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Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 121 (2014)

 

 

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[= Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 121], 2015, 216 S., ISBN 978-3-86464-091-9, 19,80 EUR

 

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Inhaltsverzeichnis


 

Leibniztag 2014

Begrüßung und Eröffnung Gerhard Banse

Kontinuität und Wandel in der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin

Bericht des Präsidenten zum Leibniz-Tag 2014

Anlage zum Bericht: Ergebnisse des interdisziplinären Wirkens der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin seit 2010 (Auswahl)

Verstorbene Mitglieder

Neue Mitglieder

 

Aus Plenar- und Klassensitzungen

Herbert Hörz: Ist die gegenwärtige Ethik noch zeitgemäß? - Egoismus in der Ausein­andersetzung -

Helga E. Hörz: Ist die gegenwärtige Ethik noch zeitgemäß? - Herausforderungen und Grundzüge einer neomodernen Ethik -

 

Diskussionsbeiträge zu Herbert und Helga Hörz

Klaus Fuchs-Kittowski: Philosophische und ethische Probleme der modernen Biologie und Medizin - sowie: „Ein alter Streit, der seit Jahrzehnten schwelt..."

Gisela Jacobasch: Diskussionsbeitrag zum Buch von Helga und Herbert Hörz

 

Weitere Beiträge

Ekkehard Diemann: Johannes Kunckel und das Gold

Martin Hundt: Wie und zu welchem Ende studierte Marx Geologie?

Jörg Roesler: Kurzfristige und langandauernde Wirkungen der Kriegswirtschaft in der UdSSR und den USA während des Zweiten Weltkrieges

Karl-Heinz Bernhardt: Das Klimasystem der Erde im Licht des fünften IPCC-Sachstandsberichtes

 

Workshop des Arbeitskreises Pädagogik am 17. Juni 2014

Einleitung (Dieter Kirchhöfer)

Bernhard Muszynski: Deutschland, eine der weltweit erfolgreichsten Gesellschaften - trotz oder wegen seines Erziehungssystems?

Werner Naumann: Herbert Schallers Ansatz zur Erziehungswissenschaft (Thesen)

Johannes Sauer: Der lange Weg der akademischen Erwachsenenbildung zu neuen Lernkulturen


 

 

 

 

Gerhard Banse

 

Kontinuität und Wandel in der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin

Bericht des Präsidenten zum Leibniz-Tag 2014

 

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren

Liebe Mitglieder, Freunde und Gäste der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften.

Das 21. Jahr des Bestehens der Leibniz-Sozietät liegt hinter uns, charakterisiert wiederum durch eine beeindruckende Vielzahl und Vielfalt an wissen­schaftlichen Aktivitäten in den beiden Klassen und im Plenum, in Arbeitskreisen und im Rahmen von Projekten. Ihren Niederschlag hat vieles davon in Form von Publikationen gefunden, online auf der Internetseite der Sozietät und in „Leibniz Online", offline sowohl in den „Sitzungsberichten" und in den „Abhandlungen" als auch in Veröffentlichungen außerhalb der unmittelbaren Verantwortung unserer Gelehrtengesellschaft. (Einen Einblick gibt die Anlage 1 zu diesem Bericht.) Das alles wäre nicht möglich gewesen ohne ein außerordentlich umfangreiches ehrenamtliches Engagement unserer Mitglieder, Freunde und Kooperationspartner. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. Vieles davon wäre nicht verwirklicht worden ohne die finanzielle Förderung durch die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und For­schung von Berlin, durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und durch die Stif­tung der Freunde der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Auch dafür ganz herzlicher Dank. Mein Dank gilt auch Frau Karin Tempelhoff, Frau Bettina Frenz, Frau Marie-Luise Körner und Herrn Dr. Klaus Buttker, die mit ihrem Wirken „im Hintergrund" einen gewichtigen Anteil am Erreichten haben.

Mit dieser Bilanz wird für das zurückliegende Jahr bestätigt, was seit Gründung unserer Sozietät gilt: Entsprechend dem Statut wurden durch die „selbstlose Pflege und Förderung der Wissenschaften im Interesse der Allge­meinheit" beeindruckende Leistungen vollbracht - obwohl die Leibniz-Sozietät im Vergleich zu den Akademien mit öffentlich-rechtlichem Status nur äußerst geringe finanzielle Zuschüsse erhält.

Bevor ich mit „Mut zur Lücke" auf Einzelheiten dieser Ergebnisse einge­hen werde („Rückblicke"), seien mir zunächst als „Einblicke" fünf Anmer­kungen zu Motivation und Ziel unseres Wirkens gestattet - sozusagen zu dessen (implizitem) Hintergrund.

 

1. Einblicke

1.1 „Wissenschaft als Beruf

Die dieses Kalenderjahr eröffnende Plenarveranstaltung war dem „Dilemma der Wertfreiheit der Wissenschaft bei Max Weber" anlässlich des 150. Ge­burtstages dieses universellen Gelehrten gewidmet. Dem Referenten, unse­rem Mitglied Wolfgang Küttler, ging es in seinem Vortrag vor allem sowohl um Webers Prinzip einer zwar perspektivengebundenen, dabei aber operativ wertfrei zu haltenden Wissenschaft als auch um seine Postulate der Transparenz und Unabhängigkeit wissenschaftlicher Tätigkeit, wie er sie etwa in „Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" (1904) oder „Der Sinn der ,Wertfreiheit' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften" (1917) dargestellt hat. Zu Beginn jenes Plenums hatte ich auf den von Weber im Jahre 1919 vor einer Münchener Studentenversammlung gehaltenen Vortrag „Wissenschaft als Beruf verwiesen. Die in diesem Vortrag vertretenen Thesen zur Stellung der einzelnen Wissenschaftler zu ihrem Beruf sind trotz vielfaltiger und tiefgreifender Veränderungen in den Wissenschaften selbst heute genauso wichtig wie vor fast 100 Jahren. Das belegt nicht zuletzt ein Symposium, das die Österreichische Akademie der Wissenschaften zu „Wissenschaft als Beruf im Jahre 2012 durchgeführt hat, in dem es um eine „Bestandsaufnahme", um „Diagnosen" und um „Emp­fehlungen" ging (vgl. Haller 2013). Allein die „Diagnosen" und die „Empfehlungen" enthalten eine Fülle von Gedanken, die es wert sind, auch in unserer Gelehrtensozietät diskutiert zu werden. - Doch wieder zu Max Weber selbst. Er fordert vom Wissenschaftler neben Kreativität und Begabung vor allem Leidenschaft für seine Tätigkeit, und zwar wie folgt:

„Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich [...] hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gera­de diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der blei­be der Wissenschaft ja fern. [...] Ohne diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch [...] hat einer den Beruf zur Wissen­schaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für den Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann" (Weber 1991, S. 244).

Und weiter heißt es bei Weber.

„Die wissenschaftliche Arbeit ist eingespannt in den Ablauf des Fort­schritts. Jeder von uns [...] in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gear­beitet hat, in 10,20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft [...] jede wissenschaftliche ,Erfüllung' be­deutet neue .Fragen' und will überboten werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. [...] Wir können nicht ar­beiten, ohne zu hoffen, daß andere weiterkommen werden als wir" (Weber 1991, S. 249).

Ich denke, dass genau diese Leidenschaft des Ringens um neue wissen­schaftliche Einsichten, eben diese Berufung die grundlegende Motivation für all unser Wirken in der Leibniz-Sozietät darstellt, ohne die diese Gesamtheit an Ergebnissen nie zustande gekommen wäre.

Dabei sollte aber ein Umstand bedacht werden: Das Durchschnittalter un­serer Mitglieder lag im Jahr 2006 bei 69 Jahren, gegenwärtig sind es etwas mehr als 72 Jahre. (Zum Vergleich: Das Durchschnittsalter der Bevölkerung Deutschlands betrug im Jahr 2013 45,7 Jahre.[1]) Die Sozietät hat derzeit 322 Mitglieder. Davon sind lediglich 33, d.h. 10,2 %, weiblichen Geschlechts! Von den Mitgliedern sind 235 Mitglieder, d.h. 73 %, über 65 Jahre. (Zum Vergleich: In Deutschland leben ca. 82,8 Mio. Menschen, davon sind 16,7 Mio., d.h. 21 %, älter als 65 Jahre.[2]) Und noch zwei Zahlen, die zunächst zum Nachdenken und dann zum Handeln anregen sollen: Das Durchschnittsalter des Präsidiums einschließlich Ehrenpräsident und Altpräsident beträgt 73 Jahre und liegt damit sogar noch geringfügig über dem Durchschnitt unserer Sozietät! Hingegen liegt der Frauenanteil im Präsidium weit unter dem Durchschnitt unserer Sozietät, nämlich bei 0 %!

Der „Output" unserer Sozietät belegt trotzdem ein großes wissenschaftli­ches Potenzial - oder anders ausgedrückt: Höheres Alter ist kein Hindernis für intellektuelle Leistungsfähigkeit! (Auch wenn das von manchen Politi­kern und Medien gelegentlich anders dargestellt wird.) Nach wie vor gilt für uns die Einschätzung von Bertolt Brecht:

„Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse" (Brecht 1986, S. 32).

Die Tätigkeit in der und für die Leibniz-Sozietät - so mein Fazit - ver­mehrt nicht nur Sinn und Würde des Lebens, sondern muss auch Vergnügen bereiten, ansonsten wäre unsere Leistungsbilanz nicht erklärbar!

Mit Max Weber konnte der „Antrieb" für unser wissenschaftliches Enga­gement verdeutlicht werden, aber noch fehlen eine Zielangabe, eine Rich­tungsvorgabe, ein Zweck. Dazu zwei Überlegungen.

 

1.2 Wissenschaft zwischen Kulturleistung und Dienstleistung

In der Wissenschaftsgeschichte sind (eher normative) Zielvorgaben mit dem Begriffspaar „curiositas" und „utilitas", mit „Neugier" und „Nutzen" gegeben. Unser Mitglied Reinhard Mocek hat sie „Universalien einer jeden Wissen­schaft" genannt (Mocek 1988, S. 260). Zwischen (reiner) Erkenntnisgewin­nung und (praktischer) Erkenntnisanwendung besteht aber keine zeitlose „prästabilierte Harmonie" - um einen Gedanken unseres Namensgebers zu verwenden, dessen 368. Geburtstag vor wenigen Tagen (am 01. Juli) war-, sondern es sind in und mit der Zeit sich verändernde Orientierungen für Wissenschaft, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Wissenschaftsbetrieb und -Organisation, bedingt durch interne wie externe Wandlungen. Deshalb ist es ebenso sinnvoll wie notwendig, das Spannungsverhältnis zwi­schen (vorrangigem) Erkenntnisbezug und (vorrangigem) Praxisbezug immer wieder neu und vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen zu thematisieren - auch im Rahmen von Gelehrtengesellschaften. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina beispielsweise führte im November 2012 ein Podiumsgespräch „Utilitas oder Curiositas: Zur Bedeutung der Wissenschaftsakademien heute" durch. Einen Schwerpunkt bildete die Frage nach den Erwartungen, die aus verschiedenen Richtungen, zum Beispiel aus Politik und Gesellschaft, an Akademien herangetragen werden.[3]

Die Leibniz-Sozietät hat diese Thematik ebenfalls aufgegriffen, und zwar im Rahmen des im vergangenen Jahr von der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung finanzierten Projekts „Wissenschaft - Innovation - Wirtschaft". In einem Teilprojekt ging es um „Wissenschaft zwischen Kulturleistung und Dienstleistung". Damit wurde eine vom dama­ligen Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wolfgang Früh­wald, bereits im Jahre 1995 getroffene Unterscheidung aufgegriffen, die heute aktueller denn je ist (vgl. Frühwald 1995). Sie verweist auf qualitative, oftmals heftig beklagte Veränderungen in Forschung und Lehre. Die For­schung ist immer mehr durch Projektförmigkeit, Kurzfristigkeit, Anwendungsnähe und Drittmittelorientierung, die Lehre durch immer spezialisiertere Bachelor- und Masterausbildungsgänge sowie durch „Evaluierungsrituale" charakterisiert. Dem wiederum stehen Forderungen gegenüber nach verstärkter Inter- und Transdisziplinarität, nach zukunfisfähigen (nachhaltigen) Lösungen oder nach wissenschaftlichen Spitzenleistungen („Exzellenz"). Die Kritik an der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Ineffizienz von Forschung hat ihren Antipoden in der Kritik der hemmungslosen „Verzweckung" der Wissenschaft im industriellen Verwertungsprozess.

Der „Spagat" zwischen den Polen Neugier und Nutzen wurde im Verlauf der Projektrealisierung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch sichtbar, etwa in den unterschiedlichen Interessen der beteiligten Projektbearbeiter (sowohl Mitglieder als auch Nichtmitglieder unserer Sozietät). Etwas vergröbert waren das die Alternativen „Metaanalyse mit Ziel eines Memorandums" und „Praktikables für den Wissenschaftsstandort Berlin". Ergebnis ist - wie konnte es anders sein - ein „Mix", wie die gerade dazu erschienene Publikation zeigt (vgl. Banse/Grimmeiss 2014). Ich möchte hier kurz auf zwei Resul­tate eingehen.

1. Unser Mitglied Hubert Laitko hat in einem historischen Überblick Wand­lungen der hier interessierenden Orientierungen am Beispiel der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. dargestellt: Für

„die Identifizierung und Erörterung fundamentaler Wertorientierungen der Wissenschaft ist sie wegen ihrer betonten Konzentration auf Grundla­genforschung und wegen ihres polydisziplinären Charakters ein beson­ders geeigneter Gegenstand, geradezu eine Fundgrube" (Laitko 2014, S. 121).

Dazu nutzt er die Ansprachen der Präsidenten auf den jährlich stattfindenden Festversammlungen, denn:

„Betrachtet man die Folge der Ansprachen über einen längeren, mehrere Präsidentschaften einschließenden Zeitraum, dann heben sich die länger­fristigen und grundlegenden Probleme von den situationsgebundenen Momenten ab. Man erkennt, dass sich die fundamentalen Wertorientierungen der Wissenschaft nur sehr langsam ändern; die einschlägigen Überlegungen der Vergangenheit sind daher nicht einfach obsolet, son­dern bilden eine Schatzkammer zum Gebrauch der Späteren" (Laitko 2014, S. 122).

Ich rege die historisch Tätigen und Interessierten unter unseren Mitglie­dern an, analog die Berichte der Präsidenten an die nunmehr 21 Leibniz-Tage unserer Sozietät auszuwerten, denn darin wird viel zum Anspruch und zum Selbstverständnis unserer Gelehrtengesellschaft ausgesagt.

2. Unser Mitglied Hermann Grimmeiss, zugleich Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften und der Königlich Schwe­dischen Akademie der Ingenieurswissenschaften, sucht nach Ursachen und vor allem Überwindungsstrategien des von ihm sogenannten „Europäischen Paradoxons": Einerseits wurden und werden im Rahmen von nunmehr acht Europäischen Forschungsrahmen-Programmen Milliarden von Euro für Forschungsleistungen und Forschungsinfrastrukturen ausgegeben, andererseits wurde die geforderte Zusammenarbeit zwischen Wis­senschaft und Industrie bisher nicht übergreifend realisiert. Deshalb kritisiert er sowohl die Ineffizienz und Fragmentierung des Europäischen Forschungsraums als auch die unkoordinierte F&E- und Wirtschaftspolitik sowie unzureichende Transfermöglichkeiten und -bedingungen von der Forschung in die (industrielle) Praxis (vgl. Grimmeiss 2014). In einem Symposium unseres Arbeitskreises „Allgemeine Technologie" in wenigen Monaten sollen diese Überlegungen weiterentwickelt werden. Der jetzige Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin, Jan-Hendrik Olbertz, hatte bereits vor mehreren Jahren neben „curiositas" und „utilitas" „necessitas", die „Not" oder „Notlage" im Sinne von „Weltbewältigung", gestellt (vgl. Olbertz 1998). Wir sollten das als „notwendige", weil „Not wendende" Orientierung unserer wissenschaftlichen Aktivitäten begreifen, in die sowohl „Neugier" als auch „Nutzen" einfließen. Man kann es fast ein Privileg nennen, dass wir diesen Anspruch auch weiterhin eigenverantwortlich in Pro­gramme für Klassen und Plenum, für Arbeitskreise und Projekte, für Publikationen und Präsentationen umsetzen können. Allerdings ist das keine Aufgabe vorrangig für die beiden Klassensekretare, die Leiter der Arbeits­kreise und den Wissenschaftlichen Beirat, sondern eine Aufgabe, die uns als Gelehrtengesellschaft insgesamt - und damit jedem Mitglied - nicht abgenommen werden kann, und auch nicht soll.

 

1.3 Gesellschaftsvertrag - auch heute aktuell

Eine weitere, eher inhaltliche Zielvorgabe wurde spätestens sowohl mit der Jahrestagung 2012 „Energiewende - Produktivkraftentwicklung und Gesell­schaftsvertrag" (vgl. Banse/Fleischer 2013b) als auch mit der Konferenz „Jean-Jacques Rousseau zwischen Aufklärung und Moderne" (vgl. Dill 2013) gegeben: ein Gesellschaftsvertrag. „Gesellschaftsvertrag" steht hier ei­nerseits für die Tradition des Rousseauschen „contrat social" als auch (breiter gefasst) als Synonym für „Gesellschaftliches". Für Jean-Jacques Rousseau kann eine legitime politische Macht nur auf einem allgemeinen Willen („volonte generale") basieren, der immer auf das Gemeinwohl abzielt. Seine ent­sprechende 1762 erschienene Abhandlung „Du contrat social; ou principes du droit politique" wurde bereits ein Jahr später in Deutsch mit dem Titel „Ge­danken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen" publiziert (vgl. Klenner 2013, S. 54f), der m.E. den Anspruch Rousseaus gut zum Ausdruck bringt (besser als die wörtliche und geläufige Übersetzung des Titels mit „Prinzipien des politischen Rechtes"): seine sozialpolitische Orientierung. -Diese spielt auch eine Rolle im Zusammenhang mit der Technikentwicklung der Gegenwart, wie am Beispiel der Energiewende dargestellt wurde. In der „Einleitung" zum „Protokollband heißt es deshalb auch:

„Die Energiewende ist objektiv ein gesamtgesellschaftlich abzustimmender, ebenso zu gestaltender, zu verwirklichender und zu verantwortender ganzheitlicher Transformationsprozess mit einer Reihe folgenreicher struktureller Veränderungen unter den gegebenen und sich ständig wandelnden nationalen, europäischen und globalen Bedingungen. Für dieses Problemspektrum existiert kein Fundus ,fertiger Lösungen'. Es generiert vielmehr mannigfaltige und schwierige naturwissenschaftlich-technische, wirtschaftliche, ökologische, soziale, kulturelle und politische Herausforderungen, d.h. auch Such- und Lernprozesse.

Eine schlüssige Energiewende ist wesensgemäß nur als länger währender - in seiner Gesamtheit nach mehreren Dezennien zu bemessender - gesamt­gesellschaftlicher Umgestaltungsprozess und damit auch als kultureller Umbruch zu verstehen sowie als ,Gemeinschaftswerk' erfolgreich zu gestalten" (Banse/Fleischer 2013a, S. 10f.).

Ehemalige Kollegen vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) im Karlsruher Institut für Technologie (KIT) thematisier­ten die „Energiewende" als „Energiewende 2.0", um sie als eine tief in die Gesellschaft eingreifende Transformation eines soziotechnischen Systems (2.0) zu apostrophieren.[4] Generalisiert bedeutet das, dass immer, wenn wir über technische (Sach-)Systeme sprechen, wir stets über sozio-technische Systeme sprechen, über Systeme, in denen „menschliche und sachtechnische Subsysteme eine integrale Einheit eingehen", wie es Günter Ropohl ausdrückt (Ropohl 2009, S. 141), und zwar sowohl im Herstellungs- wie auch im Verwendungszusammenhang. Das heißt auch: Technik wird nicht als isolierter, autonomer Bereich lebensweltlicher Wirklichkeit verstanden, sondern als in seinem Werden, Bestehen und Vergehen als auf das engste verflochten mit Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur, mit Macht und Markt, mit individuellen und institutionellen Interessen verflochten. Dieser Ansatz wird nicht nur vom bzw. im Arbeitskreis „Allgemeine Technologie" verfolgt, sondern auch etwa im Themenbereich „Gesellschaftliche Wirkungen der Informatik" sowie in der Transformationsforschung im Arbeitskreis „Gesellschaftsanalyse und Klassen".

Habe ich zuerst über unsere Motivation, unsere „Berufung" als Wissenschaftler gesprochen, mich dann in der zweiten und dritten Anmerkung Zie­len und Zwecken unseres Wirkens zugewandt, so soll in den beiden folgenden Anmerkungen das „Methodisches" im Vordergrund stehen.

 

1.4 Inter- und Transdisziplinarität

Im § 2 (Zweck des Vereins), Abschnitt (2) unseres Statuts ist festgelegt, interdisziplinäre Diskussionen auf hohem wissenschaftlichem Niveau zu füh­ren. Diesem Anspruch wurde und wird von Anfang auf unterschiedlichste Weise entsprochen, in Veranstaltungen wie in Publikationen. Erinnert sei hier lediglich an die (thematischen) Sitzungsberichte „Globaler Wandel I: Risiken - Ressourcen - Chancen" (1994), „Globaler Wandel II: Evolution - Mensch - Technik" (1995), „Chemie und Umwelt" (1995), „Radioaktivität. Von Bequerel bis Tschernobyl" (2 Teile; 1997), „Ästhetik und Urgeschichte" (1998), „Allgemeinbildung in der Gegenwart" (2004), „Sichere Versorgung der Menschheit mit Energie und Rohstoffen" (2005), „50 Jahre Weltraumforschung" (2008), „Menschheit und Geschichte - Zwischen Eiszeit und Zukunft" (2009), „Einfachheit als Wirk-, Erkenntnis- und Gestaltungsprinzip" (2011) sowie „Technik - Sicherheit - Techniksicherheit" (2013).

Interdisziplinarität wird in all unseren Aktivitäten als jene Form wissen­schaftlicher Problembearbeitung verstanden, bei der man erstens die Proble­me und Methoden komplexer Forschungsgegenstände oder -bereiche von jeweils unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen formuliert und begründet und zweitens die jeweiligen (Teil-)Erklärungen zu einem „ganzheitlichen" Verständnis des interessierenden Forschungsgegenstandes und -bereichs zusammenführt, egal, ob dieser Gegenstand „Klima", „Geschichte", „Bildung", „Fichte", „Web 2.0" oder „Zufall" heißt. Es gibt wohl kaum einen Bereich, der sich nicht disziplinübergreifend erörtern ließe. Diese jeweils anderen Sichten oder Wertungen, dieses jeweils anders Infrage stellen anscheinend offensichtlicher Sachverhalte oder Zusammenhänge ist das Bereichernde, Interessante - und auch Gewollte.

 

...
 


[4]  Vgl. „Schwerpunkt: Energiewende 2.0 - vom technischen zum soziotechnischen System?". In: TATuP - Technikfolgenabschätzung - Theorie und Praxis, Jg. 22, Nr. 2, S. 11-62. -URL: http://www.tatup-joumal.de/downloads/2013/tatupl32.pdf.