Vorwort
Der vorliegende Band dokumentiert die
Mehrzahl der Beiträge zu der von der Leibniz-Sozietät am 13. Dezember 2019
an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin unter gleichem
Titel durchgeführten Tagung zur „Zukunft der Arbeit“. Neben
Herausforderungen soziotechnischer Analyse und Gestaltung gegenwärtiger
und künftiger Arbeit wird darin auch Rückschau auf frühere Entwicklungen
gehalten, die in die Gegenwart geführt haben. Um die „Humanisierung des
Arbeitslebens“ – so der Name eines von Hans Matthöfer in den 1970er Jahren
ins Leben gerufenen Programms zur Förderung industrieller Entwicklung –
ist es still geworden. Ist heute alle Arbeit human gestaltet, hat sich
dieser Anspruch als unrealistische Vision herausgestellt oder wurde er
schlicht vergessen bzw. verdrängt? Mit Macht verfolgte Ansätze,
mittels symbolischer „künstlicher Intellingenz“ und „wissensbasierter
Systeme“ eine kundenorientierte, flexibel automatisierte Wertschöpfung zu
realisieren und lebendige Arbeit daraus weitgehend zu verdrängen, haben
sich in der Folge als Illusion erwiesen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass
umso höher entwickeltes Arbeits- vermögen verlangt wird, je dynamischer
die Marktanforderungen sind und je umfangreicher und komplexer das
benötigte explizite Wissen samt seiner technischen Verkörperung ist. Nun
wird unter Schlagworten wie „Industrie 4.0“, „Internet der Dinge“ und
„cyber-physische Systeme“ erneut der Anspruch erhoben, neue Horizonte
flexibel automatisierter Wertschöpfung zu eröffnen. Technisch soll das
diesmal mittels konnektionistischer Künstlicher Intelligenz,
Maschinenlernen, Robotik, Big Data und schneller Netzkommunikation in
Verbindung mit aktuellen Entwicklungen in der Softwaretechnik erreicht
werden. Bei dieser Konzeption stellen sich erneut Fragen nach einer
menschengerechten, an der Entfaltung von Arbeitsvermögen orientierten
Gestaltung von Computersystemen in Einheit mit einer an Produktivität und
Agilität orientierten Organisationsentwicklung, Arbeits- und
Technikgestaltung. Im Spannungsfeld zwischen technisch Machbarem und
sozial Wünschenswertem bewegt sich die künftige Entwicklung zwischen einer
technikzentrierten Perspektive, die lebendiges Arbeitsvermögen weitgehend
nachzuahmen und zu ersetzen trachtet, und einer praxisorientierten
Perspektive, der zufolge sich die Gestaltung von Computersystemen und
Organisationsformen an der Entfaltung lebendigen Arbeitsvermögens
orientiert. Ist bei der ersten Perspektive der Verlust praktischer, für
den Störfall aber benötigter Handlungskompetenz zu befürchten, so zielt
die zweite Perspektive auf die menschengerechte, partizipativ-reflexive
Gestaltung von Organisationsformen, Arbeitsaufgaben, technischen
Arbeitsmitteln und ihren Interaktionsformen mit dem Fokus auf Entfaltung
praktischer Handlungskompetenz in agilen Organisationen. Dabei werden
insbesondere Fragen nach angemessener Funktionsteilung zwischen Menschen
und Automat, nach Transparenz und Nachvollziehbarkeit selbsttätiger
Abläufe sowie nach Möglichkeiten und Bedingungen menschlichen Eingriffs
vordringlich. In diesem Kontext erhält auch die Frage nach der
Methodologie der Softwareentwicklung und der ihr zugrunde liegenden
Epistemologie erneute Aktualität. Was ist aus den Ansprüchen an eine
überprüfbar an den Nutzerinnen und Nutzern orientierte, d. h. rationale
und transparente Softwareentwicklung und Systemgestaltung geworden, die
bis in die 1990er einen bedeutenden Platz in der wissenschaftlichen
Diskussion einnahmen? Seither hat sich nicht nur das Volumen der
produzierten Software wie der realisierten Anwendungssysteme vervielfacht,
sondern haben mit dem Wiederaufleben der konnektionistischen Künstlichen
Intelligenz Entwicklungsverfahren an Bedeutung gewonnen, die durch die
klassische Methodendiskussion kaum adressiert wurden. Was ist der Stand
der Auseinandersetzung mit dieser Situation, sowohl aus der Sicht der
methodischen Softwareentwicklung und Systemgestaltung als auch der
sozialwissenschaftlichen Reflexion? Gerade auch im Rückblick auf die
Anfänge der Kybernetik und die folgende Entwicklung vermeintlich
„intelligenter“ Computersysteme wird deutlich, wie sich sprachliche
Praktiken der Übertragung von Begriffen aus der artifiziellen Welt der
Maschinen auf die Seinsweise lebender Organismen und umgekehrt bis in
unsere Zeit fortsetzen. Dies wird besonders deutlich bei der fehlerhaften
Verallgemeinerung und damit undifferenzierten Verwendung der Kategorien
Information und Selbstorganisation. In der Kybernetik, der KI-Forschung
und in der Technischen Informatik ist es weithin üblich geworden, von
Informationsverarbeitung zu sprechen, obwohl in Wirklichkeit im Computer
Datenverarbeitung als rein syntaktischen Operationen mit binären Signalen
ohne Bedeutung stattfindet. Weithin üblich ist heute leider auch eine
verallgemeinerte und damit nicht genügend differenzierende Verwendung des
Begriffs der Selbstorganisation, d.h. jeder Art Aufbau geordneter
Strukturen, so etwa für die sich fernab vom thermodynamischen
Gleichgewicht ausbildenden dissipativen Strukturen, aber auch für die
Adaption der Gewichte künstlicher neuronaler Netze (KNN) sowie für
Entwicklungsprozesse in lebenden und sozialen Systemen. Dissipative
Strukturen, wie die Granulation auf der Sonnenoberfläche oder
Bénard-Zellen bilden sich ohne Informationsaustausch. Dagegen ändern KNN
und andere adaptive Systeme ihr Verhalten lediglich durch Daten von außen,
sind also nicht selbstorganisierend, wie die mit interner
Informationsentstehung und Wertbildung verbundenen Prozesse im Lebendigen
und im Sozialen. Wird nicht zwischen diesen verschiedenartigen Systemen
unterschieden, führt dies leicht zu Fehleinschätzungen ihrer wirklichen
Funktionsweise und Leistungsfähigkeit. Jetzt werden oftmals auch
soziale Tatsachen der Verständigung zwischen sprachmächtigen und
reflexiven Organismen auf maschinelles Verhalten angewandt. Derartige
Kategorienfehler verführen zur Verwechslung von Betrachtungsebenen und
verschleiern die für das Verständnis der jeweiligen Analysegegenstände
wesentlichen Unterschiede. Nur zu leicht können dadurch spezifische
Fähigkeiten autonomer, reflexiver Handlungssteuerung bei hoch entwickelten
lebenden Systemen auf Eigenschaften des Verhaltens heteronom
programmgesteuerter Automaten reduziert und zugleich umgekehrt deren
tatsächliche Leistung weit überschätzt werden. Wie sich rückblickend
aus einer Gesamtschau der Tagungsbeiträge ergibt, sind vorherrschende
durch „Industrie 4.0“ und „künstliche Intelligenz“ geschürte Hoffnungen
und Befürchtungen als übertrieben anzusehen. Bei realistischer Betrachtung
menschlicher Kreativität und Urteilskraft im Umgang mit ungewissen
Situationen einerseits und der Rechenleistung von Computersystemen im
Umgang mit dynamischen und komplexen Aufgaben der Signalverarbeitung
andererseits bleibt Arbeit auch auf lange Sicht durch das produktive
Zusammenwirken beider bestimmt. Menschengerechte und aufgabenangemessene
Gestaltung der Computersysteme wie auch die Bedingungen ihrer Aneignung
müssen daher wieder mehr ins Zentrum soziotechnischer Analyse und
Gestaltung rücken. Zugleich sind aber auch erneute Anstrengungen zu
einer Theorie der Computertechnik gefordert, deren zugrunde liegendes
Menschenbild sich vom „computational model of the mind“, von der
funkionalistischen Gleichsetzung von Verstehen und Berechnen, zu
emanzipieren vermag. Stattdessen sollte sie der Perspektive folgen, die
komplementären Fähigkeiten von lebendigen Menschen und artifiziellen
Computern, von autonom reflektierter, bedeutungsvoller Tätigkeit und
heteronom syntaktisch operierender Datenverarbeitung, kurz: von Beurteilen
und Berechnen, produktiv zu verbinden.
Berlin, im Mai 2020 Die
Herausgeber
Inhaltsverzechnis Eröffnung der Tagung „Zukunft
der Arbeit“ Rainer Zimmermann, Präsident der Leibniz-Sozietät
Grußwort der Gesellschaft für Kybernetik e.V. Gerhard E. Ortner
& Siegfried Piotrowski
Vorwort Peter Brödner und Klaus
Fuchs-Kittowski
I. Arbeit 4.0 – grundlegende
Perspektiven
Arbeit 4.0 – alte und neue
arbeitswissenschaftliche und ingenieurpsychologische Probleme
Hans-Jürgen Rothe
Metaphorische und reale Maschinen. Ein
Vorschlag zum Verständnis von und zum Umgang mit Informationstechnik
Rainer Fischbach
Produktiv- oder Destruktivkraft? Zum
aktuellen KI-Einsatz in Unternehmen Sabine Pfeiffer
II. Soziotechnische Gestaltung computer-unterstützter
Arbeit
Soziotechnische Gestaltung soziotechnischer
Systeme – Integratives Design und Engineering Christian Stary
Informationssystem-, Arbeits- und Organisationsgestaltung in
Produktion und Verkehr – das Orgware-Konzept, die Paradoxie der
Sicherheit, des Wächters, der Beherrschung großer Datenmenge Klaus
Fuchs-Kittowski
Sozio-Informatik an der Schnittstelle zwischen
Forschung, Industrie und Regionalentwicklung Alexander Boden; Marc
Gerbracht; Max Krüger; Muhamed Kudic; Thomas Ludwig; Felicitas
Offergeld; Martin Stein & Volker Wulf
Paradoxien der Ko-Aktion
von Experten und adaptiven Systemen Peter Brödner
III. Soziale Folgen von
„Digitalisierung“ und „künstlicher Intelligenz“ in der Arbeitswelt
Herausforderungen der Digitalen Transformation für die
Berufs- und Arbeitswelt Arno Rolf
Fragwürdige
Geschäftsmodelle mit Künstlicher Intelligenz Klaus Kornwachs
Diskriminiert durch Künstliche Intelligenz – Ethische Aspekte beim
Einsatz von analytischen, datengetriebenen Verfahren im Personalmanagement
Katharina Simbeck
Impressionen betrieblicher
Transformation Klaus Mertens
IV. Kybernetik – im Gedenken an
Herrmann Schmidt
Kybernetik, Automatisierung und
Autonomisierung – zu einem Imperativ der Automation Werner Kriesel
& Ulrich Hofmann
Organisation als Teilgebiet der Kybernetik
Siegfried Piotrowski
Rechtskybernetik als
Gründungsdisziplin der Rechtsinformatik Hansjürgen Garstka
Der Mensch im Regelkreis. Zum komplizierten Verhältnis von Humanismus
und Technik Kevin Liggieri
Metatechnik: Max Bense und
Hermann Schmidt H. Michael Schmidt
V. Normale Katastrophen riskanter
Technik
Effective Social Control of Technological Systems:
Viewing Titanic and Boeing through the Orgware Paradigm Vincent
Brannigan
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