Oberkofler, Gerhard


 

Friedensbewegung und Befreiungstheologie.

Marxistische Fragmente zum Gedenken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ (1921-2016)

 

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[=Hochschulschriften, Bd. 42], 2016, 131 S., 978-3-86464-139-8, 13,80 EUR

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Inhalt

1.     Christen und Marxisten in der Friedensbewegung. Voraussetzungen für ein Gespräch aus verschiedener weltanschaulicher Sicht        9

2.     Radikales Christentum fasst die Sache an der Wurzel                  24

3.    „Verzeiht, dass wir Personalakten statt Kinder verbrennen“           49

4.    Der Prozess gegen die Neun von Catonsville. Theaterstück für den Frieden      63

5.     „Wieder einmal fassen wir Hoffnung“    75

6.     Nachdenken über das Verhältnis von christlichem Glauben zu Gewalt und zu den revolutionären Volksbewegungen                        79

7.     Vatikan attackiert in Abstimmung mit den Interessen des US-Imperialismus die Theologie der Befreiung wegen ihrer marxistischen Analysen        85

8.     Anfänge der Pflugschar-Bewegung mit Daniel Berrigan SJ und Philip Berrigan. Was bleibt?     95

Biographische Literatur (Auswahl)                 105

Endnoten                                                  106

Namenregister                                           123

Über den Autor                                          131

 

 

Leseprobe

1. Christen und Marxisten in der Friedensbewegung. Voraussetzungen für ein Gespräch aus verschiedener weltanschaulicher Sicht

Seit Beginn der 1960er Jahren haben Christen und Marxisten versucht, ihre jahrzehntelange Konfrontation hinter sich zu lassen und sich in einem Dialog auszutauschen. Dass dabei zwei verschiedene, sich durchaus in Entwicklung befindliche Ebenen aufeinander treffen, war den Teilnehmern von vornherein einsichtig. Über den Austausch von Informationen hinaus wurden in der persönlichen Begegnung Erkenntnisse über die Notwendigkeit gewonnen, gemeinsame Interesse in den Vordergrund zu stellen. Angesprochen wurde immer wieder die Möglichkeit, wie weit der Marxismus als eine auf dem dialektischen, in Bezug auf die Menschheitsgeschichte auf den historischen Materialismus beruhende Weltanschauung, die kein Absolut-Böses sowie das Christentum kennt, den christlichen Humanismus und umgekehrt das Christentum Elemente des marxistischen Humanismus aufnehmen kann, ohne Grundpositionen aufzugeben. Die Wahrung des Friedens war jedenfalls ein Punkt mit hoher Konvergenz. Viele Dinge konnten angesprochen werden, ohne dass Christen oder Marxisten ihre Wahrheit als die allein selig machende bezeichnen mussten. Akkumulation von Elend, von Hunger, Sklaverei, Verzweiflung von Millionen Menschen in der Kriegswelt ist nicht auf eine „letzte Wahrheit“ zu reduzieren, diese Wahrheit ist konkret und benötigt zur Bestätigung weder Zitat aus der Bibel noch eines aus den Klassikern des Marxismus-Leninismus. Marxisten und religiöse Menschen haben, worauf die Marxisten Helga Hörz und Herbert Hörz in ihren Grundzügen einer neomodernen Ethik eingehen, mit der Ethik „ein wichtiges Bindeglied, das nicht allein auf Wissenschaft gegründet ist, sondern Bestandteil von Wertesystemen soziokultureller Einheiten ist“. „Wichtig ist deshalb“, so beide Hörz, „für die humane Gestaltung der Zukunft das Gespräch zwischen allen Humanisten, ob religiös gebunden oder nicht“. Der Zürcher Marxist Konrad Farner (1903–1974) hat in einem Vortrag
(22. Februar 1954) vor christlichen und marxistischen Friedensfreunden als erste Voraussetzung eines Gesprächs festgehalten, dass sowohl der Christ wie der Kommunist zu seiner Sache stehen müsse. Der Kommunist „kann den Christen allerdings nicht >fürbittend< einschließen in die Gnade Gottes, aber er kann ihn einschließen in sein humanes, diesseitiges Ziel und in die soziale Gerechtigkeit: Er darf ihn ebenfalls nicht ausschließen und er darf ebenso wenig überheblich sein wie der Christenmensch, so dieser wahrhaft christlich ist.[...] Denn echte Toleranz ist nur möglich im Raum der echten Weltanschauung und ist unmöglich in einem Warenhaus der Philosophien und Religionen“.6 Der italienische Marxist Antonio Gramsci (1891–1937) hat sich Gedanken über die Voraussetzung einer gelingenden wissenschaftlichen Diskussion gemacht, sie dürfe „nicht als ein Gerichtsprozess aufgefasst werden, in dem es einen Angeklagten und einen Staatsanwalt gibt, der von Amts wegen beweisen muss, dass der Angeklagte schuldig ist und es verdient, aus dem Verkehr gezogen zu werden. […] Die Position und die Argumente des Gegners realistisch zu verstehen und zu bewerten (und bisweilen ist der Gegner das gesamte Denken der Vergangenheit), bedeutet gerade, sich aus dem Gefängnis der Ideologien (im schlechten Sinn von blindem ideologischem Fanatismus) befreit zu haben, das heißt, sich auf einen >kritischen< Standpunkt zu stellen, den einzig fruchtbaren in der wissenschaftlichen Forschung“.

Katholische und evangelische Kirche sind nach 1945 System­trägerinnen der imperialistischen Mächte geblieben und haben viele Jahre die von ihnen organisierten Christen davon abgehalten, mit den satanischen Marxisten zu kooperieren. Das Pontifikat von Pius XII. (1876–1958) hat den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion als Kreuzzug gegen den Bolschewismus begrüßt und beharrte nach 1945 auf dieser kriegstreiberischen antikommunistischen Frontposition. Am 1. Juli 1949 erließ Papst Pius XII. das Dekret über die Haltung der Gläubigen gegenüber den Kommunismus. Es waren vier Fragen der Obersten Heiligen Kongregation zur Beantwortung vorgelegen, beantwortet und so veröffentlicht worden:

„1. ob es erlaubt sei, sich in die kommunistischen Parteien einzuschreiben oder diese zu fördern;

2. ob es erlaubt sei, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen oder Flugblätter herauszugeben, zu verbreiten oder zu lesen, die die kommunistische Theorie oder Praxis stützen, oder in solchen zu schreiben;

3. ob Gläubige, die mit Wissen und Willen die in Nr. 1 und 2 angeführten Handlungen begehen, zu den Sakramenten zugelassen werden können;

4. ob Gläubige, die die materialistische und antichristliche Lehre der Kommunisten bekennen, und insbesondere diejenigen, die diese auch verteidigen und propagieren, ipso facto als Abtrünnige vom katholischen Glauben der in spezieller Weise dem Heiligen Stuhl vorbehaltenen Exkommunikation verfallen.

Ihre Eminenzen, die Hochwürdigsten, mit dem Schutz des Glaubens und der Sitte betrauten Väter haben im Anschluss an die Stellungnahme der Hochwürdigsten Konsultoren in der Vollversammlung am 28. Juni 1949 beschlossen, dass zu antworten sei:

Zu 1. Nein: denn der Kommunismus ist materialistisch und antichristlich; die kommunistischen Führer zeigen sich zudem, auch wenn sie zuweilen mit Worten behaupten, sie bekämpften die Religion nicht, doch de facto in Lehre und Handeln als Feinde Gottes, der wahren Religion und der Kirche Christi;

Zu 2. Nein: da sie durch das Kanonische Recht verboten sind (can. 1399);

Zu 3. Nein, nach den üblichen Grundsätzen der Sakramentsverweigerung gegenüber denen, die nicht in der rechten Verfassung sind;

Zu 4. Ja.“

Dieses päpstliche Dekret der früheren päpstlichen Inquisition war vom Kurienkardinal Alfredo Ottaviani (1890–1979) sicher nicht spontan, sondern lange vorbereitet worden. Es war viel mehr als ein Schauspiel aus dem Vatikan. Die kommunistische Lehre wird verdammt, ihren Anhängern als Apostaten wird die kirchliche Beerdigung versagt. Alle in der Irrlehre des Kommunismus Beharrenden verfallen dem Zustand der „Todsünde“, womit nach katholischer Auffassung ihr „ewiges Heil“ in Frage gestellt ist. Der von der Exkommunikation betroffene Priester verliert seine Ämter und sakralen Funktionen. Der Kanon 1399 des Codex iuris canonici, der das ipso jure Verbot für ketzerische Schriften enthält, wird auf kommunistische Zeitungen und Zeitschriften ausgedehnt. Das päpstliche Dekret steht im Kontext zur Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes (NATO) am 4. April 1949 und zur Wiederbewaffnung Westdeutschland. Es war der katholische, wenn auch nicht christliche Beitrag zur politischen und ideologischen Aufrüstung des Weltimperialismus gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg.

In der Sowjetunion und in den sozialistischen Ländern gab es keine Verhöhnung der Gefühle der Gläubigen, eine solche war im Prinzip ausgeschlossen. Das steht nicht im Widerspruch zur marxistisch-leninistischen Position, dass die Religion ein Instrument der Klassenunterdrückung ist und bleibt und als solche mit der kommunistischen Weltanschauung unvereinbar ist. Wladimir I. Lenin (1870–1924) hat an die Einheit der unterdrückten Klasse appelliert, in ihrem Kampf „für ein Paradies auf Erde“ sei die Einheit wichtiger „als die Einheit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel“.10 Im fernen Kirgisien, das heute zu den Hoffnungsgebieten katholischer Missionare gehört, sahen die Menschen am Horizont ein kommunistische Zukunft auf sich zukommen. Tschingis Aitmatow (1928–2008) erinnert in seinem Roman Der erste Lehrer an einen Wintertag des Jahres 1924 in der Schule einer kleinen Kolchose: „Da erklärte der Lehrer mit heiserer, stockender Stimme: >Lenin ist gestorben. In allen Ländern trauern die Menschen. Steht still da und schweigt. Seht hierher auf das Bild. Diesen Tag sollt ihr nie im Leben vergessen.< Unser Lenin aber, in der weiten Militärbluse, mit der verbundenen Hand, schaute wie vordem von der Wand auf uns nieder, und sein reiner, klarer Blick rief uns wie immer zu: >Wenn ihr wüsstet, Kinder, welch wunderbarer Zukunft euch erwartet!< In dieser stillen Stunde glaubte ich, dass Lenin tatsächlich an meine Zukunft dachte“.

Der mit Papst Pius XII. befreundete, erzreaktionäre US-amerikanische Kardinal Francis Edward Spellmann (1889–1967) hat den US-Aggressoren in Vietnam mit der Begründung, sie würden das Christentum gegen den Kommunismus verteidigen, den Segen der Kirche gegeben. Der Kommunismus wird wie von den deutschen Nationalsozialisten als „Weltfeind Nr. I“ gesehen. Es ist kein Zufall, dass zu Beginn des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion der Illustrierte Beobachter in München ein Sonderheft Antikomintern veröffentlichte, in welchem Bilder von in New York auf streikende Arbeiter schießende Polizisten abgebildet sind mit der Bildlegende: „Immer ist dies der erste Schlag des Bolschewismus, weil am leichtesten und für die Hetzer am ungefährlichsten zu führen: Streik-Unruhen!“.

Für Spellmann wie für seinen Priesterbruder Marcel Lefebvre (1905–1991) war der Kommunismus „die furchtbarste Irrlehre, die jemals dem Geiste Satans entsprungen ist“. Lefebvre hat 1970 die Fraternitas Sacerdotalis Sancti Pii X gegründet.

Grundsätzlich war die Kirche mit ihrem Zentrum antimarxistisch und antikommunistisch. Jene Stelle der Enzyklika von Papst Pius XI. (1857–1939) Divini redemptoris vom 19. März 1937 mit für Kommunisten tödlichen Folgen lautet: „Der Kommunismus ist in seinem innersten Kern schlecht, und es darf sich auf keinem Gebiet mit ihm auf Zusammenarbeit einlassen, wer immer die christliche Kultur retten will“. Spellmann bekam Rückendeckung durch die amerikanischen Bischöfe, die im November 1966 in einem „Hirtenbrief“ über den Frieden und über den Vietnamkrieg praktisch die amerikanische Kriegseskalation begrüßt haben: „Wir können mit gutem Gewissen den Standpunkt unseres Landes unter den gegenwärtigen Umständen teilen“.

Nach 1945 versuchten, nicht zuletzt mit Blick auf die von der kapitalistischen Knechtschaft befreiten Völker der Sowjetunion inspiriert, revolutionäre nationale Befreiungsbewegungen in den Staaten und Regionen der sogenannten Dritten Welt die materiellen und humanen Ressourcen für die Interesse der eigenen Bevölkerung zu nutzen. Zur Aufrechterhaltung der versklavenden Eigentumsverhältnisse setzte das Monopol-kapital weltweit alle militärischen und ökonomischen Mitteln ein. Die Ermordung von Patrice Lumumba (1925–1961), der den seit 15. August 1960 unabhängigen Kongo mit seinen riesigen Rohstoffvorkommen auf einen guten Weg gebracht hatte, durch belgische Beamte am 17. Jänner 1961 und, wie Jean Paul Sartre (1905–1980) bemerkte, die Einsetzung einer kongolesischen „Klasse von Käuflichen und Verrätern“ sind  beredte Beispiele dafür, wie europäische und US-amerikanische Investitionen durch Mord und Spaltungen von den imperialistischen Kräften abgesichert wurden. Noam Chomsky (*1928) hat 1969 mit American Power and the New Mandarins seinen ersten politischen Essay zu diesen Verbrechen geschrieben und zuletzt 2015 nochmals daran erinnert. In Moskau wurde 1961 die am 1. Oktober 1960 eröffnete Universität der Völkerfreundschaft für die Ausbildung nationaler Kader aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach Patrice Lumumba benannt.

 

Nelson Mandela (1918–2013) hat sich als Christ mit den Klassiker des Marxismus-Leninismus, aber auch mit den Schriften von Fidel Castro (*1927), Ho Chi Minh (1890–1969) oder Mao Tsedong (1893–1976) in den dialektischen und historischen Materialismus vertieft: „Der dialektische Materialismus war nicht nur wie ein Scheinwerfer, der die dunkle Nacht rassischer Unterdrückung erhellte, sondern auch ein Mittel, das eingesetzt werden konnte, um eben jene Unterdrückung zu beenden. Er half mir dabei, die Situation nicht nur aus dem Blickwinkel schwarz-weißer Beziehungen zu sehen, denn wenn unser Kampf Erfolg haben sollte, so mussten wir Schwarz und Weiß überwinden. […] Der marxistische Aufruf zur revolutionären Tat war Musik in den Ohren eines Freiheitskämpfers“. Die Rassentrennung war bei Mandela Teil des Systems von Ausbeutung und Unterdrückung durch die herrschende Klasse. Er verglich die Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis mit dem Rassismus des Apartheidregimes. Die erste Auslandsreise nach 27-jähriger Haft führte den von Verbündeten der Apartheid als Terroristen bezeichneten Mandela im Juli 1991 nicht zu den Inhabern der europäischen oder amerikanischen Firmenimperien, sondern nach Kuba, wo er dem kubanischen Volk für sein internationalistisches Engagement in Afrika dankte. Mandela war für die USA kein Dissident wie die korrumpierte Prager Figur Vaclav Havel (1936–2011). Am 21. Februar 1990 hielt Havel vor beiden Kammern des US-Kongresses eine, das wurde mitgezählt, siebzehnmal mit Ovationen unterbrochene Rede, die den US-Imperialismus als Verteidiger von Freiheit, Stabilität und Sicherheit in der Welt bejubelte. Einige Wochen zuvor, am 16. November 1989, waren in El Salvador sechs Jesuiten als Dissidenten des US-Imperialismus ermordet worden. Havel wird weltweit als Dissident bekannt gehalten, aber wer kennt die Namen der in El Salvador von US-Henkersknechten ermordeten Ignacio Ellacuría SJ (1930–1989), Ignacio Martín-Baró SJ (1942–1989), Segundo Montes Mozo SJ (1933–1989), Amando López Quintana SJ (1936–1989), Juan Ramón Moreno Pardo SJ (1933–1989), Joaquín López y López SJ (1918–1989), die alle als Theologen der Befreiung vom Ethos der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten angeleitet waren? Einige Wochen vor der Rede Havels waren die USA in Panama einmarschiert, um dessen koloniale Abhängigkeit mit einer neu eingesetzten Regierung von Parasiten durch ihre Militär abzusichern (20. Dezember 1989). Havel wusste, was sich für einen Auserwählten der US-Tyrannei gehört und hat zu diesen beiden zeitnahen Ereignissen kein Wort verloren. 1999 reihte sich Havel unter die Kriegstreiber auf Jugoslawien ein, begrüßte ausdrücklich die NATO-Bombardierung am Balkan und stellte tschechische Logistik zur Verfügung. 2004 erhielt Havel verdientermaßen die US-amerikanische Freiheitsmedaille, die eine Medaille der Schurken der Gegenwart ist.

Die USA sah im Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes ein neues kommunistisches Regime aufziehen. Das wollte sie im Interesse ihrer Kriegsgeschäfte verhindern, schließlich hätten Abrüstungsgerüchte die New Yorker Börse beunruhigt. Zudem gelten in den USA Kriegsfreudigkeit als patriotische und christliche Tugenden. Für die USA war der Antikommunismus ein absoluter Wert. Im Vatikan blieben Einschätzungen zum US-Imperialismus wie jene des Jesuiten Robert Leiber SJ (1887–1967) isoliert. Dieser hat, wie sich Alighiero Tondi (1908–1984) an seine Zeit als Jesuit in Rom erinnert, zu Anfang der 1950er Jahre im Vatikan vergeblich gewarnt, sich an die USA anzuketten: „Amerika ist im Laufe der Zeit vielleicht gefährlicher als die Kommunisten, weil diese durch eine menschliche Idee vorwärtsgetrieben werden, jenes hingegen nur an seine Interessen denkt. Aber jetzt scheint dem Papst die kommunistische Gefahr dringlicher zu sein. Leider erhalten wir von den Vereinigten Staaten viel Geld, und wir brauchen es. Kardinal Spellmann hilft uns nach besten Kräften, und auch das Weiße Haus hilft uns“. 1967 schreibt Peter Steinfels (*1941) in der Internationalen Zeitschrift für Theologie Concilium, die Amerikaner seien durch den Vietnamkrieg beunruhigt, sie könnten sich einen Kompromiss vorstellen: „Aber auf keinen Fall ein neues kommunistisches Regiment! Das ist der moralische Imperativ, der im Letzten maßgeblich bleibt“.

Aus Anlass der am 6. August 1964 promulgierten Enzyklika Ecclesiam suam von Papst Paul VI. (1897–1978) schreibt Farner, diese Enzyklika entspreche in mehrfacher Weise der Situation der Gegenwart: „sie statuiert den Dialog als vordergründige Realität; sie verleiht der Bewusstseinslage des modernen Menschen exakten Ausdruck, weil sie differenziert ist und dialektisch die verschiedenen Seiten betrachtet; sie postuliert die unabdingbare Weiterentwicklung, die frei ist und zugleich gebunden, offen und zugleich geschlossen. – Könnte hier nicht auch der Marxist lernen?“. Farner war ein großer Dialektiker, deshalb hat es ihn beeindruckt, wie bei Papst Paul VI. das „sowohl – als auch“ nach vorne gerückt und „das eine tun und das andere nicht lassen“ als eine Grundregel aufgestellt wird.

Der charismatische katholische Priester Erich Kellner (1917–1986) hat mit der von ihm 1955 gegründeten Paulus-Gesellschaft den Dialog zwischen Christen und Marxisten in Europa organisiert und institutionalisiert. Die gesellschaftlichen Bedingungen für das Gelingen eines solchen Dialogs waren sehr kompliziert. Es scheint, als ob Einvernehmen darüber bestanden hat, dass Christen und Kommunisten ihre jeweils eigene blutige Vergangenheit zuerst selbst aufarbeiten sollten. Das von Papst Johannes XXIII. (1881–1963) einberufene Zweite Vatikanische Konzil (11. Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965) machte die Öffnung der Kirche nach innen und außen möglich und forderte geradezu auf, den Dialog zwischen Christen und Marxisten aufzunehmen. Das war ein grundsätzlicher Auftrag für die Kirche. Die ersten von der Paulus-Gesellschaft organisierten Gespräche zwischen Marxisten und Christen fanden in Salzburg (1965), Herrenchiemsee (1966) und, erstmals in einer Volksdemokratie, in Mariánské Lázně (Marienbad) (1967) statt. Erich Kellner gab 1966 die Salzburger Protokolle unter dem Titel Christentum und Marxismus – Heute heraus. Drei Texte der beiden Theologen Johann Baptist Metz (*1928) und Karl Rahner (1904–1984) sowie des französischen, damals noch marxistischen Starintellektuellen Roger Garaudy (1913–2012) erschienen separat. In Wien wurde 1968 mit Kardinal Franz König (1905–2004) das Sekretariat für die Nichtglaubenden eingerichtet, um dem Dialog zwischen Christen und Marxisten eine systematische und von der Kirche überprüfbare Ordnung zu geben. Kardinal König hat das Vorwort zur deutschen Übersetzung des 1966 publizierten Buches Marxismo e Christianesimo des später von der Kirche gemaßregelten Priesters und Philosophieprofessors der Salesianeruniversität in Rom Giulio Girardi (1926–2012) geschrieben. Girardi orientiert auf den gemeinsamen Einsatz von Christen und Marxisten für den Frieden mit eindeutigem Vorrang der gewaltlosen Aktion und mit „Legitimität der Gewalt für den Extremfall, um Gewalt mit irreparablen Folgen zu verhindern“.

Girardi räumt in diesem Zusammenhang aber mit dem unter Christen von ihrer Kirche gerne verbreiteten Missverständnis der Diktatur des Proletariats auf, in dem er feststellt, dass eine solche eben die Macht der Mehrheit über die Minderheit ist, „zwar eine >Diktatur<, aber in einem anderen Sinn: sie diskriminiert die ehemalige Klasse der Besitzenden, um einen Umsturz zu ihren Gunsten zu verhindern. Dieses System der Diskriminierung ist nur vorübergehend, es verschwindet, sobald Klassenkampf und Klassendenken verschwinden“. Dom Hélder Câmara (1909–1999), der versucht hat, als Bischof (seit 1964) der nordbrasilianischen Bistümern Olinda und Recife Solidarität mit den Armen zu leben, hat aus Anlass einer Ehrendoktorwürde an der katholisch theologischen Fakultät Münster im Juni 1972 über die Gemeinsamkeit von Christentum und Marxismus gesprochen. Diese bestehe faktisch und sei anzustreben. Dom Hélder wurde deswegen nicht nur in Brasilien als kommunistischer Agent bezeichnet. 1979 haben in Wien Walter Hollitscher (1911–1986) vom Internationalen Institut für den Frieden und Rudolf Weiler (*1928) vom Institut für Friedensforschung an der katholischen theologischen Fakultät der Universität Wien die zum Teil gerafften Protokolle dreier Symposien von Marxisten und Christen über Fragen des Friedens herausgegeben.

Dem Weltimperialismus dienende Triumphalisten aus der deutschen katholischen Kirche sind in der Lage, Gespräche zwischen Christen und Marxisten als von der Geschichte überholt zu qualifizieren, ja lächerlich zu machen. Im 207. Band (1989) der von Mitgliedern des Jesuitenordens seit 1871 im Freiburger Verlag Herder herausgegebenen Monatszeitschrift Stimmen der Zeit publizierte Albert Keller SJ (1932–2010), Professor an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München, den Artikel Marxistische Gespensterdämmerung. Unter Bezugnahme auf den ersten Satz des Kommunistischen Manifests von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) dokumentiert Keller für die deutschen Jesuiten in triumphalistischer Sprache das konterrevolutionäre Denken: „Der Kommunismus ist tot, nur sein Gespenst spukt herum“. Überhaupt kann der Kommunismus „nur als ein großangelegter Versuch bewertet werden, der sich als ebenso gigantischer Irrtum herausgestellt hat“. Hochschulkollege von Keller SJ, der sich in der Uniform des Bayerischen Gebirgsschützen als Soldat Gottes darstellen ließ, war Peter Ehlen SJ (*1934). Ehlen gibt, um unverbesserliche Christen von der Fortführung des Dialogs mit Marxisten abzuhalten, im 208. Band (1990) derselben Kulturzeitschrift Stimmen der Zeit auf seine Titelfrage Was ist von der Marxschen Lehre geblieben? die Antwort: „Für einen organisierten >christlich-marxistischen Dialog< besteht künftig ebensowenig Anlass wie etwa für einen organisierten nietzscheanisch-christlichen Dialog. Wo ein solcher christlich-marxistischer Dialog begründet geführt wurde, hatte er den heute geschwundenen politischen Einfluss des Marxismus zur Voraussetzung. [...] Die Aufgabe, die sich nach dem offenkundigen Scheitern des Marxismus stellt, kann, Marx’ 11. Feuerbachthese abwandelnd, so formuliert werden: Die Marxisten haben die Welt nicht nur falsch interpretiert, ihre Weltveränderung hat einen Trümmerhaufen hinterlassen; es kommt jetzt darauf an, neu nach dem Menschen zu fragen, um die Welt neu interpretieren und auf eine menschlich angemessene Weise gestalten zu können“.

Was für ein Unterschied zur Theologie der Befreiung, die gerade mit der 11. Feuerbachthese von Marx in Beantwortung der Frage, ob ihr Glaube die Herrschaft oder die Befreiung von der Herrschaft, die geschichtliche Veränderung rechtfertigt, „nicht nur die Wirklichkeit interpretiert, sondern deren Veränderung legitimiert, und sei diese auch revolutionär“. Ellacuría SJ sagte ausdrücklich: „Wir müssen die Wirklichkeit verändern, das Mögliche tun, damit das Gute über das Böse herrscht, die Freiheit über die Unterdrückung, die Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit, die Wahrheit über die Falschheit und die Liebe über den Hass“.

Der speziell in der deutschen Kirche um sich greifende Triumphalismus wird vielleicht ein Anstoß für den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Lehmann (*1936) gewesen sein, bei der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda in seinem Eröffnungsreferat (19. September 1994) Fragen des Dialogs in Erinnerung an die Enzyklika Ecclesiam suam aufzugreifen.

Es gibt nicht wenige Marxisten, die unverbesserlich der Auffassung sind, der praktisch gelebte christliche Glaube sei mit dem Wesen des Marxismus vereinbar. Zu diesen Marxisten gehört Konrad Farner. Einige seiner Essays hat er 1969 in seinem Buch Theologie des Kommunismus? publiziert.38 Der über Jahrzehnte nicht nur von Marxisten eher als Antikommunist wahrgenommene deutsche Jesuit Oswald von Nell-Breuning (1890–1991) resümiert 1965: „Wir alle stehen auf den Schultern von Marx“ und bedauert 1969 selbstkritisch, dass die Amtskirche sich erst recht spät ernsthaft mit dem Marxismus auseinanderzusetzen beginne. Nach 1945 hat er noch marxistische Interpretationen seines Mitbruders Johannes Kleinhappl SJ (1893–1972) inquisitorisch denunziert, was am ersten Weihnachtstag 1947 zu dessen Vertreibung von seiner Innsbrucker Moralprofessur geführt hat.

1970 hat Nell-Breuning in den Stimmen der Zeit das Buch Theologie des Kommunismus? besprochen und empfohlen, es „sorgfältig zu lesen und ernsthaft zu überdenken“. Farner sei „ein intellektuell und moralisch hochstehender Gegner; mit ihm sich auseinanderzusetzen, trägt dazu bei, die eigene Position zu läutern und eben dadurch zu stärken“. Nell-Breuning war allerdings nicht mehr kirchliche Autorität, in den 1970er Jahren galt er bei namhaften deutschen Jesuiten als umstritten. Der schweizerische religiöse Sozialist Willy Spieler (1937–2016) hat 1985 die innere Übereinstimmung von Farner mit der Theologie der Befreiung hervorgehoben.