Diethelm Weidemann
 

 

Afghanistan 2014 - Ende einer Mission

 

Chance oder Marsch ins Ungewisse?

 

 

 

 

2015, [= Studien zur Geschichte und Gegenwart Asien, Bd. 5], 172 S., ISBN 978-3-86464-079-7, 24,80 EUR

 

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Inhalt

Vorwort                                                                                                   7

I     Abzug vor dem Hintergrund strategischer Neuorientierung                      11

II   Worum geht es in Afghanistan? Der afghanische Konfliktknoten                31

      1    Zur Natur des Afghanistan-Problems                                               31

      2    Die afghanische Konfliktkonstellation und der Abzug der NATO          34

III  Der afghanische Virus und das regionale Umfeld – Internationale Wirkungen des Konflikts in Afghanistan    41

IV. Ungewisse Perspektiven                                                                     49

      1.   Gesellschaft, Staat und Nation in Afghanistan nach der Operation Enduring Freedom          49

      2.   Zur Lage der afghanischen Zivilgesellschaft                                    53

      3.   Sicherheit in Afghanistan nach 2014 – Perzeptionen und die Realität   61

      4    Regionale Rückkopplungen nach dem Rückzug der NATO                    87

      5.   Gibt es eine Chance auf Frieden?                                                   94

      5.1 Vorstellungen über Wege zum Frieden in Afghanistan                        95

      5.2 Verhandlungen mit den Taliban – Voraussetzungen Chancen und Grenzen     115

      6.   Die Wahlen vom April 2014 – ein neuer Anfang für Afghanistan?       129

      6.1 Stellung und Stellenwert der Präsidentschaftswahlen vom 5. April 2014 im afghanischen Transformationsprozess         130

      6.2 Zur Bilanz Hamid Karsais und seines Regimes                               132

      6.3 Die Präsidentschaftswahl vom 5. April                                          138

      6.4 Bestimmungsfaktoren des künftigen politischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Kurses           152

      6.5 Ungewisse Perspektiven                                                              155

Epilog                                                                                                   163

Anhang                                                                                                 167

      Dokumente und wichtige Materialien zum Abzug der NATO-Kampftruppen aus Afghanistan und zu den Präsidentschaftswahlen von 2014            167

      Verzeichnis der im Text und im Quellennachweis verwendeten Abkürzungen      168

Über den Autor          171

 

 

Vorwort

Seit der NATO-Gipfel von Chicago im Mai 2012 den Abzug der Kampftruppen aus Afghanistan bis zum Ende des Jahres 2014 offiziell verkündete, interessiert die tatsächliche Situation im Lande weder die Politik noch die Medien in nennenswertem Maße. Es geht vielmehr darum, die mehr als ein Jahrzehnt andauernde „Mission“ – seinerzeit großspurig als „Operation Enduring Freedom“ bezeichnet – die in Wirklichkeit ein Interventionskrieg gegen Afghanistan war, noch einmal zu rechtfertigen und den Anschein zu erwecken, als wäre dieser Krieg letztlich doch ein Erfolg gewesen.

Wenn man vom Ergebnis und den Folgen des seit Ende 2001 geführten Afghanistan-Krieges spricht, geht es einerseits um die Ergebnisse in Afghanistan selbst sowie um die Folgen für Afghanistan und andererseits um seine absehbaren internationalen Wirkungen.

Es ist zunächst eine nicht in Frage stehende Tatsache, dass die NATO ihre selbst formulierten militärischen Ziele trotz eines enormen Mitteleinsatzes weder strategisch noch operativ erreicht hat und seit 2009 lediglich noch nach einem das Gesicht wahrenden Abzug strebt – notfalls auch auf Kosten der afghanischen Verbündeten, denn die ständig kolportierte Stabilisierung der Sicherheitslage steht lediglich auf dem Papier.

Unstrittig ist für alle Beobachter auch, dass die USA und ihre „Koalition der Willigen“ die in den Jahren 2001 und 2002 formulierten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Ziele – siehe zum Beispiel das Petersberg-Abkommen von Ende Dezember 2001 – weit verfehlt haben. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe – das US-Konzept des Demokratie-Exports, also die für explizit vordemokratische Länder wie Afghanistan völlig untaugliche Aufpfropfung einer formalen Wahldemokratie von oben; die eigenen regionalstrategischen Interessen geschuldete Kollaboration mit den alten, völlig korrupten Machteliten statt eine Förderung wirklich demokratischer Alternativen überhaupt jemals in Erwägung zu ziehen; und schließlich und besonders folgenschwer, das Unvermögen wie auch die fehlende Bereitschaft, sich mit der Realität der chronischen afghanischen Konfliktsituation ernsthaft auseinanderzusetzen.

Niemand wird die im Jahrzehnt nach dem Sturz des Taliban-Regimes erreichten Fortschritte auf einigen Gebieten (Schulbildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, Medien) negieren oder gering schätzen, aber es muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass sie angesichts der Gesamtsituation Afghanistans noch keineswegs nachhaltig und schon gar nicht irreversibel sind, weil sich an der grundlegenden afghanischen Konfliktkonstellation trotz der NATO-Intervention qualitativ nichts geändert hat. Das hat sich mit aller Deutlichkeit im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen von 2014 gezeigt. Und weit über das militärische Scheitern der NATO in Afghanistan hinaus besteht ein gravierendes Problem darin, dass es nicht gelungen ist, Afghanistan auf demokratische Weise an die Welt von heute heranzuführen. Das wird für die künftige Entwicklung und Perspektive Afghanistans ein gravierender strategischer Faktor und eine erhebliche Hypothek sein.

Das militärische und gesellschaftliche Scheitern der NATO und damit auch der politischen Führung ihrer Mitgliedsstaaten in Afghanistan ist jedoch nur eine Seite der Konsequenzen des ebenso kostspieligen und verlustreichen wie letztendlich sinnlosen, von der Bush-Administration ausgelösten Interventionskrieges.

Der Afghanistan-Krieg war zugleich eine traumatische Erfahrung für die militärischen Allmachtsperzeptionen der „strategic community“ in Militär und Politik des Westens, denn er machte die Grenzen des mächtigsten Militärbündnisses der Welt unübersehbar. Es zeigte sich das Unvermögen einer militärtechnisch hochgerüsteten und in unglaublicher Weise überlegenen Macht, einen nicht nur numerisch, sondern auch im Organisationsgrad, im Ausrüstungsniveau, in Logistik und Operationsfähigkeit hoffnungslos unterlegenen Gegner wie die Taliban militärisch zu besiegen und definitiv auszuschalten. Die NATO wird daher mit der Erfahrung einer faktischen Niederlage leben müssen, mit Folgen für ihr Selbstbild, für ihr internationales Image und Konsequenzen für ihr künftiges strategisches Agieren.

Es ist daher nicht überraschend, dass der Krieg in Afghanistan in den USA bereits eine intensive Debatte über die künftige Strategie der Vereinigten Staaten ausgelöst hat. Es ist gleichermaßen interessant und aufschlussreich, dass diese Diskussionen im Kontext der unterschiedlichen und teilweise sogar kontroversen Positionen in der Frage des Abzugs aus Afghanistan Fahrt aufnahmen. Das macht deutlich, in welchem Maße die konkreten und nicht zuletzt auch negativen Erfahrungen in Afghanistan die Diskurse stimulierten – die künftige Vermeidung langwieriger, kostspieliger und verlustreicher Landkriege; der massenweise Einsatz von Kampfdrohnen unterschiedlichen Typs als Gefechtsfeldwaffen; die Air-Sea-Battle-Doktrin; und die Forcierung der Entwicklung autonomer, vollautomatischer Waffensysteme sind nur einige der Schlussfolgerungen, die aus den bisherigen Strategiediskussionen gezogen wurden.

Das heißt, die internationale Öffentlichkeit wird sich darauf einstellen müssen, dass die Langzeitwirkungen des Afghanistan-Krieges von USA und NATO weit über Afghanistan hinausgehen werden und dass das internationale Staatensystem sich mit den strategischen Schlussfolgerungen der USA aus diesem Krieg langfristig konfrontiert sehen wird. Und es wird sich zeigen, ob die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik auch dann – wie im Herbst 2001 – bereit sein wird, der ausschließlich von eigenen Machtinteressen gesteuerten US-Strategie hinter dem Rauchvorhang von „Bündnissolidarität“ und „Verantwortungsübernahme“ weiterhin zu folgen.

Die nachfolgenden Betrachtungen haben weder eine historische Analyse des überaus komplexen Afghanistan-Problems an sich zum Ziel noch sind sie eine Geschichte des Interventionskrieges von 2001 bis 2014. Ihr Gegenstand ist die aktuelle Entwicklung wesentlicher Prozesse in Afghanistan vom Beschluss der NATO über den Truppenabzug bis zu den Präsidentenwahlen vom April 2014 und den absehbaren Veränderungen in der innerafghanischen Machtkonstellation. Im Mittelpunkt stehen dabei vier Problemkreise:

-     die Reflexion charakteristischer Züge der Abzugsdebatte, ihrer Ursachen und Motivationen im Zusammenhang mit einem sich abzeichnenden Strategiewechsel der USA,

-     die tatsächliche Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan seit 2012 und ihre Konsequenzen,

-     die Frage nach den Perspektiven Afghanistans nach einem Abzug der NATO und

-     das Verhältnis gegenwärtiger Konzepte für einen Weg zum Frieden in Afghanistan zur realen Lage im Lande und die Chancen für ihre Realisierung.

Es geht somit um eine nüchterne Lagebeurteilung und um die Bestimmung möglicher Entwicklungen als Diskussionsbeitrag zu einer illusionsfreien Betrachtung des Afghanistan-Problems. Eine solche Diskussion ist auch nach einem Abzug der NATO aus Afghanistan notwendiger denn je, denn weder der Krieg der NATO noch ihr Abzug hat am Kern der afghanischen Konfliktmasse etwas Substantielles geändert, die Intervention hat im Gegenteil eine Reihe von Aspekten der anhaltenden Gesellschaftskrise eher noch verschärft, und wir sind ab 2015 noch auf nicht absehbare Zeit mit den gravierenden innerafghanischen Konflikten und der afghanischen Konfliktkonstellation als Ganzes konfrontiert.

Für ihre Unterstützung bei der Beschaffung von Quellen für das Kapitel zu den Wahlen 2104 sowie für die freundliche Redaktion des Manuskripts danke ich sehr herzlich Frau Marléne Neumann und Herrn Michael Schied.

 

Berlin, im Oktober 2014                                                Prof. Dr. Diethelm Weidemann