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Sebastian Klinge/ Laurens Schlicht (Hrsg.)

 

 

"GEHEIMNIS_WISSEN. Perspektiven auf das Wissen vom Geheimnis seit dem 18. Jahrhundert"

 

 

 

2014, 356 S., ISBN 978-3-86464-056-8, 44,80 EUR

 

 

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Inhalt

 

 

Nachruf auf Dr. Gisela Engel (1943–2014)                                                               7

Vorwort                                                                                                              9

 

Einleitung: Geheimnis_Wissen                                                                             11

Laurens Schlicht und Sebastian Klinge                                                                        

 

 

I. Wissenspolitik des Geheimnisses                                                               29

 

Das „Geheimnis“ der Freimaurer. Überlegungen zu einem Forschungsproblem            31

Andrew McKenzie-McHarg                                                                                              

 

Vom Geheimnis des Staates zum Staat als Geheimnis. Aspekte der Geschichte der Statistik in Frankreich (ca. 1661–1800)      65

Martin Herrnstadt                                                                                                              

 

Das Entschleierungsdispositiv. Zur Verwobenheit von Epistemologie und Legitimität am Beispiel der Sunda Expedition von 1910/11         95

Julian Stenmanns und Stefan Wedermann                                                                    

 

„Moral epidemics“. Gerüchte und informelle Kommunikation in Zeiten von Katastrophen und Krisen in der Qing-Dynastie        115

Daniel Hausmann                                                                                                               

 

Zur Politik des Geheimnisses. Zwischen Souveränität und Subversion                     137

Marina Martinez Mateo

 

 

II. Geheimnis-Krieg                                                                                      153

                                                                                                                                               

Geheimnis und Todesdrohung. Zur Wahrnehmung der GeStaPo in den Tagebüchern Victor Klemperers (1933–1945)        155

Anne D. Peiter                                                                                    

                                 

Gerüchte und Geheimnisse in den Relocation Camps für Japanoamerikaner              175

Konrad Linke

 

Secret Intelligence. Der britische Nachrichtendienst und das Belauschen des Gegners (1939–1945)     203

Falko Bell

 

 

III. Produktion des Selbst: Identität und Geheimnis                                  221

 

Das Geheimnis von Sex. Das Verhältnis von Wissen, Geheimnis und Subjekt bei Michel Foucault und Judith Butler    223

Hannah Holme                                                                                                                    

 

Die Medikalisierung der Geschlechtszuweisung. Das Geheimnis um intergeschlechtliche Körper als Konstituens des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit    241

Anja Gregor

 

Das Geheimnis des Subjekts. Rauschdiskurse im 19. Jahrhundert und die Entdeckung einer erkenntnistheoretischen Schlüsselfigur     265

Robert Feustel

 

Blinde Flecken. Eine Politik der Sprachforschung innerhalb der Société des observateurs de l‘homme (1799–1804) und die epistemologische Funktion von tabula rasa-Wesen     285

Laurens Schlicht                                                                                                                 

 

 

IV. Ästhetik des Geheimnisses                                                                     311

 

Denken und Geheimnis bei Maurice Blanchot                                                       313

David Jöckel

 

Vom Unsichtbaren im Sichtbaren. Visuelle Geheimnis-Metaphern in Literatur, Philosophie und Wissenschaft         327

Christian Knirsch

 

„We work in secret“. Zur Technologie und Ästhetik des Geheimnisses in den TV-Serien The Wire, Chuck und Person of Interest      345

Sebastian Klinge

 

                                                                                                                                               

Verzeichnis der Autor_innen                                                                              369

 

 

 

 

Einleitung: Geheimnis_Wissen

 

Laurens Schlicht / Sebastian Klinge

 

 

Die Frage nach der Verbindung von Geheimnis und Wissen in der Neuzeit stellt sich, nachdem im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte dieses Thema für einen früheren Zeitraum bearbeitet worden war.[1] Gisela Engel und Heide Wunder haben in dieser Hinsicht die These vertreten, dass in der Frühen Neuzeit tradierte Geheimnisfiguren (arcana naturae, arcana imperii) und die mit ihnen bezeichneten Praktiken delegitimiert wurden [Engel/Wunder 2002: 3ff.]. Die Preisfrage der Berliner Akademie von 1780, ob es für das Volk nützlich sei, betrogen zu werden, machte den Prozess dieser Delegitimierung sichtbar.[2] Mit der Erfindung des „Bürgers“[3] in der Französischen Revolution verschwanden im Rahmen der Abschaffung von Korporationen (1791)[4], der Hinrichtung des Königs etc. letzte Residuen von traditionellen Formen der Produktion von Geheimnissen und geheimen Räumen; zugleich entstanden neue.[5] In der Vorstellung vom „Bürger“ und dem geschützten privaten Raum der Familie wiederholte sich, so scheint es, ein monarchisches Konzept des Arkanen [vgl. Engel/Wunder 2002: 6].[6] Diese neuartige Gestalt des Menschen wurde im gleichen Zeitraum zum Gegenstand von neuartigen Wissenspraktiken.[7]

Zudem wurde, unter anderem durch das Projekt der Agnotology [Proctor/Schiebinger 2008], die Fragestellung nach Geheimhaltung auf eine epistemologische Ebene verschoben.[8] Anschließend an die mittlerweile schon älteren Thesen von Michel Foucault, der in Les mots et les choses gerade im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert das Auftauchen von Erkenntnisgegenständen ausmachte, die das Geheimnis als notwendiges apriori beinhalteten, wie etwa den „Ursprung“ und nicht zuletzt das Auftauchen des Menschen selber als Gegenstand der Wissenschaft, war es das Anliegen des Workshops, in einer größeren Perspektive diesen Übergang und die auf ihn folgende Zeit in den Blick zu nehmen [Foucault 1974 [1966]: 396ff.]. In dieser Hinsicht wurde die Frage nach dem Geheimnis auf einer epistemologischen Ebene gestellt: In welcher Weise lassen sich Wissensbereiche und Wissenspraktiken ausmachen, deren Funktionieren die Existenz eines Geheimnisses voraussetzte? In welcher Weise hat das Wegfallen von überkommenen Geheimnisarten dazu geführt, dass die Frage nach dem Wissen noch einmal neu gestellt werden musste? Der Begriff des „Geheimnisses“ selber, der vor dem 18. Jahrhundert als arcanum, secretum oder auch als occultum figurierte, wurde hierbei bewusst offen gelassen. Es war gerade ein Ziel des Workshops, danach zu fragen, was Geheimnis in jeweils unterschiedlichen Wissensbereichen sowohl aus der historischen als auch aus der rezenten Perspektive heißen kann. Vorläufig kann man sich der Erklärung Daniel Jüttes anschließen, der das Geheimnis als etwas versteht, das man nicht weiß, weil es verborgen gehalten wird, das aber prinzipiell wissbar ist [Jütte 2012: 14]. Jütte weist darauf hin, dass es sehr häufig weniger der Inhalt des Geheimnisses ist, der in diesem Zusammenhang historisch interessant erscheint, sondern vielmehr die soziale Beziehung, die durch das Herstellen eines Geheimnisses etabliert wird [ebd.: 20].[9]

In verschiedener Weise lässt sich in diesem Zusammenhang am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert das Auftauchen von neuen Geheimnisfiguren konstatieren. Foucault zentrierte die sich verändernde episteme in diesem Zeitraum um die neuen Gegenstände „Arbeit“, „Leben“ und „Sprache“ [Foucault 1974 [1966]: 269ff.], die als ein „radikales Ereignis“ [ebd.: 269] dazu beigetragen haben, den „modernen“ Menschen in der Weise hervorzubringen, die für den Foucault von Les mots et les choses auch „heute“ noch gültig ist. Auch wenn diese These Foucaults sicher Anlass zu Kritik und Ausdifferenzierung bietet und womöglich in ihrer Allgemeinheit nicht haltbar ist, zeigt sich doch für die Untersuchung von einzelnen Bereichen, dass sie als Heuristik noch immer nützlich und weiterführend sein kann. Nimmt man etwa als Beispiel die sich verändernden Forschungsaktivitäten zum Gegenstand „Sprache“, so zeigt sich in der Entwicklung der „Hegemonie des Komparatismus“ [Auroux 2000] im 19. Jahrhundert das Auftauchen von Entitäten, die affirmativ und bewusst als Geheimnisse hervorgebracht wurden. Beispielsweise Wilhelm von Humboldts programmatische Texte zur Sprachforschung sind voll von Bekenntnissen zum geheimnishaften Herkommen der Sprache, zu ihrem Ursprung, der nicht Gegenstand der Sprachforschung sein könne, weil er nur in Spuren existiere, die mit dem „Geist“ der Sprache und ihrem „Leben“ verwoben seien:

„Die Sprache ist gleichsam die äusserliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken. Wie sie in Wahrheit mit einander in einer und ebenderselben, unserem Begreifen unzugänglichen Quelle zusammenkommen, bleibt uns unerklärlich verborgen“ [Humboldt 1848 [1836]: 38].

Die Erscheinung der Sprache, so Humboldt, verweise auf eine tiefe und unergründliche „Intellectualität“, die diese bedinge und möglich mache [ebd.]. Ähnliche Geheimnisfiguren lassen sich etwa auch bei Friedrich Schlegels Ueber die Sprache und Weisheit der Indier (1808) nachweisen, ein Text, der von der Idee durchdrungen ist, dass die Sprache(n) „Verwandtschaften“ und „Wurzeln“ hätten und über das vergleichende Studium der Sprachen erforscht werden müssten. Sowohl bei Schlegel als auch bei Humboldt wurde zugleich das „Gefühl“, das „Einfühlen“ in die lebendige Struktur der Grammatik zu einer legitimen epistemischen Technik, die das Geheimnis der Sprache, ihr „inneres Wesen“ ergründen helfe. Dieses Geheimnis („Geist“, „Leben“ etc.) sei nur durch die Untersuchung der Spuren annäherungsweise bestimmbar, was zum einen eben das „Einfühlen“, zum anderen eine extensive Sammlung an Datenmaterial voraussetze, die das Lesen der Spuren in den Erscheinungen der Sprache möglich machen sollte.[10] Pierre Swiggers und Peter Lauwers [2002] haben gezeigt, dass diese Entwicklung zwar nicht dazu geführt hat, dass die ältere Tradition der grammaire générale vollständig verschwand, auf mittel- und langfristige Sicht jedoch erfolgreich war (die grammaire générale von Sylvestre de Sacy sollte sechs Auflagen erreichen (1799–1832)).[11]

Die neue Erkenntnispraxis, die auf dem extensiven Sammeln von Daten beruhte, fand ebenfalls um 1800 in der Einrichtung verschiedener statistischer Initiativen ihre Realisierung, die das Ziel hatten, durch die Erfassung von Beschreibungen der jungen und noch instabilen französischen Nation eine dauerhafte Verzeichnung des status quo zu erreichen. Auch die Existenz dieser Projekte wäre schwer erklärbar, wenn sie nicht voraussetzten, dass durch genau diese Sammlung Wissen generiert werden könnte, das nicht in einem universalistischen Bild vom Menschen integriert werden konnte, der in der Zeit nach 1789 in Frankreich zunehmend zum Gegenstand einer science sociale oder der sciences de l‘homme gemacht werden sollte.

Zu dieser Zeit entstand eine Reihe von Informationsordnungen, die darauf zielten, das gesellschaftliche Sein zum Gegenstand eines Systems, einer Ordnung von Fakten zu machen. Auch wenn diese Entwicklung schon früher einsetzte,[12] lässt sich feststellen, dass die Zeit um 1800 und die Intensivierung von staatlichen Initiativen zur Vergegenständlichung des Menschen als Wissensobjekt eine Initialzündung für die nachfolgende Entfaltung des Ideals eines vollständigen Wissens vom gesellschaftliche Sein war [vgl. Desrosières 1993]. Dass das Geheimnis und das Nicht-Gewusste in einer sich mehr und mehr als „Wissensgesellschaft“ [vgl. dazu Engelhardt/Kajetzke 2010] verstehenden modernen Kultur eine ambivalente bis negative Funktion ausüben, stellt besonders Peter Galison in seinem Aufsatz „Removing Knowledge“ dar [Galison 2004]. Galison beschreibt darin zunächst rein quantitativ das Verhältnis offen zugänglichen „Wissens“ (in Form von Artikeln, Büchern, Protokollen und ähnlichen Daten), das in Archiven und Büchereien aufbewahrt wird, mit den Daten und Texten, die „klassifiziertes“, also nicht jedem zugängliches „Wissen“ enthalten. Diese Entwicklung sieht er seit dem 20. Jahrhundert in steigendem Maße voranschreiten. Allein 2001 wurden in den USA 33 Millionen classification actions vorgenommen, was überschlagen 330 Millionen Seiten klassifizierten Textmaterials produziert habe: „Contemplate these numbers: about five times as many pages are being added to the classified universe than are being brought to the storehouses of human learning, including all the books and journals on any subject in any language collected in the largest repositories on the planet“, so Galison mit Verweis auf die Bibliotheken der Harvard University [Galison 2004: 230].

Diese „antiepistemology“ [ebd.: 236] ist, so kann man im Anschluss an Galison feststellen, vom Prinzip her keine neue regierende Geste (denn in Galisons Beispielen sind es staatliche Institutionen, die Klassifikationen und Geheimhaltungsstufen für Wissen definieren und festlegen); dennoch lässt sich seit dem zwanzigsten Jahrhundert ein rasanter Anstieg dieser Praxis verzeichnen. Die Geheimhaltung von klassifiziertem Wissen erscheint dann auch als eine vermehrte Verhinderung von Kommunikation. Dass seit 1800 eine Art Kommunikationsexpansion – zumindest aus technischer Sicht – stattgefunden hat, mag daher diesen kommunikativen Aspekt des Wissens und Verschweigens als Effekt dessen erscheinen lassen, was „Moderne“ genannt wird: Wo prinzipiell so viel Gewusstes wie nie zuvor nicht nur erschlossen, sondern auch eingesehen und tradiert werden kann, wächst auch auf der negativen Seite dieses Prozesses die Dunkelziffer an esoterischen, verschlüsselten und klassifizierten Wissensbeständen. Dass dies wiederum, wenn als Regierungstechnik verwendet, essenziell politisch, wenn nicht sogar eine Bedrohung der Demokratie ist – gerade dann, wenn die Klassifizierung von Wissen immer mehr algorithmisch betrieben wird und der Maßstab darüber, was gewusst werden darf und was geheim sein soll nicht gewählten oder anders legitimierten Repräsentanten, sondern mathematischen Operationen obliegt – darauf weist erneut Peter Galison hin [ebd.: 243].

Die Operationen des Geheimwissens und des Wissens um das Geheimnis gingen paradigmatisch Hand in Hand mit den epistemischen Bedingungen und Veränderungen ihrer jeweiligen Zeit. Im zwanzigsten Jahrhundert war dies besonders eine wie auch immer geartete Vorstellung von Vergemeinschaftung und Gesellschaft. Zwei der markantesten Gewährsfiguren der Soziologie, Georg Simmel und Niklas Luhmann, stellten diesen Zusammenhang zwischen Wissen, Geheimnis und Gesellschaft heraus: Für Simmel war gerade das geheime Wissen, bzw. der Ausschluss von diesem Wissen, eine sozialisatorische Komponente, die dazu diente, Gemeinschaften voneinander zu differenzieren [Simmel 1907]. So fordere die Teilnahme an bestimmten Gesellschaften nicht nur, bestimmte innere oder äußere Zustände die eigene Person betreffend zu verbergen (Träume, Begehren, unsittliches Benehmen), sondern auch, deren mehr oder minder geheime Codes zu kennen und zu bedienen; Simmel verband dies kurze Zeit später mit dem Begriff des Privateigentums, das durch einen Eingriff in das Geheimnis verletzt würde.[13] Sicherlich gab es weit vor dem zwanzigsten Jahrhundert sogenannte „Geheimgesellschaften“. Dass aber nun bei Simmel die Wissensfigur des Geheimnisses sogar als konstitutiv für Gesellschaft überhaupt[14] angesehen wurde, zeigt deren Status im modernen Selbstverständnis. Geheimnisse wurden aus diesem Grund laut Simmel auch attraktiv, weil sie schnell einen autoritären Status oder eine machtvolle Aura verleihen können. Wer ein Geheimnis besitzt, weiß mehr und vermeintlich Wertvolleres als der andere und stellt so Asymmetrien zwischen sich und den Nicht-Wissenden her. Geheimgesellschaften im klassischen Sinn operierten nicht zuletzt auf dieser Grundlage. Auch der paradigmatische Shift von „Sprache“ zu „Kommunikation“ trug dem Geheimnisbegriff im 20. Jahrhundert Rechnung. Besonders Niklas Luhmann hat die kommunikative Dimension des Sozialen und die damit einhergehenden Differenzierungsprozesse zur theoretischen Grundlage seiner Gesellschaftsanalysen gemacht. Im Anschluss an Luhmann und Peter Fuchs lässt sich sagen, dass das Geheimnis ein Effekt zweier Operationen ist: der Kommunikationsverhinderung und des Schweigens – wobei sich eine verhinderte Kommunikation letztlich meist als Schweigen darstellt [vgl. Luhmann/Fuchs 1989].

Aber nicht nur das Entfernen und Verschieben von Wissen in den Bereich des Klassifizierten, nicht nur das Moment der sozialen Differenzierung im Ent- oder Verbergen eines Wissensbestandes bildeten ein seit 1800 fortschreitendes Element des Spannungsfeldes „Geheimnis_Wissen“. Auch das Nicht-Wissen übt dabei eine entscheidende Rolle aus und ist in jüngster Zeit vermehrt Objekt epistemologischer Studien geworden. Nach Luhmann und Fuchs wäre das Objekt des Nicht-Wissens nicht nur das Verschwiegene, sondern auch das selbst Schweigende.[15] Besonders Robert Proctor und Londa Schiebinger haben mit dem Begriff „Agnotology“[16] die politische Dimension des Verschweigens oder Zum-Schweigen-Bringens als epistemologische Kehrseite mit politischen Implikationen zum Thema gemacht: „Agnotology refocuses questions about ‚how we know‘ to include questions about what we do not know, and why not“, so Schiebinger und führt weiter aus: „[I]gnorance is often not merely the absence of knowledge but an outcome of cultural and political struggle“ [Schiebinger 2005]. Der Unterschied des Nicht-Wissens zum Geheimnis liegt also darin, dass nicht etwa ein esoterisches Wissen für Eingeweihte produziert wird, sondern aktiv Ignoranz, Wissenslücken und Ungewissheiten hergestellt werden. Diese Beziehung haben Naomi Oreskes und Erik Conway in Bezug auf die bewusste Produktion von Unwissen über Klimaerwärmung und die negativen Folgen von Tabakrauch dargestellt [Oreskes/Conway 2010]. Auch Robert Proctor gilt die Tabakindustrie und die von ihr betriebene Forschung als Paradebeispiel der „Agnotology“ [Proctor 2011].

Schiebinger konzentriert sich in ihren eigenen Untersuchungen zur „Agnotology“ [Schiebinger 2004] nicht auf den in diesem Sammelband untersuchten Zeitraum, bietet aber eine Folie für aktuellere Untersuchungen aus dem Spektrum der Herstellung von Nicht- oder Unwissen. Die Tatsache, dass die Nichtwissensforschung im 21. Jahrhundert Konjunktur erlebte, kann als Indiz dafür gesehen werden, dass eben die Produktion von Nichtwissen immer mehr zu einem Problem geworden ist.[17] Damit wird immer deutlicher, dass auch die Produktion von Nicht-Wissen eine epistemische Tätigkeit ist, und somit immer auch ein im Foucaultschen Sinne produktives epistemisches Verhältnis, aus dem spezifische Praktiken, Positionen und Funktionen hervorgehen.

Diese Einleitung kann sich nicht zum Ziel setzen, alle Entwicklungen nachzuzeichnen, die das Auftauchen des Geheimnisses in veränderten Kontexten seit 1800 exemplifizieren können. Auch strebt der vorliegende Band keine Vollständigkeit an, sondern möchte die Diskussion reflektieren, die auf dem Workshop entstanden ist, der nicht nur, aber vor allem das Ziel hatte, unterschiedliche Bereiche des Wissens in einen Austausch zu bringen. Dementsprechend fand der Workshop in einer Kommentarstruktur statt, die verschiedene Wissenspraktiken und -bereiche in eine direkte Vermittlung stellen und damit Kontinuitäten und Brüche zwischen verschiedenen Strategien der Produktion von Wissen innerhalb der akademischen Welt sichtbar machen sollte.

Gerade diese interdisziplinäre Ausrichtung und die Kommentarstruktur des Workshops haben es mit sich gebracht, dass die Gliederung des Bandes zu einer nicht ganz so einfachen Aufgabe geworden ist. Denn die verschiedenen Diskussionen, die den Workshop gekennzeichnet und getragen haben, zeigten, dass die Verbindungen zwischen den Beiträgen sowohl auf systematischer als auch auf historischer Ebene vielfältig sind. Die Gliederung, die schließlich gewählt worden ist, sollte dementsprechend nicht als einziger Leseweg gesehen werden, sondern als ein vorläufiges Ergebnis einer Diskussion. Die Aufgabe dieser Einleitung ist es, auf verschiedene Verbindungen zwischen den Beiträgen hinzuweisen.

Die Fragen der epistemologischen Verbindung von Geheimnis und Wissen konzentrierten sich auf dem Workshop entlang vier verschiedener Achsen: die Frage nach gesellschaftlichen und staatlichen Politiken von Geheimnis und Wissen und den mit ihnen zusammenhängenden disziplinierenden Funktionen (I), die Frage nach dem Zusammenhang von Verheimlichung, Geheimnis und Wissen im Kontext von Krieg und staatlicher Regulierung von Information (II), die Frage nach der Verknüpfung von Geheimnis und Wissen hinsichtlich der Produktion eines identitären, gesellschaftlichen oder kolonialen Selbst (III) und die Frage nach der Ästhetik, d. h. hier den Weisen der Wahrnehmung von Geheimnis und Wissen im Rahmen von Literatur, Kunst und Politik (IV).                

 

(I) Die erste Sektion konzentriert sich vermehrt auf die Frage danach, wie das Geheimnis in staatliche, im weiteren Sinne ideologische, koloniale und herrschaftliche Politiken eingebunden war. Martin Herrnstadts und Andrew McKenzie-McHargs Beiträge eröffnen in dieser Hinsicht eine Perspektive auf die Zeit vor 1800. Andrew McKenzie-McHarg befasst sich in seinem Beitrag mit dem Problem, in welcher Weise nach dem Geheimnis von Geheimgesellschaften gefragt werden kann und welche Typen von Wissen über dieses Geheimnis überhaupt möglich sind. Er zeigt, wie das Geheimnis der Geheimgesellschaften sich im Rahmen einer sich entfaltenden Sphäre des Bürgertums und des Privatraums immer mehr ausdifferenziert hat und wie verschiedene Entwicklungen dazu führten, dass sich eine Hierarchie von Geheimnissen bildete. Martin Herrnstadt bietet eine Geschichte der longue durée und fragt nach der Entwicklung der Statistik in Frankreich vom mittleren 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In diesem Rahmen wird die Frage nach der Stellung des Staatsgeheimnisses anhand des Gegenstandes der Statistik gestellt und eine Periodisierung in der Entwicklung zum bürgerlichen Staat um 1800 vorgenommen, der das Staatsgeheimnis auf eine eigene Weise umdefinierte. Stefan Wedermann und Julian Stenmanns untersuchen anhand der von der Frankfurter Geographischen Gesellschaft 1910/11 unternommenen Expedition zum Sunda-Archipel die koloniale Funktion, die die Vorstellung von der „Entschleierung“ der Welt innerhalb der Konstruktion von geographischem Wissen hatte. Umgekehrt untersucht Daniel Hausmann für den Fall China, in welcher Weise die Kennzeichnung von informationalen Ordnungen als Ordnungen von Gerüchten ein Herrschaftsinstrument war, das die Dignität verschiedener Hierarchien von Informationen bei den herrschenden und den beherrschten Gruppen konsolidieren sollte. Marina Martinez Mateo beschreibt in ihrem Beitrag die Funktion des Geheimnisses innerhalb der politischen Sphäre und v.a. im Rahmen der sich entwickelnden demokratischen Strukturen seit dem 18. Jahrhundert. Das Geheimnis sei, so die These, innerhalb eines politischen Raums zwischen Souveränität und Subversion angesiedelt. Vor allem das subversive Potential des Geheimnisses im politischen Raum steht im Zentrum der Analyse.

Diese Sektion zeigt die Konsolidierung von Machtansprüchen durch unterschiedliche Formen des Geheimnisses und der Geheimhaltung. Die Produktion einer Asymettrie der Macht durch das Vorenthalten von Wissen konnte so auf staatlicher Ebene aufgezeigt werden, ebenso wie die Versuche, diese Macht durch die Produktion von neuen Geheimnissen in Frage zu stellen. Die Verbindung der Form des Staates und der Form seines Geheimnisses konnte so näher charakterisiert und die Verbindung von Wissen, Macht und Souveränität einer eingehenderen Beschreibung zugänglich gemacht werden.           

 

(II) Die zweite Sektion widmet sich dem Problem staatlicher Informationskontrolle in Kriegszuständen während des Zweiten Weltkriegs. Anne Peiter zeigt in dieser Hinsicht, inwiefern die repressive Politik des NS-Staates sich auf die Geheimhaltungspraktiken der durch die Geheimpolizei unterdrückten Dresdner jüdischen Bevölkerung auswirkte. Als Untersuchungsobjekt wurden Victor Klemperers Tage­bücher aus dieser Zeit gewählt, die hinsichtlich der Notwendigkeit, Geheimnisse und Praktiken der Geheimhaltung zu etablieren, für die NS-Zeit aufschlussreich sind. Es wird deutlich, dass die willkürliche Zuschreibung eines Geheimnisses durch die GeStaPo an die jüdische Bevölkerung als Terrorinstrument wesentlich Teil der NS-Verfolgungspolitik war. Konrad Linke untersucht die Frage, inwiefern im Kontext des Lagers, nämlich der Relocation Camps für Japanoamerikaner während des Zweiten Weltkriegs, das Geheimnis und das Gerücht sowohl von Seiten der Lagerinsassen als auch der Militärpolizei die Kontrolle über die Strukturen des Lagers mitbestimmte. Falko Bell stellt den Begriff „intelligence“ ins Zentrum seiner Überlegungen und fragt danach, welcher Typ von Geheimnissen mit diesem Begriff und den mit ihm verknüpften Praktiken des britischen Nachrichtendienstes verbunden war. In diesem Zusammenhang werden das Verhörsystem und die Funkentschlüsselungen näher betrachtet.

Die Herrschaftsfunktion, die mit der Zuschreibung, der Verwaltung und der Enthüllung von Geheimnissen erfüllt wird, kann so im Kontext von Kriegszuständen näher charakterisiert werden. Anhand dieser drei Fallstudien wird untersucht, in welcher Weise Wissensformen und -techniken sowie ihre Verhinderung wesentliche Teile von Kriegsstrategien waren und inwiefern diese Verbindung von Wissen und Geheimnis selber wiederum Wissensformen generierte. Die drei Beiträge zeigen, wie während des Zweiten Weltkriegs die Beziehung von Geheim- und Wissenspraktiken auf verhängnisvolle Weise verschärft wurde, wenn der Andere zum Feind wurde. So wird gezeigt, wie Geheimnisse spezifische Figuren des Anderen mitproduzieren: den Gegner und den Feind.

 

(III) Die dritte Sektion widmet sich der Frage, inwiefern die Beziehung von Wissen und Geheimnis bei der Konstitution eines Subjekts wirksam war. Hannah Holme untersucht in ihrem Beitrag die Strategien der Produktion eines Subjekts bei Judith Butler und Michel Foucault. Sie konzentriert sich auf die Frage, welche unterschiedliche Stellung in diesem Zusammenhang das Geständnis hat und inwiefern das Subjekt sich selbst dabei als Geheimnis produziert. Dabei zeigt sich, dass die Forderung, sich selbst Geheimnis bleiben zu dürfen, als widerständige Praxis innerhalb einer Wissensgesellschaft verstanden werden kann. Der Beitrag von Anja Gregor analysiert die Differenz, die die Selbstwahrnehmung intergeschlechtlicher Personen von einem hegemonialen medizinischen Diskurs trennt und die Art und Weise, wie sich dieser hegemoniale Diskurs auf die Selbstzuschreibungen jener Personen ausgewirkt hat. In diesem Zusammenhang ist es die Praxis der Verheimlichung von wesentlichen Informationen, die den medizinischen Diskurs über Intergeschlechtlichkeit prägt und die Produktion von Unwissen auf Seiten seiner Objekte. Der Beitrag zeigt, wie das Zusammenspiel von Wissenspraktiken des medizinischen Diskurses und der Produktion von Geheimnissen sich empirisch nachweisbar in der Konstruktion einer (intergeschlechtlichen) Identität niederschlägt. Robert Feustel untersucht, inwiefern in Rauschdiskursen des 19. Jahrhunderts eine epistemologische Schlüsselfigur aufgezeigt werden kann, die zur Kennzeichnung dessen, was unter „Subjekt“ verstanden wurde, aufschlussreich ist. Der durch Drogen induzierte Rausch wurde in diesem Zusammenhang als eine Erfahrung beschrieben, die ein nicht mitteilbares Geheimnis berge, das im Rahmen eines psychiatrischen Feldes Aufschluss über das „Geheimnis des Subjekts“ bieten könne: zum einen über das Wesen des Wahnsinns, der Unvernunft, zum anderen über die Frage, was das Prinzip der Ordnung und Einheit der verschiedenen Kontingenzen des Lebens war. Laurens Schlicht stellt in seinem Beitrag die Frage, in welcher Weise die Produktion von Bereichen, die vom Wissen ausgeschlossen waren, von blinden Flecken, eine Möglichkeitsbedingung für die Existenz bestimmter Epistemologien war. Er konzentriert sich auf die Sprachforschung in Frankreich um 1800 und untersucht dabei vor allem lebende Forschungsobjekte, die als tabula rasa stilisiert wurden.

Diese Sektion des Sammelbandes konzentriert sich also auf die Frage, in welcher Weise wissensproduzierende Systeme (medizinischer Diskurs, psychologischer und psychiatrischer Diskurs sowie Sprachforschung) selber Geheimnisse produzierten oder durch die Annahme von geheimnishaften Entitäten (dem Rausch) selber Wissensansprüche formulierten. Aus diesen Perspektiven wird insofern dargestellt, inwiefern die Generierung von Geheimnissen eine inhärente, epistemologische Funktion bei der Konstruktion von Konzeptionen des Selbst (des Subjekts, der Figur des „Patienten“, des Wahnsinnigen etc.) hatte.

 

(IV) Die vierte Sektion stellt die Frage nach den Wahrnehmungsweisen des Geheimnisses in den Mittelpunkt. Diese Ästhetik des Geheimnisses produziert wiederum auch unterschiedliche Politiken, so dass Sektion III und IV sehr eng zusammenhängen. David Jöckel fragt danach, wie bei Blanchot und bei Kafka Denken, Geheimnis, Schreiben und Sterben in einem Zusammenhang gebracht werden können. Im Zentrum seines Versuchs steht die Deutung des Schreibens als einer „zerfallenden und zerfällenden“ Tätigkeit, die in enger Verbindung mit dem Sterben steht. Christian Knirsch untersucht in seinem Beitrag die Persistenz einer Repräsentation des Geheimnisses in verschiedenen Textgattungen in einer übergeordneten historischen Perspektive. Dabei vertritt er die These, dass die Verwendung visueller Metaphern für die Beschreibung von Geheimnissen (der Schleier etwa) in literarischen Texten eine Heuristik auch für die Interpretation wissenschaftlicher und philosophischer Texte bieten kann, in welchen diese Metaphorik auf die gleiche Weise funktioniert. Sebastian Klinge untersucht anhand der US-Serien The Wire, Chuck und Person of Interest, wie Erzählungen zu Technologien des 21. Jahrhunderts reale technische Dispositive übersetzen und das Mensch-Maschine-Verhältnis verhandeln. Dass es sich dabei in allen drei Beispielen um Erzählungen von Technologien handelt, die entweder auf die Wahrung oder Offenlegung von Geheimnissen abzielen, macht das Spezifische der in den Serien dargestellten Techniken aus.

Diese Sektion widmet sich dem Verhältnis von künstlerischen Gestaltungsprozessen zu Wissensmöglichkeiten. Die hier untersuchten ästhetischen Prozesse suchen immer wieder und immer neu einen Zugang zum Geheimnis und geben diesem eine spezifische Form: als Schrift, als Metapher, als Narrativ. Diese künstlerische Beschäftigung mit dem Geheimnis und dem Wissen kann darüber hinaus eine Ressource für andere Wissensbereiche sein (der Übergang der Metapher des Schleiers in wissenschaftliche Texte etwa).

 

* * *

 

Die in diesem Band versammelten Beiträge zeigen damit, unter anderem, dass es eine komplexe Verbindung von Wissenspraktiken mit Geheimhaltungspraktiken gibt und gab: Es lässt sich nicht einfach sagen, dass durch eine Praxis der Geheimhaltung nur Wissen vorenthalten wird; diese Praxis selber generiert wiederum Typen von Wissen. Damit verbunden waren und sind normative Forderungen, die sich in die Generierung des Typs „bürgerlicher Öffentlichkeit“, den Jürgen Habermas beschrieben hat, und die mit ihm verbundenen normativen Möglichkeiten einfügen. Innerhalb dieses normativen Rahmens ist es möglich und es wird praktiziert, Wissen über „öffentliche“ Angelegenheiten öffentlich einzufordern und auf dem Recht auf das Geheimnis „privater“ Bereiche zu bestehen [vgl. Habermas 1990 [1962]]. Viele der Beiträge beschreiben das Auftreten von Konflikten zwischen realen Praktiken und diesem normativen Rahmen, einige das Zustandekommen von letzterem.

Der Workshop hat in dieser Hinsicht sicher mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben und deckt einen Teilbereich der möglichen Felder ab, die für die Generierung von Wissen über oder durch Geheimnisse stehen können. Gleichwohl wurde auch deutlich, dass das Konfliktpotential, das die komplexen Beziehungen von Geheimnis, Geheimhaltungspraktiken, Wissen und Wissenspraktiken kennzeichnet, einen bestimmten Typ von Fragen aufwirft. Dies betrifft einerseits immer wieder die im weiteren Sinne soziale, gesellschaftliche oder politische Beziehung, die durch Geheimnisse hergestellt wird. Andererseits wurde auch deutlich, dass verschiedene Typen von Geheimnissen und Geheimhaltungspraktiken epistemologische Fragen aufwerfen, die die Beziehung von Wissen, Lügen, Verschleierung und Verschweigen betreffen. Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erschien dabei als eine Zeit der Zentrierung von Diskussionen über neue Formen von Geheimnissen, die in der Folge durch technische Innovationen (wie dem Computer) oder aufgrund ihrer gesellschaftlichen Etablierung in veränderter Gestalt auftraten.

 

 

 

Quellen und Literatur

 

Adler, Hans 2007: Einleitung. In Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d‘être trompé? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, Band 1, Hg. von Hans Adler. Stuttgart-Bad Cannstatt, S. XIII-LXX.

Assmann, Aleida/Assmann, Jan 1997a: Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation. Einführende Bemerkungen. In: [Assmann/Assmann 1997: 7–17].

Assmann, Aleida/Assmann, Jan, Hg. 1997: Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit. München.

Assmann, Aleida/Assmann, Jan, Hg. 1998: Schleier und Schwelle. Geheimnis und Offenbarung. München.

Assmann, Aleida/Assmann, Jan, Hg. 1999: Schleier und Schwelle. Geheimnis und Neugierde. München.

Auroux, Sylvain 2000: Émergence et domination de la grammaire comparée. In: Histoire des idées linguistiques. Band 3: L‘hégémonie du comparatisme, Hg. v. Sylvain Auroux. Liège, S. 109–127.

Bayly, Christopher A. 2008: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914. Frankfurt am Main.

Bok, Sissela 1989: Secrets. On the Ethics of Concealment and Revelation. New York.

Böschen, Stefan 2004: Wissenschaft zwischen Folgenverantwortung und Nichtwissen. Aktuelle Perspektiven der Wissenschaftsforschung. Wiesbaden.

Desrosières, Alain 1993: La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique. Paris.

Engel, Gisela/Rang, Brita 2002: Einleitung. In [Engel/Rang/Reichert/Wunder 2002: 3–12].

Engel, Gisela/Rang, Brita/Reichert, Klaus/Wunder, Heide, Hg. 2002: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne. Frankfurt am Main.

Engelhardt, Anina/Kajetzke, Laura 2010: Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. Bielefeld.

Foucault, Michel 1974 [1966]: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main.

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[1]     Daniel Jütte untersucht die Frage nach dem Geheimnis und dem Geheimen im Zusammenhang mit der jüdischen Geschichte [Jütte 2012]; für einen ausführlicheren Literaturbericht, als wir ihn hier geben können, vgl. [Westerbarkey 2000: 20ff.]; der Sammelband von Engel, Rang, Reichert und Wunder thematisiert die Frage nach dem Status des Geheimnisses für die Frühe Neuzeit [Engel/Rang/Reichert/Wunder 2002]; ein klassischer Aufsatz zum Zusammenhang der Idee der Staatsräson mit religiöser Mystik als Ressource wurde von Ernst Kantorowicz vorgelegt [Kantorowicz 1955]; Keith Hutchinson hat aus historischer Sicht die Frage gestellt, inwiefern die Akzeptanz der Existenz „okkulter Qualitäten“ wesentlich zur epistemologischen Möglichkeitsbedingung der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts gehört hat [Hutchinson 1982]; in Bezug auf den Streit um das Ideal der Öffentlichkeit in der Epistemologie der Wissenschaften von den natürlichen Dingen im 17. Jahrhundert sei die klassische Studie Shapins und Schaffers genannt [Shapin/Schaffer 1985]; vgl. hier auch [Schröter 2011, Kugeler 2006].

 

[2]     Vgl. hierzu [Adler 2007], der einen Überblick über das Zustandekommen und die Einsendungen für diese Preisfrage gibt. Vgl. auch [Wahrig-Schmidt 2002], die für das Feld der geheimen Medikamente (Arkana, Panazeen) zeigt, wie im Lauf des 18. Jahrhunderts diese Form des Geheimnisses in der Medizin zwar zunächst ihren Namen behielt, aber der Sache nach verschwand. Gerade die Zeit um 1800 ist nach Wahrig-Schmidt der Übergang zu neuen medizinischen Praktiken, in denen eine gelehrte wissenschaftliche „persona“ produziert wurde, die das Ergebnis von staatlichen Regelungsprozessen war [ebd.: 479].

 

[3]     Vgl. dazu [Wallerstein 2003], der die These vertritt, dass mit der Erfindung des „Bürgers“ in der Französischen Revolution und den damit zusammenhängenden Kontroversen über die Gestalt der „Gleichheit“ wesentliche Weichenstellungen für die sozialen Konflikte des 19. Jahrhunderts gelegt wurden.

 

[4]     Jan Goldstein vertritt die These, dass diese Umstrukturierung des Systems der Ökonomie und der Erziehung einer der Gründe war, warum in Frankreich eine psychologische Wissenschaft entstand, die auf die Probleme der Destabilisierung des Subjekts antworten sollte, das seiner tradierten Strukturen verlustig gegangen war. Die Erfindung der Innerlichkeit als Antwort auf diese Destabilisierung war, so Goldstein, eine Strategie, die Sicherheit nicht mehr in äußeren, sich desintegrierenden Systemen zu suchen, sondern in einem – man kann sagen geheimnisvollen – Prinzip im Menschen [Goldstein 2005: 8ff.].

 

[5]     Eric Hobsbawm weist darauf hin, dass alte Organisationsformen von Geheimbünden in dieser Periode wichtige Ressourcen gesellschaftlicher Veränderung wurden: „Die Periode zwischen 1789 und 1848 zeitigte [...] eine Entwicklung der rituellen Organisation, die von beachtlicher Bedeutung in der Geschichte der Sozialbewegungen ist, von der Weltgeschichte ganz abgesehen. Während der ganzen Periode der drei französischen Revolutionen war die geheime revolutionäre Bruderschaft bei weitem die wichtigste Organisationsform, die die Gesellschaft Westeuropas veränderte, und sie war oft bis zu einem Ausmaß, das eher an eine italienische Oper als an eine revolutionäre Körperschaft erinnert, ritualisiert“ [Hobsbawm 1979 [1959]: 212].

 

[6]     Jürgen Habermas hat gerade in dieser Formierung der Bürgerlichkeit eine Dialektik erkannt, die sich zwischen dem Raum der „Innerlichkeit“ und der „Öffentlichkeit“ abspielte. In der Reaktion auf die Kritik Richard Sennetts am Strukturwandel der Öffentlichkeit führt Habermas aus: „Sennett trägt [...] Züge der repräsentativen Öffentlichkeit in die klassische bürgerliche hinein; er verkennt die spezifisch bürgerliche Dialektik von Innerlichkeit und Öffentlichkeit, die mit der publikumsbezogenen Privatheit der bürgerlichen Intimsphäre im 18. Jahrhundert auch literarisch zur Geltung gelangt. Weil er die beiden Typen von Öffentlichkeit nicht hinreichend unterscheidet, glaubt er, das diagnostizierte Ende der ‚Öffentlichen Kultur‘ mit dem Formenverfall des ästhetischen Rollenspiels einer distanziert unpersönlichen und zeremonialisierten Selbstdarstellung belegen zu können. Der maskierte Auftritt, welcher private Gefühle, Subjektives überhaupt den Blicken entzieht, gehört aber zu dem hochstilisierten Rahmen einer repräsentativen Öffentlichkeit, deren Konventionen schon im 18. Jahrhundert zerbrechen, als sich die bürgerlichen Privatleute zum Publikum und damit zum Träger eines neuen Typs von Öffentlichkeit formieren“ [Habermas 1990: 17]. Wenn man in der Habermasschen Terminologie bleibt, so lässt sich sagen, dass die Bühne jener „repräsentativen Öffentlichkeit“ sich obiger These zufolge innerhalb der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ in den Raum des „Privaten“ verschob.

 

[7]     Diese Verschiebung ist hinreichend beschrieben worden. Einen Überblick aus globaler Perspektive boten in jüngerer Zeit [Bayly 2008: 110ff.] und [Osterhammel 2009]. Eine komprimierte Darstellung bietet [Schäfer 2009]; ein Klassiker der Bürgertums-Historiographie ist [Gall 1993].

 

[8]     Ähnliche Anregungen, die Frage nach dem Geheimnis auf einer epistemologischen Ebene zu stellen, finden sich auch bei [Hutchinson 1982]; man kann sagen, dass diese historisch-epistemologische Frage spätestens seit dem Erscheinen der Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos virulent ist, in der das Geheimnis und seine Zerstörung schließlich eine wesentliche Rolle in der Dialektik von Aufklärung und Mythos spielt.

 

[9]     Vgl. hier auch [Assmann/Assman 1997a: 9], die in folgender Passage auf die „soziale Funktion“ des Geheimnisses zu sprechen kommen: „Man kann das‚Geheimnis‘ in seinen typischen Gegenständen behandeln und es in Welträtsel (arcana mundi), religiöse Mysterien (arcana Dei), Staatsgeheimnisse (arcana imperii) und Herzensgeheimnisse (arcana cordis) unterteilen. Man kann das Geheimnis aber auch im Sinne Simmels in seiner reinen Form behandeln, als strukturierendes Prinzip der gesellschaftlichen Welt. Als soziale Funktion hat das Geheimnis gar keinen spezifischen Inhalt, sondern besteht in der Verheimlichung der Tatsache, daß es im Grunde gar kein Geheimnis gibt“.

 

[10]    Geoffrey Harpham zeigt in einem jüngeren Aufsatz sehr schön, wie diese Vorstellung von Ursprung sich bei den deutschen Sprachforschern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts von einem Interesse für bekannte „Ursprachen“ wie Hebräisch oder Sanskrit zu einer unbekannten Sprache verschob, für die diese Sprachen nur noch Spuren waren [Harpham 2009: 44]. Vgl. hierzu auch [Messling 2012].

 

[11]    Vgl. hierzu [Auroux 2000: 14]: „Les succès des études indo-européennes font que l‘étude de toutes les langues du monde est embrigadée dans le paradigme comparatiste. Il est indéniable que le XIXe siècle a connu davantage de travaux linguistiques que tous les siècles qui l‘ont précédé. Il est tout aussi vrai que, quand bien même missionnaires et soldats continuent de rédiger des monographies dans l‘intérêt essentiel de la colonisation et sur le modèle des grammaires traditionelles [...], le modèle comparatiste devient peu à peu la seule référence théorique“.

 

[12]    Vgl. hier [Soll 2011], der den Aufbau eines staatlichen Informationssystems unter Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) beschreibt.

 

[13]    Vgl. [Simmel 1908: 350]: „Wie das materielle Eigentum gleichsam eine Ausdehnung des Ich ist – Besitz ist eben, was dem Willen des Besitzers gehorcht, wie, in nur gradueller Unterschiedenheit, der Leib, der unser erster ‚Besitz‘ ist – und wie deshalb jeder Eingriff in den Besitzstand als eine Vergewaltigung der Persönlichkeit empfunden wird, so gibt es ein geistiges Privateigentum, dessen Vergewaltigung eine Lädierung des Ich in seinem Zentrum bewirkt.“.

 

[14]    „[E]s ist überhaupt kein andrer Verkehr und keine andre Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den andern beruht“ [Simmel 1908: 341].

 

[15]    Aus epistemologischer Sicht ist diese Metapher kompatibel mit den als „Kosmopolitik“ bezeichneten Ansätzen Bruno Latours und Isabelle Stengers‘, die eine Kritik des Ausdrucks „die Fakten/Tatsachen Sprechen für sich“ zum Ansatz hat [s. Latour 2010; Stengers 2008]. Im Umkehrschluss dazu wären die Dinge, Tatsachen und Fakten, die nicht für sich sprechen und über die nicht gesprochen wird, ein epistemologischer Anreiz, dieses (Ver-)Schweigen zu brechen.

 

[16]    Erste Ansätze auf dem Feld der „Agnotology“ waren die von Proctor und Schiebinger zu diesem Thema organisierten Konferenzen an der Pennsylvania State University 2003 und an der Stanford University 2005. Beide Konferenzen boten erste Überblicke zu möglichen Untersuchungsobjekten und Methoden der Untersuchung von Nicht-Wissen. Vgl. auch den aus diesen Konferenzen entstandenen Sammelband [Proctor/Schiebinger 2008].

 

[17]    Von 2003–2007 gab es an der Universität Augsburg etwa ein Projekt zu diesem Thema unter dem Titel „Nichtwissenskulturen. Analysen zum Umgang mit Nichtwissen im Spannungsfeld von epistemischen Kulturen und gesellschaftlichen Gestaltungsöffentlichkeiten“ (Stefan Böschen/Jens Soentgen/Peter Wehling/Karen Kastenhofer/Ina Rust) [vgl. hierzu bspw. Böschen 2004].