Das, was den Leser erwartet,
sind keine Memoiren. Es ist keine Autobiografie, mit der sich der Verfasser
ein Denkmal errichten möchte. Geboten wird auch keine kritische
Auseinandersetzung mit den Errungenschaften und Wirren der Zeit.
Worauf man sich freuen kann, sind Episoden, Anekdoten und kleine
Geschichten. Oder, wie es im Untertitel heißt: „Ernstes, Heiteres und
Kurioses aus dem Leben eines Historikers.“
Wobei aus dramaturgischen und den Verkauf fördernden Überlegungen der
durchaus gewollte Eindruck erweckt wird, als habe den Autor tatsächlich ab
und an der Mantel der Geschichte gestreift.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
Wie ich ...
... das Licht der Welt im Erzgebirge erblickte 9
... ein Schülerkonzert dirigierte 14
... mich im Hotel „Am Schlachthof“ in Dresden verlobte und was daraus wurde
19
...erfuhr, dass ich ein Nachfahre des Rechenmeisters Adam Ries bin 24
... erleben durfte, dass mein Vater 102 Jahre und fünf Monate alt wurde 31
... als Ehrengast in einem Moskauer Nobelrestaurant dinierte 45
... meine Karriere als Geheimagent beendete, bevor sie begonnen hatte 52
... den Humor amerikanischer Politiker kennen lernte 59
... in das Räderwerk der europäischen Politik greifen sollte 65
... eine Million Menschen auf einem Platz sah 71
... mich als Historiker besonders für die Antihitlerkoalition interessierte
78
... John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow zusammenbrachte 85
... half, den Verein „Windrose“
zu gründen 93
... eine Urgroßmutter heiratete 102
und
Wie ich Karl Drechsler zum Urgroßvater machte 105
von Edith Drechsler
Verzeichnis der Veröffentlichungen des Autors (Auswahl) 111
Leseprobe
Wie ich das Licht der Welt
im Erzgebirge erblickte
Ich muss gestehen, dass meine Erinnerungen an dieses – für mich –
existentielle und historische Ereignis ziemlich vage sind. Was ich noch weiß
bzw. zu wissen glaube ist: Es passierte in Annaberg im Erzgebirge, in einer
Stadt, die 14 Jahre später mit dem kleineren Nachbarort Buchholz vereinigt
wurde: Alte Rivalitäten blieben, neue kamen hinzu. Die Annaberger wollten
über lange Zeit hinweg die Besseren sein und dominieren. Ein Ausdruck für
ihre Arroganz ist der bis heute immer noch kursierende Satz: Das Schönste an
Buchholz ist der Blick auf Annaberg. Die innere Einheit ist so immer noch
nicht vollendet. Seit der Fusion heißt die Stadt Annaberg-Buchholz. Unter
diesem Namen ist sie heute weltbekannt. Die Straße, in der mein Geburtshaus
steht, hieß und heißt Königswalder Straße. Sie führt allerdings nicht, wie
man annehmen müsste, in das benachbarte Königswalde, sondern ist eine
Sackgasse. Die eventuelle symbolische Bedeutung dieses Faktums hätte mich
ein Leben lang psychisch belasten können. Glücklicherweise wusste ich damals
aber noch nichts von solchem Schnickschnack.
Als ich mich startklar machte, war meine Mutter zu Hause, nicht in einer
Klinik, wie später üblich. Um ihr Bett wuselte kein Arzt, sondern eine
Hebamme, die sich in ihrem Job sicherlich bestens auskannte. Wenn mich meine
Erinnerung nicht trügt, lief das Ganze ziemlich reibungslos ab. Ich hatte
von Anfang an eine kräftige Stimme, die ich, vor allem nachts, gewissenhaft
und mit Ausdauer trainierte. Mein Vater konnte selbst im Alter von 100
Jahren immer noch nicht emotionslos über diese meine früh-kindlichen
Exerzitien sprechen. Ansonsten soll ich aber ein sehr angenehmes und
aufgewecktes, intelligentes und freundliches Kind gewesen sein, wie man mir
später berichtete. Vielleicht wollte man mir aber auch nur nicht weh tun und
hat deshalb diesen meinen ersten Lebensabschnitt etwas geschönt. So etwas
soll, wie verlautet, in Memoiren nicht selten sein.
Das Erzgebirge, meine Heimatregion, trat ziemlich spät in die Weltgeschichte
ein. Die frühen Hochkulturen am Nil, am Euphrat und Tigris, am Yangtse und
Ganges waren längs untergegangen, ebenso die Weltreiche der Ägypter, Assyrer
und Babylonier, der Perser und Römer. Man schrieb des 12./13. Jahrhundert
nach Christus, als in dieser Gegend erstmals Silbererz gefunden wurde. Sie
zeichnete sich ansonsten aus durch dunkle, undurchdringliche Wälder,
besiedelt von Bären und Wölfen, sowie durch eiskalte Winter. Das Leben war
alles andere als leicht. Trotzdem kam es zu ersten Ansiedlungen im Raum des
späteren Freiberg. Meine Geburtsstadt Annaberg – zunächst Neustadt am
Schreckenberg – wurde 1496, vier Jahre nach der Entdeckung Amerikas, von dem
sächsischen Herzog Georg dem Bärtigen gegründet. Reiche Funde an Silbererz
lockten Menschen aus ganz Europa an: Arbeit-Suchende und Arbeitsscheue,
Bergbau-Kundige und -Unkundige, Glücksritter, Erfolgreiche und gescheiterte
Existenzen, Investoren und andere Abenteurer. Die Situation lässt sich zum
Teil mit der des kalifornischen Goldgräber-Rausches in den 1840ern
vergleichen. Aber eben nur zum Teil. Bald zogen Disziplin und Ordnung ein.
Binnen weniger Jahre wurde eine für damalige Verhältnisse moderne Stadt aus
dem felsigen Boden gestampft. An Einwohnerzahl und Reichtum übertraf sie
nach kurzer Zeit Dresden und Leipzig. Doch: Nach wenigen Jahrzehnten wurde
kaum noch Silbererz gefunden, der Reichtum wich einer zunehmenden Armut.
Dagegen wehrten sich die Menschen. Und so ist es wohl kein Zufall, dass ein
Erzgebirgler als regionaler Held Ruhm und Ehre erlangte: mein Namensvetter
Karl, Karl Stülpner, „dr Stülpner Koar“, ein aus dem Holz der dortigen
Bergregion geschnitzter Robin Hood. Er überfiel die Reichen und gab das
Geraubte den Armen. Größere Aufstände gegen Armut und Unterdrückung der auf
kargem Boden hart arbeitenden, gläubigen, kurze Zeit streng katholischen,
später streng lutherischen Bevölkerung sind in den Annalen allerdings nicht
verzeichnet.
Ich hätte die Gene des im Erzgebirge lebenden Menschenschlags, wenn es diese
denn gäbe. Alle meine Vorfahren lebten Jahrhunderte lang auf einem eng
begrenzten Raum in zwei benachbarten Tälern, jedes mit seinem eigenen Bach.
Die Entfernung zwischen den beiden Endpunkten Hammer-Unterwiesenthal und
Cunersdorf beträgt etwa 25 Kilometer. Mein Vater war der Erste unserer
Sippe, der als Lehrling einer Eisenwaren-Handlung den Sprung in die
Kreisstadt, eben Annaberg, wagte. Seine zwei Söhne, von welchen ich der
Erstgeborene bin, zogen nach Dresden bzw. in die Reichs-, DDR- und
Bundeshauptstadt Berlin. Von dort aus reisten wir, meist aus dienstlichen
Gründen, zu zahlreichen Orten unseres Erdballs, von denen unsere Vorfahren
niemals auch nur den Namen gehört hatten. Von Beruf waren meine „Altvordern“
meist Waldarbeiter. Es gab auch einige Klein- und Kleinstbauern. Natürlich
waren Posamentierer, ein typisch erzgebirgischer Beruf, vertreten. Wir
können auch auf drei Bäcker, mehrere Maurer, Zimmerleute, Berghäuer und
Tischler, einen Spitzen-Händler, einen Erbbegüterten, einen Steinmetz und
sogar einen Huf- und Waffenschmied verweisen. Die Welt außerhalb ihres
Lebensbereiches dürfte sie herzlich wenig interessiert haben. Mit einer
Ausnahme: Mein Großvater mütterlicherseits reiste sofort nach Beginn des
Ersten Weltkriegs mit einem wahrscheinlich nicht besonders komfortablen
Militärtransport, aber kostenlos nach Frankreich, wo er schon nach wenigen
Tagen, am 21. September 1914, fiel, – für Kaiser, Volk und Vaterland
natürlich.
Als Historiker müsste ich nun wohl noch etwas zur politischen und
gesellschaftlichen Situation sagen, in die ich an jenem denkwürdigen 17.
Oktober 1932 hinein geboren wurde. Vorher sei aber noch darauf hingewiesen,
dass der 17. Oktober schon vor und auch nach meiner Geburt mehrfach von
besonderer Bedeutung war: 1813 gehörte er zu den Tagen, an denen die
Völkerschlacht bei Leipzig tobte. Am 17. Oktober 1962, an meinem 30.
Geburtstag, stand die Menschheit am Abgrund eines Atomkrieges zwischen den
Weltmächten USA und UdSSR. Es war der fünfte Tag der Kuba-Krise. Doch zurück
zum 17. Oktober 1932. Die Weimarer Republik stand kurz vor ihrem Untergang.
Reichskanzler war Franz von Papen. Zweieinhalb Monate nach meiner Geburt
übernahmen Adolf Hitler und seine NSDAP die Regierungsgewalt in Deutschland.
Faschismus und zweiter Weltkrieg sollten die ersten 12 Jahre meines Lebens
bestimmen. Zunächst verstand ich davon allerdings so gut wie nichts. Bis zum
Kriegsbeginn im September 1939 hatte ich eine wirklich glückliche Kindheit.
Berichtet sei noch über zwei Ereignisse aus dem Jahr 1938, die sich mir
besonders eingeprägt haben. Das eine ist persönlich-privater Art, das andere
ist im Bereich der Politik angesiedelt. Zum ersten: Irgendwann im Frühjahr
fragten mich meine Eltern, ob ich mir ein Brüderchen oder Schwesterchen
wünsche. Da ich mir über die Konsequenzen nicht im klaren war, bejahte ich
die Frage. Jetzt rieten sie mir folgendes: Wenn ich mir einen Bruder
wünsche, müsse ich ein Stück Würfelzucker für den Klapperstorch auf das
Fensterbrett legen. Im Fall einer Schwester sei klarer Zucker erforderlich.
Da sich meine Begeisterung für Mädchen damals noch in engen Grenzen hielt,
entschied ich mich für den Würfelzucker. Am Abend legte ich ein Stück an die
angegebene Stelle. Es wurde vom Storch auch prompt geholt. Wenigstens war es
früh nicht mehr da. Einige Wochen später, den Würfelzucker hatte ich längst
vergessen, kam ich am Morgen in unsere Wohnküche. Zu meiner Verwunderung
stand dort ein Bett aus unserem Schlafzimmer. Darin lag meine Mutter und
hielt irgend ein Bündel im Arm. Wie mir mitgeteilt wurde, handelte es sich
dabei um das Brüderchen, das der Klapperstorch als materiellen Gegenwert für
den Würfelzucker in der Nacht abgeliefert hatte. Ich erinnere mich daran,
mir einige Vorwürfe gemacht zu haben, weil ich geschlafen und ihn nicht
bemerkt hatte. Später wuchs das Brüderchen und wurde Ingenieur,
Elektroingenieur und Dr. ing. In den Betrieben Robotron und Siemens machte
er dann Sachen mit Elektrizität, die in meinem Weltbild zu den großen
Menschheitsrätseln, mehr zur Magie als zur Wissenschaft gehören. Ich habe
nie bereut, mich für den Würfelzucker entschieden zu haben. Allerdings weiß
ich nicht, ob das Storchenangebot im Fall von klarem Zucker möglicherweise
auch nicht schlecht, vielleicht sogar noch attraktiver ausgefallen wäre. Es
sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bis ich so weit war, meine Ansicht
über den Zusammenhang von Klapperstorch und Bevölkerungsentwicklung einer
gründlichen Revision zu unterziehen. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt: Die
Sache mit dem Weihnachtsmann hatte ich wesentlich früher durchschaut, weil
er bei seinem Besuch die Schuhe unserer Nachbarin trug.
Das zweite Ereignis des Jahres 1938 war mein erster Kontakt mit der großen
Politik, ohne das mir das damals natürlich bewusst wurde. Damit der Leser
die Geschichte verstehen kann, muss ich vorher etwas erklären: Am
Freitagabend wurde im Erzgebirge gebadet. Das war ehernes Gesetz und galt
für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Dazu wurde meist eine
transportable Zinkwanne in die Küche geholt und mit Wasser gefüllt, das auf
dem Ofen erhitzt worden war. Dazu gibt es eine interessante Episode aus den
1970ern. Die berühmte Sängerin und Schauspielerin Gisela May kam zu einer
Lesung in den Festsaal des Dorfes Sehma, des Geburtsortes meiner Frau.
Eigentlich hätte der Saal brechend voll sein müssen, denn Sehma war so etwas
wie eine kulturelle Hochburg. Aber er war leer und blieb leer, denn es war
Freitagabend. Kleinlaut entschuldigte sich der Verantwortliche bei der May,
er habe den unverzeihlichen Fehler begangen, nicht zu berücksichtigen, dass
der Freitag im Erzgebirge traditioneller Badetag und diese Tradition
daselbst heilig sei. Kein Erdbeben, kein Hurrikan, keine May könnten daran
etwas ändern. Das sagte er zwar nicht, meinte es aber. Doch zurück zum Jahr
1938. Eines Tages hörte ich, wie eine Nachbarin meine Mutter fragte: Badet
ihr am Freitag? Ich konnte damit überhaupt nichts anfangen, denn: Tradition,
siehe oben! Erst viele Jahre später wurde mir bewusst: Es waren die Tage der
Münchener Konferenz, Hitler drohte damit, die Tschechoslowakei mit
militärischer Gewalt zu erobern. Und wir wohnten nur wenige Kilometer von
der Grenze entfernt. Die Frage der Nachbarin lautete also im Klartext: Badet
ihr am Freitag oder verzichtet ihr darauf, um nicht in der Badewanne vom
Krieg überrascht zu werden? Um einer möglichen Frage zuvorzukommen: Es wurde
gebadet, die Tradition war stärker als die Angst vor dem Krieg. Ich war zum
ersten Mal in meinem Leben damit konfrontiert worden, wie das Handeln der
Mächtigen in das Leben der einfachen Menschen, selbst in ihre
Badegewohnheiten, eingreift. Verstanden habe ich es allerdings erst später.
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