Inhaltsverzeichnis
- Gerda Haßler:
Einleitung
7
- Werner Krause und Erdmute Sommerfeld:
Ordnungsbildung und Einfachheit. 60 Jahre interdisziplinäre Forschung
am Beispiel der Elementaranalyse menschlicher Informationsverarbeitung
13
- Jonas
Schmidt-Chanasit: Entwicklung der Hochdurchsatz-Sequenzierung und
Entdeckung neuer Viren 53
- Axel Müller und
Reinhard O. Greiling: Geologie: Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und
mögliche zukünftige Themen 65
- Dietrich Spänkuch
und Heinz Kautzleben: Der Arbeitskreis Geo-, Montan-, Umwelt-, Weltraum-
und
Astrowissenschaften (GeoMUWA). Rückblick, Erfahrungen, Ausblick
73
- Ulrich Busch: Über den schwierigen Platz der
Wirtschaftswissenschaften im Allgemeinen und der Finanzwissenschaft im
Besonderen in der Leibniz-Sozietät 99
- Gerda Haßler: Wege
und Umwege zu einer pluralistischen Linguistik 137
- Dorothee Röseberg: Kulturwissenschaften -
eine Geschichte von Turns? Überlegungen zu einer kulturtheoretischen
Retrospektive 161
- Dieter Segert:
Einsichten aus der post-sozialistischen
Transformation in Osteuropa für die Demokratietheorie 193
- Hans-Christoph Rauh:
Die Leibniz-Sozietät existiert doch nicht ohne Philosophie. Versuch einer
Dokumentation von
Philosophiebezügen in ihrer 30jährigen
Geschichte 1993-2023 205
- Hubert Laitko: Die
Leibniz-Sozietät - ein Ort Wissenschaftshistorischer Besinnung.
Betrachtungen aus Anlass
der Chronik zu ihrem 30. Jahrestag
227
Verzeichnis der
Autorinnen und Autoren 245
Vorwort
Dieser Band ging aus der Jahrestagung am 19.
Oktober 2023 zum Thema "30 Jahre 30. Jahre Leibniz-Sozietät - 30 Jahre
Wissenschaftsentwicklung",
der dritten und damit letzten Veranstaltung
anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung der Leibniz-Sozietät der
Wissenschaften zu Berlin e.V., hervor.
In der ersten Veranstaltung, die unmittelbar
nach dem Jahrestag der Gründung der Sozietät am 15. April 1993 unter dem
Titel "Gründung und
Entwicklung der Leibniz-Sozietät stattfand,
hatten wir Vertreter der Gründergeneration gehört, die über ihre Motive
und Ziele, die Gelehrtengesellschaft
der Akademie der Wissenschaften fortzuführen,
berichteten. In diesem Zusammenhang wurde auch festgestellt, dass die
Geschichte der
Leibniz-Sozietät die in den letzten Jahren zu verzeichnende weltweite
Umgestaltung gesellschaftlicher Systeme widerspiegelt, deren weiterer
Verlauf und deren Auswirkungen durchaus offen
und damit gestaltbar sind.
Zum Leibniz-Tag war auch die Chronik der
Sozietät erschienen, die ein beeindruckendes Bild über die Arbeit der
Sozietät in dreißig Jahren gibt.
lm ebenfalls in Leibniz-Online 50
veröffentlichten Bericht wurde an die zugewählten Mitglieder appelliert,
häufiger zu den Veranstaltungen der Sozietät
zu kommen und in ihren Publikationsorganen zu
publizieren. Obwohl wir dic Selbstverständlichkeit, mit der die
Angehörigen der älteren Generation einmal
im Monat zu den Vorträgen kamen, wahrscheinlich
nicht mehr herstellen können, ist es doch eine wichtige Voraussetzung für
die Identifikation mit der
Sozietät, wenn man ihre Arbeit zur Kenntnis
nimmt und auch zu ihr beiträgt. In diesem Zusammenhang wurden auch die
Möglichkeiten der Wissenschaftsgeschichte erwähnt. Gerade die
Beschäftigung mit Wissenschaftsgeschichte in der Gelehrtengesellschaft
gibt auch Forschern, die nicht mehr in ihrem Labor arbeiten können, die
Möglichkeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen und vorzustellen. In
Kooperation mit Kollegen, die schon in früheren Stadien ihres Berufslebens
zu wissenschaftshistorischen Themen gearbeitet haben, können
Perspektiven entwickelt werden, die innovativ sind und auch auf aktuelle
Forschungen zurückwirken. Wissenschaftshistorische Forschungen sind
keinesfalls rückwärtsgewandt, auch wenn sie sich mit zurückliegenden
Zeitabschnitten befassen, sondern sie kontextualisieren in diesen
verwendete Methoden und erreichte Ergebnisse. Mit der Jahrestagung
"30 Jahre 30. Jahre Leibniz-Sozietät - 30 Jahre
Wissenschaftsentwicklung" wurde ein Schritt auf diesem Weg gegangen. Es
sollte um Geschichte von Wissenschaften gehen, allerdings in einem
unmittelbar zurückliegenden Zeitraum, der bis an die Gegenwart heranreicht
und den Historiker Zeitgeschichte nennen würden. Die
Referenten der Tagung waren überwiegend keine reinen
Wissenschaftshistoriker, sondern Wissenschaftler,
die sich auf die Betrachtung der Entwicklung in
den letzten drei Jahrzehnten, teilweise auch darüber hinaus, eingelassen
haben. Das ist in einer Zeit, in der es in vielen Wissenschaften
üblich geworden ist, nur Publikationen der letzten fünf Jahre ernst zu
nehmen, keinesfalls selbstverständlich. Sobald man sich als Vertreter
eines bestimmten Fachgebiets mit Wissenschaftsgeschichte befasst, trifft
man auf paradoxe Erscheinungen. Als wissenschaftshistorisches
Paradoxon kann die Tatsache bezeichnet werden, dass man wahre Aussagen zu
falschen Feststellungen über ein bestimmtes F orschungsobjekt trifft.
In früheren Zeiten angestellte Überlegungen können vom heutigen Standpunkt
der Wissenschaft falsch gewesen sein, dennoch wurden sie seinerzeit für
richtig gehalten und es obliegt uns, die Bedingungen ihres Entstehens und
vielleicht auch ihren Nutzen einzuschätzen und sie zu
kontextualisieren. Dies führt auch zur Erkenntnis von Prozessen der
Schaffung von Wissen, die für die heutige Forschung von Nutzen sein
kann.
Paradox erscheinen uns auch mitunter die
Bedingungen, unter denen geforscht und wissenschaftlich gearbeitet wurde.
Vor dreißig Jahren begannen wir, uns mit Kollegen per E-Mail
auszutauschen, was anfangs noch gar nicht selbstverständlich und
akzeptiert war. Wenn man in Berufungsverhandlungen vor dreißig]ahren
einen Scanner und entsprechende Software forderte, um größere Textmengen
in digitaler Form zur Verfügung zu haben, wurde das zwar akzeptiert,
aber als sehr merkwürdig betrachtet. Die meisten älteren Kollegen kennen
wahrscheinlich irgendwelche damals noch nicht zum Allgemeingut
gehörende Geräte oder Bedingungen, die heute selbstverständlich oder schon
wieder obsolet geworden sind. Auch die meisten
Wissenschaftsdisziplinen haben sich stark verändert, einige Methoden und
Forschungsgegenstände sind inzwischen verschwunden, andere, vor
dreißig lahren undenkbare sind hinzugekommen. Die künstliche Intelligenz
verändert gerade die Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen. Daneben
gibt es auch Kontinuitäten, die fachliche ldentitäten und persönliche
Lebensläufe prägen. Diese vielfältige, widersprüchliche, aber auch
Anlass zum Optimismus im leibnizschen Sinne gebende Entwicklung der
letzten dreißig jahre war Gegenstand der Jahrestagung.
Wissenschaftsgeschichte als Zeitgeschichte, Methodenreflexion, aber auch
persönliche Erzählungen sind mögliche Zugänge zur Betrachtung dieses
Gegenstands. Einige Kollegen fassten das Thema der Jahrestagung auch als
Aufforderung zur Berichterstattung auf. Alte Gewohnheiten wirken
weiter und natürlich müssen wir das auch akzeptieren. In den Beiträgen
werden unterschiedliche Herangehensweisen gewählt, die alle ihre
Berechtigung haben und zum Gelingen beitragen. Einige Beiträge enthalten
Einschätzungen oder auch Vorschläge, die der individuellen Sicht der
Autoren entsprechen. Selbstverständlich können wir in diesem Band nur
einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl der in der Leibniz-Sozietät
vertretenen Disziplinen vorstellen. Anhand der Themen „Ordnungsbildung“
und „Einfachheit“ zeigen Werner Krause und Erdmute Sommerfeld die
Bedingungen für die Herausbildung der Denkweise der
lnterdisziplinarität in der Psychologie und die Rolle der Leibniz-Sozietät
in diesem Zusammenhang. Jonas Schmidt-Chanasit behandelt die
Entwicklung der DNA-Sequenzierungtechnologien und ihre Rolle bei der
Entdeckung und ldentifizierung bisher unbekannter Krankheitserreger in
den letzten Jahrzehnten.
Axel Müller und Reinhard Greiling gehen von den großen Herausforderungen
an die Erkundungs- und Lagerstättengeologie durch die plötzlich extrem
steigende und beschleunigte Nachfrage nach Rohstoffen wie Lithium, Kobalt,
Nickel, Kupfer und Graphit aus und weisen auf Möglichkeiten der
interdisziplinären Kooperation mit anderen Naturwissenschaften und den
Geistes- und Sozialwissenschaften hin. Im Beitrag von Dietrich
Spänkuch und Heinz Kautzleben wird über die Entwicklung des Arbeitskreises
Geo-, Montan-, Umwelt-, Weltraum- und Astrowissenschaften und die
konzeptionellen Fortschritte der letzten Jahre im Bereich Klimaforschung
berichtet. Ulrich Busch charakterisiert die gegenwärtige Gesellschaft
als eine Wirtschaftsgesellschaft und wirft von daher das Problem der
unzureichenden Repräsentanz der Wirtschaftswissenschaftler in der
Leibniz-Sozietät auf. Im Beitrag von Gerda Haßler ging es um die
Entwicklung der Sprachwissenschaft zwischen den Polen der Introspektion
und der Empirie, zwischen Universalismus und Relativismus, Formalismus
und Funktionalismus, clie zu einem Pluralismus der Methoden und
Gegenstände der Forschung führte. Dorothée begründet die These, dass
sich Kulturtheorien und Kulturwissenschaften an den Rändern etablierter
Disziplinen mit neuen spezifischen Blickrichtungen und
Forschungsfeldern entwickelt und sich als Brücke zwischen Geistes- und
Sozialwissenschaften etabliert haben. Im Beitrag von Dieter Segert
werden Anpassungen in der Politikwissenschaft an die Hindernisse auf dem
Weg einer unaufhaltsamen Verbreitung der Demokratie und der Weg der
Theorie kritischer Demokratieforschung behandelt. Hans-Christoph Rauh
betrachtet die Behandlung philosophischer Themen in der dreißigjährigen
Geschichte der Leibniz-Sozietät vor allem anhand der Würdigung von
Philosophen und Vertretern nahestehender Disziplinen anlässlich von deren
Jubiläen. Kritisch stellt er dabei einige Lücken fest. Hubert Laitko
behandelt in seinem Beitrag zum Thema „Die Leibniz-Sozietät – ein Ort
wissenschaftshistorischer Besinnung“ die wissenschaftshistorische
Reflexion als eine der unverzichtbaren Strategien, deren Einsatz den
disziplinenübergreifenden Austausch ermöglicht oder unterstützt. Sie macht
die Differenz der kommunizierenden Disziplinen als ein Phänomen
geschichtlich entstandener Arbeitsteilungen verständlich und führt sie
damit auf gemeinsame Wurzeln zurück.
Die in diesem Band vertretenen Beiträge von Werner Krause und Erdmute
Sommerfeld, Jonas Schmidt-Chanasit, Axel Müller und Reinhard O. Greiling,
Dietrich Spänkuch und Heinz Kautzleben, Ulrich Busch, Gerda Haßler und
Dieter Segert entstanden auf der Grundlage der auf der Tagung gehaltenen
Vorträge die teilweise erweitert oder auf bestimmte Aspekte fokussiert
wurden. Sie verstehen sich als Beispiele der Darstellung von
Entwicklungen. Da vielleicht auch andere Kollegen für ihre
Wissenschaften solche Darstellungen liefern können und wollen, erging der
Aufruf, sich am Band der Sitzungsberichte zu beteiligen, dem Dorothee
Röseberg und Hans-Christoph Rauh gefolgt sind. Der Band schließt mit dem
Beitrag von Hubert Laitko, der auf der jahrestagung von dem Ende
letzten jahres verstorbenen Kollegen Horst Kant verlesen und von der
Herausgeberin gemeinsam mit dem Autor bearbeitet wurde. ... Die
Frage, ob die Leibniz-Sozietät ein Traditionsverein der Akademie der
Wissenschaften sein soll oder ob sie sich als Gemeinschaft an
interdisziplinären Fragen interessierter und forschender Wissenschaftler
versteht, ist jedoch inzwischen beantwortet. Nachdem sie ihre Aufgabe,
den mit der Auflösung der Gelehrtengesellschaft der Akademie der
Wissenschaften der DDR entlassenen Mitgliedern eine wissenschaftliche
Heimat zu geben, erfüllt hat, kann ihre Zukunft nur in der Schaffung von
relevanten Forschungs- und Diskussionszusammenhängen bestehen, die für
die Mitglieder attraktiv sind und die der Verantwortung der
Wissenschaft gerecht werden.
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