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Karl Drechsler

 

Aus dem Erzgebirge nach New York, Moskau und Peking. Ernstes, Heiteres und Kurioses aus dem Leben eines Historikers oder Wie meines Karriere als Geheimagent endete, bevor sie begann

 

2011, trafo Literaturverlag, [= Autobiographien, Band 42], 112 S., zahlr. Fotos und Abb., ISBN 978-3-86465-003-1, 11,80 EUR

 

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Das, was den Leser erwartet, sind keine Memoiren. Es ist keine Autobiografie, mit der sich der Verfasser ein Denkmal errichten möchte. Geboten wird auch keine kritische Auseinandersetzung mit den Errungenschaften und Wirren der Zeit.
Worauf man sich freuen kann, sind Episoden, Anekdoten und kleine Geschichten. Oder, wie es im Untertitel heißt: „Ernstes, Heiteres und Kurioses aus dem Leben eines Historikers.“
Wobei aus dramaturgischen und den Verkauf fördernden Überlegungen der durchaus gewollte Eindruck erweckt wird, als habe den Autor tatsächlich ab und an der Mantel der Geschichte gestreift.

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7


Wie ich ...

... das Licht der Welt im Erzgebirge erblickte 9

... ein Schülerkonzert dirigierte 14

... mich im Hotel „Am Schlachthof“ in Dresden verlobte und was daraus wurde 19

...erfuhr, dass ich ein Nachfahre des Rechenmeisters Adam Ries bin 24

... erleben durfte, dass mein Vater 102 Jahre und fünf Monate alt wurde 31

... als Ehrengast in einem Moskauer Nobelrestaurant dinierte 45

... meine Karriere als Geheimagent beendete, bevor sie begonnen hatte 52

... den Humor amerikanischer Politiker kennen lernte 59

... in das Räderwerk der europäischen Politik greifen sollte 65

... eine Million Menschen auf einem Platz sah 71

... mich als Historiker besonders für die Antihitlerkoalition interessierte 78

... John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow zusammenbrachte 85

... half, den Verein „Windrose“ zu gründen 93

... eine Urgroßmutter heiratete 102

und

Wie ich Karl Drechsler zum Urgroßvater machte 105
von Edith Drechsler

Verzeichnis der Veröffentlichungen des Autors (Auswahl) 111

 

Leseprobe

Wie ich das Licht der Welt
im Erzgebirge erblickte
Ich muss gestehen, dass meine Erinnerungen an dieses – für mich – existentielle und historische Ereignis ziemlich vage sind. Was ich noch weiß bzw. zu wissen glaube ist: Es passierte in Annaberg im Erzgebirge, in einer Stadt, die 14 Jahre später mit dem kleineren Nachbarort Buchholz vereinigt wurde: Alte Rivalitäten blieben, neue kamen hinzu. Die Annaberger wollten über lange Zeit hinweg die Besseren sein und dominieren. Ein Ausdruck für ihre Arroganz ist der bis heute immer noch kursierende Satz: Das Schönste an Buchholz ist der Blick auf Annaberg. Die innere Einheit ist so immer noch nicht vollendet. Seit der Fusion heißt die Stadt Annaberg-Buchholz. Unter diesem Namen ist sie heute weltbekannt. Die Straße, in der mein Geburtshaus steht, hieß und heißt Königswalder Straße. Sie führt allerdings nicht, wie man annehmen müsste, in das benachbarte Königswalde, sondern ist eine Sackgasse. Die eventuelle symbolische Bedeutung dieses Faktums hätte mich ein Leben lang psychisch belasten können. Glücklicherweise wusste ich damals aber noch nichts von solchem Schnickschnack.
Als ich mich startklar machte, war meine Mutter zu Hause, nicht in einer Klinik, wie später üblich. Um ihr Bett wuselte kein Arzt, sondern eine Hebamme, die sich in ihrem Job sicherlich bestens auskannte. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, lief das Ganze ziemlich reibungslos ab. Ich hatte von Anfang an eine kräftige Stimme, die ich, vor allem nachts, gewissenhaft und mit Ausdauer trainierte. Mein Vater konnte selbst im Alter von 100 Jahren immer noch nicht emotionslos über diese meine früh-kindlichen Exerzitien sprechen. Ansonsten soll ich aber ein sehr angenehmes und aufgewecktes, intelligentes und freundliches Kind gewesen sein, wie man mir später berichtete. Vielleicht wollte man mir aber auch nur nicht weh tun und hat deshalb diesen meinen ersten Lebensabschnitt etwas geschönt. So etwas soll, wie verlautet, in Memoiren nicht selten sein.
Das Erzgebirge, meine Heimatregion, trat ziemlich spät in die Weltgeschichte ein. Die frühen Hochkulturen am Nil, am Euphrat und Tigris, am Yangtse und Ganges waren längs untergegangen, ebenso die Weltreiche der Ägypter, Assyrer und Babylonier, der Perser und Römer. Man schrieb des 12./13. Jahrhundert nach Christus, als in dieser Gegend erstmals Silbererz gefunden wurde. Sie zeichnete sich ansonsten aus durch dunkle, undurchdringliche Wälder, besiedelt von Bären und Wölfen, sowie durch eiskalte Winter. Das Leben war alles andere als leicht. Trotzdem kam es zu ersten Ansiedlungen im Raum des späteren Freiberg. Meine Geburtsstadt Annaberg – zunächst Neustadt am Schreckenberg – wurde 1496, vier Jahre nach der Entdeckung Amerikas, von dem sächsischen Herzog Georg dem Bärtigen gegründet. Reiche Funde an Silbererz lockten Menschen aus ganz Europa an: Arbeit-Suchende und Arbeitsscheue, Bergbau-Kundige und -Unkundige, Glücksritter, Erfolgreiche und gescheiterte Existenzen, Investoren und andere Abenteurer. Die Situation lässt sich zum Teil mit der des kalifornischen Goldgräber-Rausches in den 1840ern vergleichen. Aber eben nur zum Teil. Bald zogen Disziplin und Ordnung ein. Binnen weniger Jahre wurde eine für damalige Verhältnisse moderne Stadt aus dem felsigen Boden gestampft. An Einwohnerzahl und Reichtum übertraf sie nach kurzer Zeit Dresden und Leipzig. Doch: Nach wenigen Jahrzehnten wurde kaum noch Silbererz gefunden, der Reichtum wich einer zunehmenden Armut. Dagegen wehrten sich die Menschen. Und so ist es wohl kein Zufall, dass ein Erzgebirgler als regionaler Held Ruhm und Ehre erlangte: mein Namensvetter Karl, Karl Stülpner, „dr Stülpner Koar“, ein aus dem Holz der dortigen Bergregion geschnitzter Robin Hood. Er überfiel die Reichen und gab das Geraubte den Armen. Größere Aufstände gegen Armut und Unterdrückung der auf kargem Boden hart arbeitenden, gläubigen, kurze Zeit streng katholischen, später streng lutherischen Bevölkerung sind in den Annalen allerdings nicht verzeichnet.
Ich hätte die Gene des im Erzgebirge lebenden Menschenschlags, wenn es diese denn gäbe. Alle meine Vorfahren lebten Jahrhunderte lang auf einem eng begrenzten Raum in zwei benachbarten Tälern, jedes mit seinem eigenen Bach. Die Entfernung zwischen den beiden Endpunkten Hammer-Unterwiesenthal und Cunersdorf beträgt etwa 25 Kilometer. Mein Vater war der Erste unserer Sippe, der als Lehrling einer Eisenwaren-Handlung den Sprung in die Kreisstadt, eben Annaberg, wagte. Seine zwei Söhne, von welchen ich der Erstgeborene bin, zogen nach Dresden bzw. in die Reichs-, DDR- und Bundeshauptstadt Berlin. Von dort aus reisten wir, meist aus dienstlichen Gründen, zu zahlreichen Orten unseres Erdballs, von denen unsere Vorfahren niemals auch nur den Namen gehört hatten. Von Beruf waren meine „Altvordern“ meist Waldarbeiter. Es gab auch einige Klein- und Kleinstbauern. Natürlich waren Posamentierer, ein typisch erzgebirgischer Beruf, vertreten. Wir können auch auf drei Bäcker, mehrere Maurer, Zimmerleute, Berghäuer und Tischler, einen Spitzen-Händler, einen Erbbegüterten, einen Steinmetz und sogar einen Huf- und Waffenschmied verweisen. Die Welt außerhalb ihres Lebensbereiches dürfte sie herzlich wenig interessiert haben. Mit einer Ausnahme: Mein Großvater mütterlicherseits reiste sofort nach Beginn des Ersten Weltkriegs mit einem wahrscheinlich nicht besonders komfortablen Militärtransport, aber kostenlos nach Frankreich, wo er schon nach wenigen Tagen, am 21. September 1914, fiel, – für Kaiser, Volk und Vaterland natürlich.
Als Historiker müsste ich nun wohl noch etwas zur politischen und gesellschaftlichen Situation sagen, in die ich an jenem denkwürdigen 17. Oktober 1932 hinein geboren wurde. Vorher sei aber noch darauf hingewiesen, dass der 17. Oktober schon vor und auch nach meiner Geburt mehrfach von besonderer Bedeutung war: 1813 gehörte er zu den Tagen, an denen die Völkerschlacht bei Leipzig tobte. Am 17. Oktober 1962, an meinem 30. Geburtstag, stand die Menschheit am Abgrund eines Atomkrieges zwischen den Weltmächten USA und UdSSR. Es war der fünfte Tag der Kuba-Krise. Doch zurück zum 17. Oktober 1932. Die Weimarer Republik stand kurz vor ihrem Untergang. Reichskanzler war Franz von Papen. Zweieinhalb Monate nach meiner Geburt übernahmen Adolf Hitler und seine NSDAP die Regierungsgewalt in Deutschland. Faschismus und zweiter Weltkrieg sollten die ersten 12 Jahre meines Lebens bestimmen. Zunächst verstand ich davon allerdings so gut wie nichts. Bis zum Kriegsbeginn im September 1939 hatte ich eine wirklich glückliche Kindheit.
Berichtet sei noch über zwei Ereignisse aus dem Jahr 1938, die sich mir besonders eingeprägt haben. Das eine ist persönlich-privater Art, das andere ist im Bereich der Politik angesiedelt. Zum ersten: Irgendwann im Frühjahr fragten mich meine Eltern, ob ich mir ein Brüderchen oder Schwesterchen wünsche. Da ich mir über die Konsequenzen nicht im klaren war, bejahte ich die Frage. Jetzt rieten sie mir folgendes: Wenn ich mir einen Bruder wünsche, müsse ich ein Stück Würfelzucker für den Klapperstorch auf das Fensterbrett legen. Im Fall einer Schwester sei klarer Zucker erforderlich. Da sich meine Begeisterung für Mädchen damals noch in engen Grenzen hielt, entschied ich mich für den Würfelzucker. Am Abend legte ich ein Stück an die angegebene Stelle. Es wurde vom Storch auch prompt geholt. Wenigstens war es früh nicht mehr da. Einige Wochen später, den Würfelzucker hatte ich längst vergessen, kam ich am Morgen in unsere Wohnküche. Zu meiner Verwunderung stand dort ein Bett aus unserem Schlafzimmer. Darin lag meine Mutter und hielt irgend ein Bündel im Arm. Wie mir mitgeteilt wurde, handelte es sich dabei um das Brüderchen, das der Klapperstorch als materiellen Gegenwert für den Würfelzucker in der Nacht abgeliefert hatte. Ich erinnere mich daran, mir einige Vorwürfe gemacht zu haben, weil ich geschlafen und ihn nicht bemerkt hatte. Später wuchs das Brüderchen und wurde Ingenieur, Elektroingenieur und Dr. ing. In den Betrieben Robotron und Siemens machte er dann Sachen mit Elektrizität, die in meinem Weltbild zu den großen Menschheitsrätseln, mehr zur Magie als zur Wissenschaft gehören. Ich habe nie bereut, mich für den Würfelzucker entschieden zu haben. Allerdings weiß ich nicht, ob das Storchenangebot im Fall von klarem Zucker möglicherweise auch nicht schlecht, vielleicht sogar noch attraktiver ausgefallen wäre. Es sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bis ich so weit war, meine Ansicht über den Zusammenhang von Klapperstorch und Bevölkerungsentwicklung einer gründlichen Revision zu unterziehen. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt: Die Sache mit dem Weihnachtsmann hatte ich wesentlich früher durchschaut, weil er bei seinem Besuch die Schuhe unserer Nachbarin trug.
Das zweite Ereignis des Jahres 1938 war mein erster Kontakt mit der großen Politik, ohne das mir das damals natürlich bewusst wurde. Damit der Leser die Geschichte verstehen kann, muss ich vorher etwas erklären: Am Freitagabend wurde im Erzgebirge gebadet. Das war ehernes Gesetz und galt für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Dazu wurde meist eine transportable Zinkwanne in die Küche geholt und mit Wasser gefüllt, das auf dem Ofen erhitzt worden war. Dazu gibt es eine interessante Episode aus den 1970ern. Die berühmte Sängerin und Schauspielerin Gisela May kam zu einer Lesung in den Festsaal des Dorfes Sehma, des Geburtsortes meiner Frau. Eigentlich hätte der Saal brechend voll sein müssen, denn Sehma war so etwas wie eine kulturelle Hochburg. Aber er war leer und blieb leer, denn es war Freitagabend. Kleinlaut entschuldigte sich der Verantwortliche bei der May, er habe den unverzeihlichen Fehler begangen, nicht zu berücksichtigen, dass der Freitag im Erzgebirge traditioneller Badetag und diese Tradition daselbst heilig sei. Kein Erdbeben, kein Hurrikan, keine May könnten daran etwas ändern. Das sagte er zwar nicht, meinte es aber. Doch zurück zum Jahr 1938. Eines Tages hörte ich, wie eine Nachbarin meine Mutter fragte: Badet ihr am Freitag? Ich konnte damit überhaupt nichts anfangen, denn: Tradition, siehe oben! Erst viele Jahre später wurde mir bewusst: Es waren die Tage der Münchener Konferenz, Hitler drohte damit, die Tschechoslowakei mit militärischer Gewalt zu erobern. Und wir wohnten nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Die Frage der Nachbarin lautete also im Klartext: Badet ihr am Freitag oder verzichtet ihr darauf, um nicht in der Badewanne vom Krieg überrascht zu werden? Um einer möglichen Frage zuvorzukommen: Es wurde gebadet, die Tradition war stärker als die Angst vor dem Krieg. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben damit konfrontiert worden, wie das Handeln der Mächtigen in das Leben der einfachen Menschen, selbst in ihre Badegewohnheiten, eingreift. Verstanden habe ich es allerdings erst später.


 

 

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