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Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 139/140 (2019)


 

Disziplinäres & Interdisziplinäres. Kolloquium zu Ehren von Lutz-Günther Fleischer, Herbert Hörz, Hans-Jürgen Treder & Siegfried Wollgast



Hrsg. v. Gerhard Banse & Horst Kant

 

 

lieferbar

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[= Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 139/140], 2019, 300 S., ISBN 978-3-86464-176-3, 29,80 EUR

 

Inhaltsverzeichnis

 

Gerhard Banse, Horst Kant 9

 

Vorwort

UNBESTIMMTHEIT, UNSICHERHEIT, FEHLERHAFTIGKEIT UND FEHLERTOLERANZ IN NATUR, TECHNIK UND GESELLSCHAFT –
LUTZ-GÜNTHER FLEISCHER ZUM 80. GEBURTSTAG


Eröffnung und Laudatio
Gerhard Banse 21


Der ganze, unvollkommene Mensch (und seine Technik)
Karl-Friedrich Wessel 25

Fehlerhaftigkeit in der Evolution und bei der Entstehung des Leben
Werner Ebeling, Rainer Feistel 33

Zum Verständnis der Information und der digitalen Transformation in einer vernetzten und verwundbaren Gesellschaft.
Zur Stellung und Verantwortung des Menschen in riskanten informationstechnologischen Systemen
Klaus Fuchs-Kittowski 41

Die perfekte Imperfektion des Faktischen. Gedanken zum intelligenten Umgang mit der Kompliziertheit und Komplexität – Dankesworte und Schlussbemerkungen
Lutz-Günther Fleischer 63

 

IN MEMORIAM SIEGFRIED WOLLGAST (27.09.1933–26.06.2017)

In memoriam Siegfried Wollgast. Begrüßung und Einführung
Herbert Hörz 101


Siegfried Wollgast als Philosophiehistoriker
Berthold Heinecke 105

Der „Oberlausitzer“ Siegfried Wollgast und die deutsche und europäische Frühaufklärung
Armin Jähne 117

Siegfried Wollgast und das „Phänomen“ Technik: Eine (kurze) Retrospektive
Gerhard Banse 127

Vernunft und Glaube: Denkanstöße von Siegfried Wollgast
Hartmut Hecht 139

Krauses „Naturrecht für die ganze Welt“. Zur Erinnerung an Siegfried Wollgast
Hermann Klenner 153

 

KOSMOLOGIE UND ZEITMAß – ANLÄSSLICH DES 90. GEBURTSTAGES VON HANS-JÜRGEN TREDER (04.09.1928–18.11.2006)

Erinnerung an Otto Hahn und Lise Meitner anlässlich ihres 50. Todestages in diesem Jahr 
Horst Kant 163

Biographischer Abriss und Hans-Jürgen Treder als Physikhistoriker 
Horst Kant 173

Eigenzeit und Weltalter
Dierck-Ekkehard Liebscher 185

Gedanken zu einem Bildband über Hans-Jürgen Treder
Klaus Mauersberger 201

Begegnungen mit Hans-Jürgen Treder. Persönliche Erinnerungen
Hannelore Bernhardt 211

Mehr als nur eine physikphilosophische/naturdialektische Episode. Warum der junge Physik-Philosophie-Student Hans-Jürgen Treder 
mit seiner unmittelbar nachkriegszeitlichen „naturphilosophischen“ Aspirantur/Promotion scheitern musste
Hans-Christoph Rauh 215

 

PHILOSOPHIE UND NATURWISSENSCHAFTEN – HERBERT HÖRZ ZUM 85. GEBURTSTAG

Eröffnung und Laudatio
Gerhard Banse 237

Die radikale Lösung: Von der Gelehrtensozietät zur Leibniz-Sozietät
Horst Klinkmann, Herbert Wöltge 241

Heuristik im aktuellen Meinungsstreit. Befindet sich die Forschung am CERN in einer Sackgasse?
Dieter B. Herrmann 255

Verantwortung aus Wissen: Wissenschaft und Weltraumrüstung
Nina Hager 263

Wozu Dialektik?
Rainer Schimming 275

Leukipp und der Zufall
Lothar Kolditz 283

Naturerkenntnis und Gesellschaftsgestaltung
Herbert Hörz 291

 

Schlussbemerkungen

Autorinnen und Autoren 299

 

  

Vorwort

Gerhard Banse, Horst Kant

Der vorliegende Doppelband der „Sitzungsberichte“ vereinigt mit dem Thema „Disziplinäres und Interdisziplinäres – Historisches und Systematisches“ Beiträge, die mit folgenden vier Veranstaltungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften in Beziehung stehen, d.h. auf gehaltene Vorträge zurückgehen oder durch sie angeregt wurden: – am 11. Oktober 2018: Unbestimmtheit, Unsicherheit, Fehlerhaftigkeit und Fehlertoleranz in Natur, Technik und Gesellschaft – Ehrenkolloquium für Lutz-Günther Fleischer zum 80. Geburtstag,1 – am 09. November 2018: Kolloquium „In memoriam Siegfried Wollgast (1933–2017)“,2 – am 09. November 2018: Zeitmaß und Kosmologie – Kolloquium anlässlich des 90. Geburtstages von Hans-Jürgen Treder (1928–2006),3 und – am 29. November 2018: Philosophie und Naturwissenschaften – Ehrenkolloquium für Herbert Hörz anlässlich seines 85. Geburtstages.4

Lutz-Günther Fleischer kann auf vier erfüllte Jahrzehnte akademischer Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, der Humboldt- Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin mit einer bemerkenswerten Weite seiner Lehr- und Forschungsgebiete zurückblicken, die – theoria cum praxi! – von der Thermodynamik irreversibler Prozesse bis zur industrienahen Verfahrenstechnik, Biotechnologie und Technikfolgenabschätzung reicht. Bis zu seiner Emeritierung 2006 leitete er den Fachbereich Lebensmittelverfahrenstechnik sowie das traditionsreiche Berliner Zuckerinstitut und war Dekan der Fakultät für Prozesswissenschaften der TU Berlin.

Gerhard Banse betont in seiner Laudatio, dass sich die Forschungen des Geehrten mit ihrer naturwissenschaftlichen Durchdringung, praktischen Nutzung und gesellschaftlichen Bewertung durch eine ausgeprägte Komplexität und Interdisziplinarität auszeichnen. Zudem war und ist ihm die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse ein besonderes Anliegen, das er unter anderem im Präsidium der URANIA (1975–1990), zuletzt als 1. Vizepräsident, und im Kollegium der Leibniz-Sozietät (seit 2004) mit einer Vielzahl von Veranstaltungen und Veröffentlichungen verfolgte. Die Gelehrtengesellschaft danke ihm insbesondere für sein unermüdliches, umsichtiges und erfolgreiches Wirken als Sekretar der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften und Mitglied des Präsidiums seit 2012.

Gemäß der im Rahmenthema genannten Wirkungsbereiche folgen drei Beiträge, jeweils durch einen Philosophen, einen Naturwissenschaftler und einen Informatiker.

Der Wissenschaftsphilosoph Karl-Friedrich Wessel stellt in seinem Beitrag Der ganze, unvollkommene Mensch (und seine Technik) das „einfache Bild“ von den zwei Kulturen, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und das „Auseinanderdriften beider Rationalitäten“ infrage und sucht nach Begriffen, die der Vielschichtigkeit unseres Denkens gerecht werden. Worte wie „Unbestimmtheit“, „Unsicherheit“ oder „Fehlerhaftigkeit“ seien dafür weniger geeignet als der Begriff „Unvollkommenheit“, der nicht nach Wahrheit, Genauigkeit oder Messbarkeit frage, sondern die Welt des Denkens offen halte. Wessel veranschaulicht das am Beispiel der Theorie der Selbstorganisation mit ihren erstaunlichen Grenzüberschreitungen. Die Unvollkommenheit sei auch ein Kennzeichen bestimmter, wissenschaftsimmanenter „ästhetischer Fehler“, die der Unbestimmtheit und Unsicherheit des Augenblicks geschuldet und von beliebigen Fehlern zu unterscheiden sind. Sie sind das unvermeidbare Resultat des Strebens nach Erkenntnis und Ausdruck der Ästhetik menschlichen Handelns. Die Quintessenz des Beitrages lautet: „Die Schönheit der Wahrheit liegt in ihrer Unvollkommenheit.“

Mit Fehlern befasst sich auch der Physiker Werner Ebeling im gemeinsam mit Rainer Feistel verfassten Beitrag Die Rolle von Fehlern in der Evolution bei der Entstehung des Neuen, des Lebens und der Informationsverarbeitung. Fehler sind – so ihre Definition – kleine, asymmetrische Abweichungen zwischen Trägern symbolischer Information. Der Fehler-Begriff ist aber anthropomorph und tauge nicht für Naturprozesse, die vielmehr Schwankungen unterliegen. Solche stochastischen Variationen bildeten die Voraussetzung für die Entstehung und Evolution des Lebens, was an komplexen, emergenten Vorgängen wie der Selbstorganisation von Biopolymeren und der biologischen Informationsübertragung näher erläutert wird. Ebeling und Feistel wenden sich dann zentralen Konzepten der Thermodynamik zu und kennzeichnen die Entropie als eine universelle Größe. Mit jedem Informationsaustausch ist ein Fluss von Entropie verbunden, der mithin in fast allen Prozessen in Natur, Technik und Gesellschaft eine Schlüsselrolle spielt.

Der Wissenschaftsphilosoph und Informatiker Klaus Fuchs-Kittowski wendet sich in seinem Beitrag über das Verständnis der Information und der digitalen Transformation in einer vernetzten und verwundbaren Gesellschaft der Stellung und Verantwortung des Menschen in riskanten informationstechnologischen Systemen zu. Er führt vor Augen, dass die Automation als sozialer Prozess unvermeidlich mit inhärenten Unbestimmtheiten, Unsicherheiten und Ungewissheiten einhergehe und auch nicht-intendierte Folgen habe. Um die Potenzen und Grenzen der automatisierten Informationsverarbeitung zu verdeutlichen, setzt sich Fuchs-Kittowski in einem theoretischen Exkurs eingehender mit dem Informationsbegriff auseinander und unterscheidet drei Informationskonzepte: ein strukturelles (mathematisches), ein funktionelles (modelltheoretisches) und ein evolutionäres Verständnis der Information. Zur Gewährleistung größerer Sicherheit wird heute immer mehr Automatisierungstechnik in gesellschaftliche Arbeits- und Lebensprozesse einbezogen. Es entstehen hochkomplexe informationstechnologische Systeme, die aber – so die Erfahrung aus bitteren Reaktor-, Flugzeug- oder Schiffsunglücken – die menschliche Gesellschaft nicht nur sicherer, sondern zugleich auch verwundbarer machen. Das Fazit heißt: In hochkomplexen informationstechnologischen Systemen muss der Mensch in der Verantwortung sein und bleiben!

In seinen Schlussbemerkungen Die perfekte Imperfektion des Faktischen – Gedanken zum intelligenten Umgang mit der Kompliziertheit und Komplexität dankt Lutz-Günter Fleischer den Vortragenden und stellt zugleich die Grundgedanken, die er selbst für dieses Kolloquium im Vorfeld den Referenten in einem Arbeitspapier unter dem Titel Unbestimmtheit, Unsicherheit, Fehlerhaftigkeit und Fehlertoleranz in Natur, Technik und Gesellschaft: Die Phänomene, deren Wirkungen, Erfassung/Bestimmung, realistische Kennzeichnung und effektive Beherrschung mit auf den Weg gegeben hatte, noch einmal ausführlich dar. Ausgangspunkt sind dabei Überlegungen zu Wesen und Konzepten von Entropie und Information – modifizierte entropische und informationelle Konzepte als verallgemeinerungsfähige Denk- und Werkzeuge. Das führt Fleischer letztlich – unter Reflexion der Ausführun12 Gerhard Banse, Horst Kant gen seiner Vorredner – zu der schon von Manfred Eigen vertretenen These, dass jegliches explizite und implizite menschliche Verhalten einer gewissen Fehlerhaftigkeit unterliegt. Neues in physikalischen, chemischen oder biotischen ebenso wie in kulturellen und technologischen Systemen weise als Mitgift einen kleinen „Makel“ (einen „Eigenschen Fehler“) auf, um sich gerieren und entfalten zu können – man spricht von perfekten Imperfektionen. Dazu erläutert Fleischer abschließend verschiedene Beispiele aus den Bereichen Ästhetik, Physikalisch-Technisches (hier: Kristallografie), Biotik sowie der physikalisch-mathematischen Modellierung.

 

***

 

Der Ehrenpräsident der Leibniz-Sozietät, Herbert Hörz, würdigt Siegfried Wollgast in seiner Eröffnung als langjährigen Freund und Kollegen, als Kooperationspartner, als ausgewiesenen Philosophiehistoriker sowie als unermüdlichen Akteur in der Leibniz-Sozietät, vor allem im Arbeitskreis Toleranz. Wollgast war im Jahr 1995 zum Mitglied der Leibniz-Sozietät gewählt worden und am 26. Juni 2017 verstorben.

Mit den nachfolgenden Beiträgen werden je unterschiedliche Facetten des umfangreichen Wirkens von Wollgast nochmals deutlich gemacht, denn die Breite seines Wirkens ist beeindruckend.

Für Berthold Heinecke, der im Jahre 1990 bei Wollgast in Dresden promoviert hat, ist es ein zufälliges Zusammentreffen, dass dreißig Jahre nach der Veröffentlichung der „Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung, 1550–1650“ im damaligen Akademie-Verlag Berlin 1989 das Gedenkkolloquium für Wollgast stattfindet. Dieses Werk – 1993 in zweiter Auflage erschienen – kann nicht nur, was Anspruch und Umfang betrifft (über 1.000 Druckseiten!), sondern auch nach eigenem Zeugnis des Verfassers mit Fug und Recht als ein Lebenswerk angesehen werden. Es stellte zu seiner Zeit eine Pioniertat dar. Heinecke nimmt in seinem Beitrag Dreißig Jahre ‚Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung, 1550–1650’ dieses Werk und seine Rezeption in den Blick und leitet daraus zukünftige Aufgaben für die Geschichtsschreibung der frühneuzeitlichen Philosophie aus heutiger Perspektive ab.

Armin Jähne, Vizepräsident der Leibniz-Sozietät, geht in Der ‚Oberlausitzer‘ Siegfried Wollgast... davon aus, dass es nicht nur die deutsche und die europäische Frühaufklärung war, mit der sich Siegfried Wollgast die längste 5 Vgl. https://leibnizsozietaet.de/nekrolog-auf-unser-mitglied-prof-dr-siegfried-wollgast/# more-13073 Vorwort 13 Zeit seines Wissenschaftlerlebens beschäftigte, denn das Spektrum seiner Forschungen ginge weit darüber hinaus. Jähne erinnert beispielsweise an die vorbildlichen Studien von Wollgast zu Karl Christian Friedrich Krause, die ihn auch auf Johann Gottlieb Fichte zurückführten. Fichte – wie auch Lessing – waren in Wollgasts philosophiegeschichtlichem Gedankenkreis immer präsent. Es sei die erstaunliche Vielzahl von Frühaufklärern in der Oberlausitz, die bei Wollgast eine besondere Affinität zu dieser eigenartigen politischen Region sui generis wachsen ließ. Es war vor allem Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, zu dem er sich wissenschaftlich hingezogen fühlte. Bewundernswert sei, so der Autor, wie weit Wollgast den Bogen der ihn bewegenden Themen spannte: von der Frühaufklärung über die Utopie in Vergangenheit und Gegenwart, einschließlich von „‚Realem Sozialismus’ und Utopie“, bis hin zu aktuellen Problemen von Toleranz und Intoleranz, Patriotismus und Vaterland.

Siegfried Wollgast und das ‚Phänomen‘ Technik ist das Thema des sich anschließenden Beitrags von Gerhard Banse, Präsident der Leibniz-Sozietät. Er konstatiert, dass es im vielfältigen wissenschaftlichen Wirken von Wollgast einen kurzen Zeitraum gab, in dem die ebenso erfolg- wie ergebnisreiche philosophische Beschäftigung mit dem „Phänomen“ Technik ein zentraler Gegenstand war. Inhaltlich ging es Wollgast dabei weniger um die systematische Behandlung der vielfältigen aktuellen Interdependenzen zwischen Philosophie und Technik, sondern sein Interesse galt vor allem (philosophie) historischen Zusammenhängen, galt der Geschichte dieser Interdependenzen, diese dabei nach „Mustern“ und Wiederholungen, aber auch nach Neuansätzen durcharbeitend. Im Beitrag wird ein kurzer Rückblick auf und ein ebenso kurzer Einblick in das gemeinsame Erarbeiten von „Philosophie und Technik“ aus dem Jahr 1979 gegeben.

Anschließend befasst sich Hartmut Hecht mit Vernunft und Glaube. Denkanstöße von Siegfried Wollgast. Nach Hecht habe das Verhältnis von Vernunft und Glaube Wollgast zeit seines Lebens beschäftigt und das Thema sei geeignet, sowohl seine Forschungsmethodologie als auch die Kreativität seines Denkens exemplarisch darzustellen. Die Auseinandersetzung von Wollgast mit diesem Thema war zunächst durch seinen bevorzugten Forschungsgegenstand, die Frühaufklärung in Deutschland und Polen, bestimmt. Sie erlangte dann zunehmend allgemeinere Bedeutung und führte schließlich zu Überlegungen, die den Glauben als philosophisches Problem thematisierten. Darauf geht Hecht detaillierter ein.

Hermann Klenner schließlich greift in Krauses „Naturrecht für die ganze Welt“ einen inhaltlichen Schwerpunkt im Wirken von Wollgast auf, der 14 Gerhard Banse, Horst Kant Karl Christian Friedrich Krause für einen „Philosophen mit Weltgeltung“ hielt. Für Wollgast war Krause „ein Brückenbauer zwischen Naturrecht und Utopie“, „ein Gegner der Sklavenhalter und -händler wie auch des Prunkstandes der Adligen“, „ein Gegner der durch die Gleichheit vor dem Gesetz gesicherten Ungleichheit unter dem Gesetz“, „ein Vorreiter der Sozialstaatlichkeit samt Recht auf Arbeit, Nahrung, Wohnung und Bildung“, „ein Feind jedes Chauvinismus“, jemand, „der sich zur Ebenbürtigkeit von Mann und Frau bekannte“, „ein Wegbereiter für die Erziehung von Verbrechern durch Verschaffung von Arbeitsgelegenheiten, statt einer primitiven Unterdrückung in Isolationskerkern“.

Siegfried Wollgast war – das machen alle Beiträge deutlich – ein Wissenschaftler, der akribisch aus einem enzyklopädischen Wissensfundus schöpfte und dabei stets Anreger und Ratgeber, aber auch (hilfreicher) Kritiker war. Mit dem Kolloquium wurde deutlich, dass er in seiner so vielseitigen Persönlichkeit nicht wenigen ein hilfreicher und treuer Freund geworden war.

 

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Der 90. Geburtstag unseres vor zwölf Jahren verstorbenen Mitgliedes Hans- Jürgen Treder (1928–2006) war Anlass, sein Wirken in Erinnerung zu rufen. Der nachmittägliche Teil der Plenarsitzung am 8. November 2018 stand deshalb unter dem Thema „Zeitmaß und Kosmologie“.

In Ergänzung zu diesem Thema erinnerte Horst Kant eingangs der Veranstaltung an die 50. Todestage von Otto Hahn und Lise Meitner in diesem Jahr. Hahn war 1924 zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (eine Vorgängergesellschaft der Leibniz-Sozietät) gewählt worden, Meitner erhielt im gleichen Jahre die Silberne Leibniz-Medaille dieser Akademie und wurde 1948 als erste Wissenschaftlerin Mitglied der dann Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Nach einer kurzen Würdigung ihrer Leistungen wies er auf zwei neue Veröffentlichungen hin.

Es folgt von Kant der Beitrag Biographischer Abriss und Hans-Jürgen Treder als Physikhistoriker, der nach einer knappen Übersicht über Leben und Wirken von Treder vor allem auf seine außerhalb seines Hauptwirkungsfeldes von der Allgemeinen Gravitationstheorie bis zur Kosmologie liegenden Leistungen auf dem Gebiet der Physikgeschichte eingeht. 6 Es gehört zu den wohlgeübten Gepflogenheiten der Leibniz-Sozietät, in Klassen- und Plenarsitzungen außerhalb des „offiziellen“ Sitzungsthemas in Kurzbeiträgen auf erwähnenswerte Ereignisse, die Bezug zu ihrem Wirken haben, aufmerksam zu machen.

Dierck-Ekkehard Liebscher (Potsdam) hat für seinen Beitrag das Thema Eigenzeit und Weltalter gewählt. Dabei wird versucht, das subjektive Empfinden der Zeit auszublenden und Aspekte des Begriffes Zeit aus der Sicht der Physik zu beleuchten. Der Autor handelt den Begriff Zeit in vier Unterkapiteln ab: Kalender, Uhren, Eigenzeit und universelle Zeit. Sein Fazit lautet:
– Die Zeit ist eine Struktur in der Natur, die unabhängig vom Subjekt konstruierbar ist. Das subjektive Zeiterleben ist ein Abbild dieser Struktur.
– Lokal ergibt sich das Zeitmaß aus dem Zusammenspiel (der Verzahnung) der lokal beobachtbaren Prozessbündel. Die lokalen Prozessbündel sind unabhängig von Position und Orientierung in der Raum-Zeit-Union. Diese Relativität bestimmt eine Kongruenz, die eine Geometrie der Raum-Zeit-Union präsentiert.
– Es ist eine neue Frage, ob die lokalen Zeitmaße integrabel sind, d.h. auf eine absolute Zeit führen. Die Existenz einer absoluten Geschwindigkeit verhindert diese Integrabilität.
– Im Rahmen seiner Homogenität definiert das Universum eine absolute (hier: von der Bewegung seiner Teile gegeneinander unabhängige) Zeit, deren Kalender aber nicht auf die Atomzeit festgelegt werden können.

Klaus Mauersberger (Dresden) stellt in Gedanken zu einem Bildband über Hans-Jürgen Treder den Bildband „Hans-Jürgen Treder – Ein Porträt“ der Fotografin Monika Schulz-Fieguth (Potsdam) vor. Er geht dabei vor allem auf die Entstehungsgeschichte dieses Bildbandes ein und würdigt die Besonderheiten der Darstellung.

Hannelore Bernhardt (Berlin), die eingangs des Kolloquiums noch auf einige frühere Aktivitäten und Publikationen der Leibniz-Sozietät zu Treder hingewiesen hatte, sah sich nunmehr durch das Kolloquium animiert, einige persönliche Erinnerungen an Begegnungen mit Treder zu einem kleinen Beitrag zusammenzustellen, der ebenso in diesen Band aufgenommen wurde wie ein Beitrag von Hans-Christoph Rauh (Berlin), der angeregt wurde, die Umstände und Hintergründe des Übergangs Treders vom ursprünglichen Philosophiestudium zum Physikstudium etwas näher zu beleuchten, denn es steckt wohl doch einiges Mehr als nur eine physikphilosophische/naturdialektische Episode dahinter.

 

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Zur Eröffnung des Kolloquiums „Philosophie und Naturwissenschaften“ würdigte Gerhard Banse in seiner Laudatio das wissenschaftliche Wirken von Herbert Hörz, zunächst an der Humboldt-Universität zu Berlin, dann an der Akademie der Wissenschaften der DDR und schließlich in der Leibniz- Sozietät der Wissenschaften, deren Gründung auf eine Initiative von Hörz zurückgehe. Betont wird, dass der Jubilar stets mit interessanten neuen Fragestellungen die wissenschaftliche Debatte innerhalb wie außerhalb seiner unmittelbaren Wirkungsstätten anregte und beeinflusste. Stets hat er dabei seine eigene Art und Weise der Problembestimmung und -lösung genutzt, basierend auf dem von ihm entwickelten konzeptionellen Verständnis der Funktionen der Philosophie für die Einzelwissenschaften und umgekehrt sowie dessen Präzisierung, Konkretisierung und Weiterentwicklung.

Davon gehen die nachfolgenden fünf Beiträge dann auch in je spezifischer Weise aus oder knüpfen daran an. Im gemeinsam von Horst Klinkmann und Herbert Wöltge verfassten Beitrag Die radikale Lösung. Von der Gelehrtensozietät zur Leibniz-Sozietät stehen die Wandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR im Zeitraum von etwa 1989 bis 1993 im Mittelpunkt, die letztendlich zur Gründung der Leibniz-Sozietät führten. Als Motivation dieser Beschäftigung gilt: „Nicht nur für die Leibniz-Sozietät besitzt die Kenntnis der damaligen Abläufe und Ereignissen […] einen Erinnerungswert, sie verdienen nicht, ins historische Vergessen zu geraten, nicht zuletzt, um späteren objektiven analytischen und historisch-kritischen Untersuchungen bei Bedarf genügen Material anzubieten.“

Der Ausgangspunkt von Dieter B. Herrmann in Heuristik im Meinungsstreit ist die Aussage von Albert Einstein, dass es keinen logischen Weg von den Wahrnehmungen zur Theorie gibt. Damit verweist er – so Herrmann – auf die bedeutende Rolle heuristischer Prinzipien im wissenschaftlichen Forschungsprozess. Als solche fungieren seit langem u.a. Einfachheit, Harmonie und Symmetrie. Neuerdings fordert die Physikerin Sabine Hossenfelder eine Abkehr von den ihrer Ansicht nach subjektiven Leitprinzipien, denn diese hätten die Physik in eine Sackgasse geführt. Herrmann untersucht, inwieweit diese Vorwürfe berechtigt sind und inwieweit der Meinungsstreit um dieses Problem dazu beiträgt, die erkenntnistheoretischen Hintergründe von Wissenschaft neu in den Fokus zu rücken.

Nina Hager stellt in Verantwortung aus Wissen – Wissenschaft und Weltraumrüstung folgende Aussage von Hörz aus dem Jahr 1988 an den Anfang ihrer Überlegungen: „Verantwortung ist die Forderung an den Menschen, Konsequenzen seiner möglichen Entscheidungen zu überschauen, nützliche humane Folgen zu fördern und schädliche antihumane Folgen zu verhindern, Ergebnisse des Handelns auszuwerten und Konsequenzen daraus zu ziehen.“

Verantwortung wahrnehmen bedeute also auch – so Hager –, Humanität zu verteidigen. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spitzte sich die Debatte um die Verantwortung des Wissenschaftlers zu. Konkreter Anlass waren in jener Zeit vor allem die Pläne der US-Administration zur Militarisierung des Weltraums und die daraus entstehenden Bedrohungen. Heute drohen weitere Schritte zur Militarisierung des Weltraums. Internationale Regelungen wie der Weltraumvertrag reichen nicht bzw. werden missachtet bzw. ausgehebelt. Erinnert werden muss auch deshalb heute dringend an frühere Argumente und Positionen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Auseinandersetzung mit SDI und der Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten, denn es ist festzustellen, dass – anders als in den 1980er und teilweise noch 1990er Jahren – der Protest vor allem gegen die Weltraumrüstung kaum noch hörbar ist. Die aktuelle Situation sollte aber nicht als „normal“ betrachtet oder hingenommen werden.

Daran schließt sich Rainer Schimmings Beitrag an, der Antworten auf die Frage Wozu Dialektik? gibt. Einer materialistischen Weltanschauung wird – so Schimming – zuweilen unterstellt, dass sie das „Bunte“ und „Bewegte“, d.h. die Komplexität und die Dynamik, der Welt nicht erfassen könne. Dagegen stellte er die These: Materialistische Dialektik leistet dieses! Zusammen mit Hörz vertritt er folgende (modifizierte) Definition: Materialistische Dialektik ist eine philosophische System-, Determinismus- und Entwicklungstheorie. „System“ ist dann ein universaler und dabei einfacher Begriff für ein Ganzes.

Leukipp und der Zufall ist das Thema des Beitrags von Lothar Kolditz. Der von dem Vorsokratiker Leukipp stammende Lehrsatz „Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grund und mit Notwendigkeit“ bedarf nach Kolditz der Diskussion, und die nimmt er mit einer naturwissenschaftlichen Analyse aus heutiger Sicht vor. Zunächst jedoch verweist er darauf, dass die Literatur über den Zufall von der Antike bis in die Neuzeit sehr reichhaltig sei. In der Neuzeit habe sich u.a. der Jubilar Hörz mit dem Thema befasst und Grundzüge einer dialektischen Theorie des Zufalls erarbeitet. – Die umfangreiche Literatur über den Zufall hänge wohl eng mit der allgemeinen Betroffenheit von der Erscheinung des Zufalls zusammen. Ein zufälliges Ereignis kann nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden, nur eine Wahrscheinlichkeit für sein Eintreten kann angegeben werden. Die Erscheinung des Zufalls wird an drei Beispielen untersucht, dem Würfelvorgang, an der Überschneidung von Ereignisketten zweier Autofahrer, die sich begegnen, und am Beispiel der Radioaktivität. Es stellt sich heraus, dass alle Vorgänge als deterministisches Chaos charakterisiert werden können. Kolditz schlägt nun vor, den Lehrsatz des Leukipp durch die Wörter „absolut“ und „bedingt“ zu erweitern: „Nichts geschieht absolut zufällig, sondern alles aus bedingten Gründen und mit Notwendigkeit.“

In seinen Schlussbemerkungen dankt Hörz allen Beteiligten. Es sei für ihn wichtig, Außenansichten zu seinen Innenansichten zur Kenntnis zu nehmen, da sie einen zwingen, Problemstellung und -lösung, Argumentation und Wirkung kritisch zu überprüfen. Das gehöre zur kritisch-konstruktiven Zusammenarbeit, die in der Leibniz-Sozietät gepflegt werde. In den Mittelpunkt stellt er dann das aktuelle Verhältnis von Naturerkenntnis und Gesellschaftsgestaltung. Kritisch setzt er sich mit aktuellen Tendenzen der Unterschätzung der Naturdialektik für die humane Gestaltung der Zukunft in aktuellen marxistischen Publikationen auseinander. Hörz verweist darauf, dass es im philosophischen Prozess der Verallgemeinerung zu falsifizierbaren Aussagen kommen kann, die wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen. Da es sich um präzisierte philosophische Aussagen handelt, die dem konkret-historischen Wissensstand geschuldet sind, könne die entsprechende Philosophie sich auf die allgemeinen Grundsätze zurückziehen und sie neu präzisieren. Insofern seien die weltanschaulichen Grundaussagen gewissermaßen gesetzte Axiome mit gesellschaftlichen Werten und Verhaltensnormen. Mit dem Wissen einer Zeit würden sie präzisiert und mit neuen Erkenntnissen korrigiert.