Vorwort
„Eine halbe Million Juden verließen Deutschland und andere Länder, die
ähnliche Diskriminierungsmaßnahmen ergriffen, rechtzeitig vor dem
Einsetzen der ‚Endlösung‘. Obwohl sie zu den ersten Opfern der
antijüdischen Maßnahmen gehörten, bekamen sie das volle Ausmaß der
Katastrophe nicht am eigenen Leib zu spüren.... Niemand von ihnen
bezeichnete sich lange als ‚Flüchtling‘ Dieser Begriff galt nicht als
Auszeichnung oder Ehre: Man spürte bis ins Innerste, daß er einen
herabsetzte, sobald man in ein fremdes Land kam oder ein Schiff verließ.“
So beschreibt Raul Hilberg die Befindlichkeit der ersten
Emigranten, zu denen auch viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
gehörten, die seit 1933 schon ihrer Existenzgrundlage und geistigen
Arbeitsmöglichkeiten beraubt waren. Viele von ihnen schienen die
Emigration als eine vorübergehende Wartezeit begriffen zu haben und
hofften auf ein baldiges Ende des Hitlerregimes. Der Flüchtlingsstrom nahm
nach Hilberg in den Jahren 1934 bis 1937 trotz der Nürnberger Rassegesetze
von 1935 kontinuierlich ab und stieg erst wieder 1938 und 1939 drastisch
an infolge verschiedener Ereignisse wie der Anschluss Österreichs 1938 und
die Pogrome im November 1938. Die Menschen suchten jetzt Zuflucht in
benachbarten Ländern mit durchlässigen Grenzen wie Frankreich, Belgien,
die Niederlande, Italien oder strebten nach Kuba, Shanghai oder in die
Türkei um die nackte Existenz zu sichern. Wer früher gegangen war, hatte
mehr erhofft. Fremde im fremden Land, oft mittellos und der Sprache nicht
mächtig – das traf auf viele der erfolgreich Geflüchteten zu, auch und
vielleicht gerade auf die Akademiker. Die Chancen, in dem erlernten Beruf
Arbeit zu finden, waren äußerst gering und verschlechterten sich noch mit
Kriegsbeginn. Die emigrierten Wissenschaftlerinnen teilten dieses
Schicksal sicherlich mit einer Reihe männlicher Emigranten, aber ganz
offenkundig waren die Frauen besonders hart durch die Emigration in ihrer
wissenschaftlichen Arbeit und Lebensplanung getroffen. Noch in keinem Land
der Erde war die Tätigkeit weiblicher Wissenschaftler zur barrierefreien
Realität geworden; als Erwerbsarbeit taugte die Wissenschaft für Frauen in
den Zufluchtsländern nur sehr begrenzt. Nicht anders erging es der
Historikerin Hedwig Hintze.
Hintze galt zu ihrer Zeit als Expertin
für die Historiographie zur französischen Revolution, mitunter auch als
Verfassungshistorikerin; ihre große Habilitationsarbeit weist sie als
solche aus und ihr Interesse auf diesem Gebiet war vielseitig. In der
akademischen Welt der Berliner Universität konnte sie nur bedingt die ihr
zustehende Akzeptanz finden – als Frau, als liberal bis links denkende
Wissenschaftlerin, als Ehegattin des sehr geschätzten Historikers Otto
Hintze. Zu Zeiten wollte man ihr nahelegen zu Hause zu bleiben und sich um
ihren kränklichen Mann zu kümmern. Ihre wissenschaftliche Karriere war
‚unerwünscht‘, wie wir es unter anderem an Äußerungen Friedrich Meineckes
ablesen können. So schrieb er an Hermann Oncken 1928, im Vorfeld der
Habilitierung Hedwig Hintzes, dass er schwere Bedenken dagegen habe:
„Mein Standpunkt in ihrer Habilitationssache ist der, – vertraulich
gesagt, – dass ihre Habilitation auch mir aus mannigfachen Gründen
unerwünscht ist, dass wir auch auf sie einwirken müssen, ihren Entschluss
zurückzuziehen, dass aber, wenn sie bei ihrem Entschluss nun einmal
bleiben sollte, ihre Meldung und ihre Arbeit streng sachlich geprüft
werden muss […] Ich selber habe ihr schon aufs stärkste abgeredet, sich zu
melden, aber es half nicht. Ein ganz schwieriger und zwiespältiger Fall
für uns!“
Diese Haltung Meineckes gegenüber seiner eigenen
Doktorandin, die er zweifelsohne für sehr talentiert hielt, kennzeichnet
die Stimmung, die in Historikerkreisen gegenüber der Frau des Kollegen
bestand. Sie galt wie so viele ihrer Mitstreiterinnen als ‚fremder Vogel‘,
der in der Fakultät wenig Anerkennung genoss. Umso bemerkenswerter die
Berichte über die berühmten ’Teenachmittage‘ im Hause Hintze, bei denen
sie sich nicht nur als glänzende Gastgeberin, sondern auch als
diskussionsfreudige und fundiert argumentierende Historikerin betätigte,
was manch einem männlichen Gast eher unangenehm in Erinnerung blieb.
Darüber gibt der Aufsatz von Peter Thomas Walther, Die Zerstörung eines
Projekts, in den Studien zu Friedrich Meinecke ausführliche Informationen.
Nach langwierigen Umwegen und der Überwindung vieler Hindernisse, die
Frauen vor dem ersten Weltkrieg den Weg in die Universitäten erschwerten,
gelang es der ehrgeizigen Hedwig Guggenheimer, Tochter aus gutbürgerlichem
jüdischen Elternhaus in München, sich einen Platz an der Berliner
Universität zu erobern. Sie belegte Geschichte und Nationalökonomie,
besuchte unter anderem die Veranstaltungen Friedrich Meineckes, ihres
späteren Doktorvaters, und Otto Hintzes, des Verfassungshistorikers, den
sie 1912 heiratete. Der erste Weltkrieg und die häufige Pflege ihres
deutlich älteren und kränklichen Mannes unterbrachen ihr Studium, aber sie
konnte es nach dem Krieg wieder aufnehmen und 1924 ihre Promotion mit
‚Summa cum laude‘ abschließen mit einem Teil ihrer Studien zum Thema
‚Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich‘. Dieses großangelegte
Forschungsprojekt konnte sie dann erfolgreich – trotz etlicher
Schwierigkeiten – für die Habilitation einreichen; die Arbeit erschien
1928 in der Deutschen Verlagsanstalt in Berlin. Das Buch begründete ihren
ausgezeichneten Ruf als Expertin der Geschichte der Französischen
Revolution ebenso wie als Verfassungshistorikerin. Es waren ihr von da an
nur noch fünf erfüllte Jahre der wissenschaftlichen Arbeit und des reichen
gesellschaftlichen Lebens und Gedankenaustauschs mit Fachkollegen
vergönnt. Das Jahr 1933 beendete beides mit einem Schlag, nicht aber ihr
auf gegenseitige liebevolle Fürsorge aufgebautes Eheleben, das nun unter
häufigen Trennungen litt. Sie floh vor der Ausgrenzung in Deutschland
zunächst nach Paris und konnte dort auch wissenschaftlich arbeiten, kam
aber häufig nach Hause zurück. Im August 1939 emigrierte sie endgültig aus
Deutschland in die Niederlande. Ihre Hoffnung auf eine Ausreise von dort
in die USA zerschlug sich.
Der Briefwechsel des Ehepaares Hedwig
und Otto Hintze in den Jahren 1925 bis 1940, dem Todesjahr Otto Hintzes,
ist in einer mühsamen jahrzehntelangen Sammel- und Recherchetätigkeit von
Brigitta Oestreich bearbeitet und von Robert Jütte und Gerhard Hirschfeld
herausgegeben worden. Auf verschlungenen Wegen sind diese Briefe Otto
Hintzes an seine Frau im Exil erhalten geblieben und auf die in München
verheiratete Schwester Hedwig Hintzes gekommen, zusammen mit ihren
Tagebüchern, die die Schwester Hildegard, verheiratete Schröter, aber
leider verbrennen ließ – ein unwiederbringlicher Verlust für die
Geschichtswissenschaft und die Aufarbeitung der Verfolgung jüdischer
Wissenschaftler. Da auch der Nachlass Otto Hintzes weitgehend verloren
ging, sind Hedwigs Briefe an ihn nicht erhalten. Aus seinen aber spricht
eine solch aufbauende und ermutigende Kraft der Liebe und Anerkennung,
dass wohl verständlich wird, dass nach seinem Tod 1940 auch ihr
Lebensfaden nahezu abgeschnitten war. Lange galt die Annahme als
gesichert, Hedwig Hintze habe im Exil wenig Kontakt zu den anderen
jüdischen oder politischen Emigranten gehabt, und dies sowohl in den
Pariser Jahren wie dann ab 1939 in den Niederlanden. Das ist so nicht mehr
ganz haltbar. Eva Schöck-Quinteros zeigt in ihrer bislang
unveröffentlichten Studie über den von ihr entdeckten Briefwechsel Hedwig
Hintze – Karl Kautsky, dass noch andere wissenschaftliche und
publizistische Kontakte bestanden, mehr, als wir bisher wussten. In dem
Beitrag wird der Briefwechsel dokumentiert und zeigt die große
Wertschätzung, derer sich die Historikerin bei Kautsky erfreuen konnte;
zugleich geben die Briefe auch Zeugnis von ihrer verzweifelten Lage im
Exil. Erschütternde neue Erkenntnisse über die letzten Lebensjahre
Hedwig Hintzes hat Peter Thomas Walther aus verschiedenen Quellen
gewonnen. Er untersucht den Zeitraum des Exils in den Niederlanden anhand
neuen Materials und kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Hedwig Hintze
über vielfältige Kontakte zu Menschen verfügte, die der Emigrantenszene
angehörten und sich gegenseitig halfen; sie hatte auch zu niederländischen
Wissenschaftlern Kontakt. Mit den Tagebuchaufzeichnungen des ebenfalls in
die NL emigrierten Aachener Mathematikers Otto Blumenthal, der Hedwig
Hintze sehr hilfreich zur Seite stand, sind die letzten Wochen ihres
Lebens besser als bisher möglich dokumentiert. Damit ist zwar immer noch
nicht das Rätsel um ihren Tod im Juli 1942 in Utrecht zur Gänze gelöst.
Die letzten Lebenswochen, die Krankheitsattacken, die Verzweiflung und ihr
mühsam immer wieder neu gewonnener Lebensmut, der sie letztlich doch
verließ, erscheinen aber nun in einem neuen Licht. Hedwig Hintze
überlebte also ihr Exil nicht, die Hoffnung auf die USA zerschlug sich.
Die Fakten, die uns heute ihr Leben in Erinnerung rufen könnten, waren
anfänglich äußerst spärlich und werden erst seit wenigen Jahren durch
intensivere Forschung verdichtet. Einen eigentlichen Nachlass gibt es
nicht, wohl aber Nachlassbruchstücke, wie sie die Geschichte der
Wissenschaftsemigration aus Deutschland in den Jahren der
nationalsozialistischen Herrschaft häufig zeitigte. Sie wurden erst nach
und nach entdeckt. Eine umfassende Biographie und eine Einordnung dieser
wissenschaftlichen Persönlichkeit in die Forschungslandschaft ihrer Zeit
stehen trotz verschiedener in letzter Zeit erfolgter Ansätze und Skizzen
noch aus. Es ist jetzt aber möglich, sich aus der Rekonstruktion des
beruflichen Lebensverlaufs aus den universitären Akten, aus ihren
Schriften selbst heraus und durch weitere zu Tage tretende Überlieferungen
ein Bild von dieser faszinierenden Persönlichkeit zu machen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 7 Zur Erziehungsfrage 19
Novalis’ Hymnen an die Nacht und Richard Wagners Tristan und Isolde (1905)
25 E.T.A. Hoffmann und Richard Wagner (1907) 37
Die Frage des Frauenwahlrechts in der Französischen Revolution (1919)
69 Der moderne französische Regionalismus und seine Wurzeln (1920)
77 Der französische Regionalismus (1921) 111
Deutsche Geistigkeit im Verhältnis zu Frankreich (1923)
117 Ökonomische Probleme der Französischen Revolution (1924)
125 Politische Geschichte der französischen Revolution. Von A. Aulard.
Einleitung (1924) 139 Der französische Regionalismus
(1925) 149 Die Krisis des Liberalismus in der
Französischen Revolution (1926) 173 Die neuen
französischen Wirtschaftsprovinzen (1926) 181 Der
Geist von Locarno und historische Kritik (1926) 195
Die Kampfweise des Ritters von Srbik (1927) 201 Hugo
Preuß. Eine historisch-politische Charakteristik (1927)
207 Hugo Preuß: Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und
Westeuropa, Einleitung (1927) 225 Staat und
Gesellschaft der französischen Renaissance unter Franz I. (1927)
239 Staatseinheit und Regionalismus in Frankreich (1927)
275 Der deutsche Einheitsstaat und die Geschichte (1928)
285 Der nationale und der humanitäre Gedanke in der Renaissance (1929)
305 Nation und übernationale Bindung im Lichte des
deutsch-französischen Fragenkreises (1929) 335
Bürgerliche und sozialistische Geschichtsschreiber der französischen
Revolution (Taine. – Aulard. – Jaurès. – Mathiez.) (1929)
343 Jean Jaurès (1930) 367 Zur politischen
Ideengeschichte Frankreichs im XVIII. Jahrhundert (1930)
385 Die Französische Revolution. Neue Forschungen und Darstellungen
(1931) 393 Goethe und die französische Revolution
(1931/32) 417 Das heutige Frankreich (1932)
435 Albert Mathiez: Une page de souvenirs (1932) 447
Ludwig Bamberger (1933) 451 Jean Jaurès und die
materialistische Geschichtstheorie (1933) 465 Der
nationale und der humanitäre Gedanke in der Neuzeit (1933)
497 Nation und Humanität: Von einer deutschen Frau (1933)
529 Franz I. (1933) 549 Madame Rolland (1933)
553 Fichte und Frankreich (1934) 561 Jean Jaurès
und Karl Marx. Von Peregrina (1936) 585 Das erste
Fest der Föderationen (1939) 613 Nachruf auf Albert
Mathiez (1874–1932) (1940) 617
Namensindex 627
Elisabeth Dickmann / Historikerin 649
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