. Ausgeblutet wenden sie sich ab, das Einmalige geschah, voll Grauen, einig in ihrem Elend. Das Abschlachten hat sich erschöpft. Der Krieg ist aus. Verstört, verstümmelt, taumeln sie, bang, dem Zuhause zu. Es findet sich einhellig der Ruf „Nie wieder Krieg!". „Nieder mit der Monarchie!". „Es lebe die Republik!". „Weg mit dem Adel!". Ein Aufbruch in eine neue Zeitrechnung setzt ein. Die Geschichte gehört der Vergangenheit an, sie ist vorbei. Es wird neu begonnen.

Räte, abrufbare Räte finden sich, um nicht nochmals eine Zweiteilung der Gesellschaft zuzulassen: „Das Volk an die Macht", „Nie wieder Krieg", „Die Waffen nieder" und singen die Internationale. Nicht Erkenntnis überwand das herrschende Regime, der Befehlsgewalt ist der Gehorsam verloren gegangen.

Eine zerlumpte, heruntergekommene Gestalt nähert sich zag einer Keusche in der Vorstadt, bang, was sie erwartet. Der Soldatenmantel, abgerissen, schleift am Boden, schlottert an der hinfälligen Gestalt. Die rechte Hand in einem verschmutzten, blutverschmierten Verband, in einer um den Nacken geknüpften Schlinge. Gebeugt, den Kopf gesenkt, von Gedanken geplagt, drückt die Gestalt sich in leeren Gassen an den Hausmauern entlang.

Es dämmert, der den lahmen rechten Fuß nachziehende Laternenanzünder mit der langen Stange über der Schulter ist bereits gegangen, hat die Gaskandelaber angezündet, trüb schimmern sie vor sich hin. Obenauf, auf dem Auerstrumpf, lässt im Flirren sich unheilvoll ein Kreuz wahrnehmen.

Die Gestalt biegt um die letzte Ecke und steht vor einem großen Haustor eines aufgelassenen, verwahrlosten Gesindehauses, mit einer Tür darin, zögert, lehnt sich vornüber an das Tor. Links und rechts in die Erde eingelassen, geschrammte granitene Radabweiser, die Mauer bewahrend. Dahinter der Hof 20 mal 30 Meter, rechts ducken sich vier aneinandergereihte etwa 25m² große Unterkünfte den Hof entlang. Je eins befindet sich neben dem Tor, zwei schließen rückwärts den Hof ab. Links vom Hof, Schupfen, ihnen zu Füßen, vor Tritten geschützt, drücken sich kümmerlich, Gras und Milchdistel (Löwenzahn) an die Bretterwand. In einem trittsicheren Schupfenwinkel macht sich eine Krötenplätsche breit.

In der einen Wohnung gleich neben dem Tor wohnt eine Mutter mit zwei Kindern, einem Buben und einem Mädchen, deren Vater wegen Einbruchs verurteilt seine Strafe absitzt. Sie gehören mit zur Wohngemeinschaft.

Vom Hof aus, dritte Tür rechts, tritt man direkt in eine schmale Kammer, die als Küche dient. In ihr findet gerade noch ein Tisch Platz, zwei Sessel, ein Schemel, ein Wasserbankerl und eine Kredenz. Hinten in der Ecke steht ein Herd. An ihn gedrückt ein kleiner gußeisener Piperlofen zum Heizen. Auf ihm ein Häferl mit Wasser. Neben der Tür in den Hof hinaus eine schmale Lichtluke. Der Boden aus Brettern, die jeden Freitag mit Lauge gebürstet werden. Nebenan, durch eine Tür, am Türstock ein Weihwasserkessel, ein 4 mal 4 m großes Schlafzimmer. In ihm stehen zwei Betten, ein Diwan, vor den Betten ein Tisch mit zwei Sesseln mit geflochtenen Sitzflächen, an der Wand ein Kleiderkasten. In neun Monaten kommt ein Gitterbett hinzu. Über den Ehebetten ein großes Jesus – Bild mit einem flammenden Herzen in der Mitte, rechts die Fotografie eines Mannes, links die einer Frau. In der Mitte vom Plafond hängt eine bunte Petroleumlampe herunter. Zu Nachtkästchen reicht es nicht, es ist auch kein Platz. Am Fensterbrett in der Mitte der hofseitigen Wand stehen zwei Blumentöpfe mit, wenn es Zeit ist, violettrot blühenden Fuchsien.

Über dem Hof, links vom Tor, in einem zugigen Bretterverschlag, der Abort über einer Senkgrube. Etwa vier Meter davor ein Brunnen, mit einem Schwängel zum Pumpen, der an einem Querbalken hängt. Das Wasser wird zum Waschen verwendet, das zum Trinken und Kochen wird von einem auf der Straße stehenden Hydrant durch das Bäckergassel in Kübeln schwabbelnd heimgetragen.

Eine Mutter, Marie Schember, und ihr zwölfjähriger Sohn Karl hausen hier. Marie Schember, mit ledigem Namen Panagl, ist aus dem Waldviertel, ihren zwei älteren Brüdern nach Wien gefolgt.

Frühmorgens schon gehen die beiden, Mutter und Sohn, gemeinsam Zeitung austragen, um durchzukommen. Als sie bei der Kirche vorbeikommen, schaut Karli hoch, auf die Uhr, er muss rennen, um in die Schule zurecht zu kommen, lässt die Frühmesse fahren. Der Katechet erwirkt dann bei der Konferenz, dass der Geometrielehrer ihn sitzen lässt. Ein Jahr danach. Die Mutter geht mit zwei Kübeln durch das Bäckergassel zum Hydranten Wasser holen, und auf dem Weg liegt der Lehrer, mit wund geschlagenem Kopf. Sie stellt die Kübel nieder, hilft ihm auf, und wäscht die Wunde am Hydranten. Es lässt sich nicht erahnen, ob und was in dem Lehrer dabei vorgeht, er bedankt sich dann und geht. In der Bürgerschule ist er dann Jahre später auch Lehrer von dem noch nicht geborenen Fritzi. Die Mutter im Elternrat.

Die Gestalt scheint sich ihrer nicht sicher, seufzt auf und geht dann doch bedrückt durch die Tür hindurch, in den Hof hinein. Klopft zögernd an der dritten rechts, obwohl sie weiß, dass diese nie verschlossen ist und wartet. Ein Bub, zwölfjährig, öffnet und schlägt sogleich wieder die Tür zu. Ein Bettler steht draußen. Die Mutter schaut nach und lässt ihn herein. Der Bub verdrückt sich in einen von der blakenden Petroleumlampe nicht erreichten Winkel, das ist sein Vater nicht.

Es ist kein großartiger Empfang. Rührseligkeit wagt keiner aufkommen zu lassen, eine Schwäche, die sich keiner zu leisten wagt. Große Gesten stehen ihnen nicht zu. Gefühle werden verdrängt, jedenfalls nicht gezeigt. Er gibt die Hand, umarmt, – endlich angelangt – und sinkt auf einen Sessel nieder. Schaut, verfallen, traurig nach seinem ihn fliehenden Kind. Die Mutter wendet sich seufzend dem kalten Herd zu, sucht nach Eßbarem für den Heimkehrer. Monate noch schreckt er aus dem Schlaf hoch mit dem Grauen des Krieges in sich. In 20 Jahren werden sie, der Zwölfjährige und der in der nächsten Nacht zum Leben erwachsende, dort im Krieg sein, von wo der Vater eben heim kam. Es ist ihnen bestimmt, sie wissen es nur noch nicht. Auf der Straße draußen schreien sie entsetzt „Nie wieder Krieg!" In 20 Jahren dann wird „Wir wollen den totalen Krieg!" gebrüllt werden.

In der nächsten Nacht erst schlüpfen sie zusammen. Die Mutter, die Frau, sie greift erregt voll Verlangen hinüber nach dem Mann, nach Jahren unerträglicher Entsagung. In der Ursache keine andere Vorausbestimmung als die der Begierde und die einer Gelegenheit, mit biologischen Folgen. Eine Entwicklung setzt sich in Gang, deren Anfang sich orten lässt und sich fortsetzt bis zum erwachsenen Menschen. Nicht aber die unzähligen, den Lauf beeinflussenden Zufälle im späteren Leben. Anlagen entfalten sich, werden von Einflüssen gefördert oder gehemmt, je nachdem. Die Entwicklung von einem Keim zur Frucht ist bestimmt, nicht aber beabsichtigt, gegeben durch eine vorangegangene Mutation, die meistens von einem negativen Kopierfehler und vom Zufall abhängig ist. Evolutionen sind zyklische Prozesse, von Zufall und Notwendigkeit geprägt. Absicht ist keine wahrzunehmen, als die einer Vision.

Nach neun Monaten ist ein Büblein da. Die Nachbarin konnte es nicht erwarten, ihn sich anzusehen, und war so verzückt von dem neuen Ankömmling, dass sie ihm die rosig samtweichen Hinterbacken küssen musste.

Zehn Jahre später, 1928 im Juli, dem Monat, in dem der Knabe zur Welt kam, ließ in Pressburg ein Schmetterling sich nieder, ein Mädchen wurde gezeugt. Vielleicht am selben Tag oder gar zur selben Stunde. Mit dieser Gegenüberstellung lassen sich keine nachweisbaren Zusammenhänge darstellen. Da aber das Denken geradezu nach solchem Zauber lechzt, um doch nicht ganz dem Zufall preisgegeben zu sein, soll es als amüsant nicht unangeführt bleiben.

 

- II -

Die Vollwaise Anna wird 1927 von ihrer Tante eingeladen, die es vor Jahren nach Pressburg verschlug, dort heiratete und heimisch wurde. Der Vater der Anna, der Valentin Zack hatte ein Fuhrwerksunternehmen, von seinem Vater übernommen, zwanzig Pferde standen im Stall. Er ist ein Spieler, im Wettbewerb sich behauptend. Das Verlieren fordert geradezu heraus, den Verlust zu überbieten, denn nur so, und nicht anders, lässt er sich umkehren. Das ist Strategie, mathematisch fundiert, die sich letztlich erfüllen muss. Und er verliert alles. Als sie das letzte Ross aus dem Stall hinaus führen, dreht er sich erleichtert um – endlich aus und vorbei – geht auf den leeren Stand zu, knüpft den nun nutzlosen Strick los, macht zwei Schlingen, steigt auf den Trog, hängt die eine auf den Haken auf dem Tram, auf dem vorhin das Kummet noch hing, stülpt sich die andre über den Kopf und lässt sich fallen.

Seine Frau, die Mutter, der dreijährigen Anna, stirbt 1912, wie in Romanen gern geschrieben, aus Gram. Die nicht mittellose Verwandtschaft argwöhnt, dass das Mädchen Ansprüche erheben könnte und so schieben sie sie herum. Bis eben die Tante die Vollwaise zu sich nach Pressburg einlädt. Dort lernt die Achtzehnjährige Eduard Lieber, von Beruf Schlosser, kennen und sie heiraten 1928. Dessen Vater, ein eingewanderter Müllerssohn aus Deutschland hatte eine Ungarin geheiratet. 1929 wird ein Mädchen geboren, auf den Namen Josefa getauft, sie hat so eine Ungarisch sprechende Großmutter.

Anna, von der Verwandtschaft herumgestoßen, psychisch beeinträchtigt, kokettierte immer wieder um Zuwendung und Aufmerksamkeit und erwartet von ihrem Mann, die Zudringlichen zurecht zu weisen. Schon im Volksschulalter durchschaute das Mädchen Josefa das Spiel, das die Mutter treibt und nimmt Partei für den Vater. Und das bleibt auch so.

 

 

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