Inhaltsverzeichnis
Einleitung
7
Die Bestimmung des Einzelseienden durch
die Begriffe contractio,
singularitas und aequalitas bei
Nicolaus Cusanus. 25
Nicolaus Cusanus und Bonatentura. Zum
Hintergrund von
Cusanus’ Gottesname
›possest‹ 59
Der Bild-Begriff bei
Cusanus. 77
Renovatio und unitas. Nicolaus Cusanus
zwischen Tradition und Innovation – Die ›Reformation‹ des
Möglichkeitsbegriffs 105
Philosophie und Religion bei Marsilio
Ficino 123
Mens und intellectus. Überlegungen zum
Status des menschlichen Geistes in der Philosophie des Marsilio
Ficino 157
Marsilio Ficinos
Platon-Kommentar 189
Platon in der Renaissance: Marsilio
Ficino und Francesco Patrizi 227
Die Seele als Selbstverhältnis. Der
Begriff ›Seele‹ und seine Bedeutung zu Beginn der Frühen Neuzeit
(Marsilio Ficino) 243
Liebe als universales Prinzip. Zur
Auseinandersetzung mit Platons Symposion im Denken der Renaissance:
Marsilio Ficino und ein Ausblick auf die Liebes-Traktate des
16. Jahrhunderts 259
Marsilio Ficino und Dionysius
Areopagita. Rezeption und Transformation des dionysischen Denkens
durch Ficino 283
Marsilio Ficinos Theologia Platonica
und Francesco Patrizi 293
Zum Begriff des ›Geistes‹ in der Frühen
Neuzeit. Überlegungen am Beispiel Francesco Patrizi da
Chersos 309
Francesco Patrizis Poetik des
Wunderbaren. Zur anthropologischen Funktion der Dichtung in der Frühen
Neuzeit 331
Patrizi und Proklos 351
Literatur 373
Abgekürzt zitierte
Literatur 373
Weitere Werke von Ficino
374
Literatur 375
Nachweise 392
Über den
Autor 395
Einleitung
I. Präliminare Überlegungen zum Begriff ‚Renaissance‘:
Der
Begriff ‚Renaissance‘ bezeichnet eine Epoche und ist, wie nahezu alle
Epochenbezeichnungen, also wie ‚Antike‘, ‚Mittelalter‘ oder ‚Neuzeit‘, schon
selbst Ausdruck eines Programms oder sogar eines Projektes.
Seine Entstehung verdankt sich einem nicht leidenschaftslosen Interesse an
der Entwicklung der Geschichte als Kultur- und Geistesgeschichte und auch,
spätestens seit den großen Entwürfen des Deutschen Idealismus, als
Philosophiegeschichte oder Geschichte des Denkens. Was ‚Renaissance‘ meint,
ist ‚für uns‘ nur noch rekonstruierbar als Resultat eines lang anhaltenden
Selbstanreicherungsprozesses in der Semantik dieses Begriffs (und
vergleichbarer Begriffe), die schon in dem durch den Begriff selbst
angezeigten Zeitraum beginnt (was nicht selbstverständlich ist) und die vor
allem im 19. Jahrhundert noch einmal einen kräftigen Impuls erhalten wird.
Der Ausdruck ‚Renaissance‘ geht sicherlich zurück auf sprachliche Bildungen,
die aus der Zeit des späten 14. und des 15. Jahrhunderts überliefert sind
und die sämtlich Resultat einer bewußten, teilweise ideologisch kalkuliert
inszenierten Positionierung des sie verwendenden Autors innerhalb der
Debatte um Selbstdistanzierung der Kultur des Humanismus von derjenigen der
vorausliegenden Zeitepoche darstellen. Die vorsichtige, möglichst neutrale
Formulierung „vorausliegende Zeitepoche“ verweist schon darauf, daß ich es
vermeiden möchte, den Gegenbegriff ‚Mittelalter‘ hier umstandslos
vorauszusetzen: der Ausdruck Mittelalter ist selbst Produkt derjenigen
Diskussion, die auch den Ausdruck Renaissance hervorgebracht hat – in
gewisser Weise ist der eine ohne den anderen nicht denkbar, wenn auch das,
was sie jeweils im Einzelnen bedeutet haben und jetzt noch bedeuten, auch
ohne diesen Gegenbegriff formulierbar ist. So kann ‚Mittelalter‘ einfach
zwischen ‚Antike‘ und ‚Neuzeit‘ gesetzt werden, ‚Renaissance‘ kann auch nur
als in Bezug auf die Antike stehend gedacht werden. Aber dieses ‚Kann‘ ist
schal gegenüber der komplexen Dialektik der Begriffsgenese und
Begriffsgeschichte.
Was zunächst die äußerlichen, also zeitlich quantifizierbaren „Grenzen“
dessen, was mit der Epochenqualifikation ‚Renaissance‘ begründet gemeint
sein kann, betrifft, so schließe ich mich der nüchternen Bestandsaufnahme
Paul Oskar Kristellers aus dem Jahre 1982 an (mit dem ich ansonsten durchaus
in vielen anderen Punkten nicht einer Auffassung bin): „If we were to
combine the latest date proposed for the beginning of the Renaissance with
the earliest date proposed for its conclusion, we would give the period a
timespan of twenty-seven years.
Inversely, if we were to choose the earliest date proposed for its beginning
and the latest date for its termination, we would give the period more than
four hundred years duration. Of course, this does not even take into account
those who deny that the Renaissance ever existed and consider 1500 to be the
year in which the Middle Ages gave away to the Modern Age“. Er zieht dann
die Konsequenz: „It would seem best to concentrate on quality rather than
quantity, and define the Renaissance as European civilication from 1300 or
1350 to about 1600“.
Indem ich diese
mittlere Position übernehme, also weder die Reduktion auf einen extrem
kurzen Zeitraum, noch die Extension auf eine Großepoche (der ich eher die
Bezeichnung ‚Frühe Neuzeit‘ zuweisen würde), noch gar die völlige Negation
sinnvoller Verwendung unseres Begriffs mitmache, gestehe ich zur gleichen
Zeit zu, daß ‚Renaissance‘ kein leerer Begriff ist und daß es eine auch
qualitativ bestimmbare Epoche gegeben hat, auf die dieser Begriff als
sinnvolle Bezeichnung zutrifft.
Die
etwa in dem Begriff ‚Renaissance‘ (zunächst soviel wie: Wiedergeburt,
Erneuerung) gebündelten semantischen Implikationen sind für die
rückblickende Aneignung der genuin philosophischen Texte dieser Epoche lange
Zeit, anhebend mit der Aufklärung, bestimmend gewesen.
Es steht heute so ziemlich fest, daß die Genese des Epochenbegriffes
‚Renaissance‘ sich dergestalt vollzog, daß einem seit Francesco Petrarca
(1304-1374) festmachbaren beginnenden Bewußtsein von Epochenschwelle mit
einer komplexen und uneinheitlichen Verwendung des Bildes der „Wiedergeburt“
(italienisch: rinascita) dann im 16.Jahrhundert eine bewußte Periodisierung
folgte, die an den Namen Giorgio Vasari (1511-74) geknüpft ist. In dessen
berühmten Vite de'piu eccellenti architetti, pittori et scultori italiani
von 1550 wird „das Jetztbewußtsein, das sich vom Mittelalter absetzt, (..)
selbst schon historisch“ (Stierle)
und Vasari ist es auch, der zum ersten Mal das Substantiv „rinascita“
bildet. Es ist also die Kunstgeschichte, in der die Wiedergeburt der Antike
als solche epochalen Rang erhält, und folgerichtig ist es auch die
Kunstgeschichtsschreibung gewesen, deren Spezialgeschichte „am meisten im
Zeichen der rinascita“ stand.
Allerdings setzen sich weit vor dieser beginnenden Reflexion der Kunst auf
ihre eigene Geschichte schon seit Petrarca im allgemeinen kritischen
Bewußtsein der Humanisten zu dem, was ‚für sie‘ Eigenzeit,
Zeitgenossenschaft sowie Geschichte bedeuten konnte, im hierfür
einschlägigen italienischen Sprachraum verschiedene qualifizierende Begriffe
durch: rinascita (Wiedergeburt), ressurezione (Wieder-Auferstehung),
restaurazione (tätiges Wiederherstellen) oder risorgimento (Bild des
Hervortretens einer Quelle, die versiegt war), novità
– alles Begriffe, die in der politisch-ideologischen Historiographie des 19.
Jahrhunderts dann wieder zu Schlagwörtern werden sollten. Qualifizierend
kann man dieses Set an Begriffen deswegen nennen, weil es sich und damit
auch die es gebrauchenden Autoren generell und pauschalisierend gegen die
„tenebrae“, die Dunkelheit und Finsternis der vorangegangenen Zeit (id est:
des sogenannten Mittelalters), absetzen will und soll.
Die diesen Begriffen gemeinsame Markierung der Diskontinuität ist somit von
Anfang an mit dem eindringlichen Gegensatz von Licht und Dunkelheit und
dessen suggerierter Konnotation von Gut und Böse, Wahrheit und Falschheit,
Positivität und Negativität verbunden. Wie der Blick auf Vasari zeigte, wird
schon Mitte des 16. Jahrhunderts „rinascita“ unter den substantivierten
Schemata für den Rückblick auf den Anbruch der Jetztzeit am geläufigsten.
Die hiermit verbundenen Wertungen gingen dann, vermittelt über die
Entwicklung in Frankreich, insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert in den
Begriff von Renaissance, Neuzeit oder Moderne ein.
Denn immer stärker wurde der Name, den die Epoche schon früh (spätestens
eben durch Vasari) erhielt, in der Folge zum sprachlichen Träger der immer
differenzierteren bewußten Aneignung, in der die Zeit allererst erfaßt wird
und die namentliche Bezeichnung ihren inbegrifflichen Sinn erhält.
Rückblickend wurde diese Epoche jetzt zur Vorgeschichte des modernen
Bewußtseins erklärt. Die damit verbundenen, stilisierenden aber
wirkmächtigen und zentralen Vorurteile einer (i) ein- und erstmaligen
„Revolution des menschlichen Geistes“ (d‘Alembert), die schon das Licht der
(rationalen) Vernunft und die Autonomie des Subjektes konnotiere,
und einer (ii) einseitigen und der Intention nach vollständigen Ableitung
dessen, was in und an dieser Epoche „von Bedeutung ist“, aus dem Reichtum
antiker Überlieferung, werden die Diskussion bis in die jüngste Zeit
zumindest mitbestimmen, wenn nicht gar unterschwellig tatsächlich bestimmen.
Die Aufklärung etwa betrachtete sich in diesem Sinne klar als legitimen
Erben der Renaissance, aber die Renaissance wurde dadurch eben umgekehrt zu
einer Art Vor-Aufklärung. Über Michelet
und Burckhardt wandert diese Vorstellung, die genuin mit dem
Rechtfertigungsproblem der Moderne überhaupt verbunden ist und die sich auf
die „Entdeckung des Menschen als eines autonomen Vernunftwesens“ verengt, in
den Bereich der historischen Renaissanceforschung ein. So diente etwa die
emphatische Auslegung von ‚Renaissance‘ als Wiedergeburt des Klassischen
eindeutig als historisch abgestütztes Argument in kultur- bzw.
schulpolitischen Auseinandersetzungen, deren humanistische Entscheidungen
bis in den Latein-und Griechisch-Unterricht der zweiten Hälfte unseres
Jahrhunderts Auswirkungen hatten.
Die Herausgeber der Cambridge History of Renaissance Philosophy
konstatieren, mit Blick auf das 19.
Jahrhundert, folgenden Sachverhalt: „Even when Renaissance writers were
discussed, they were generally treated as pawns in the philosophical battles
of later centuries, not as thinkers of their own age and their own right“.
Ein bedeutendes
Beispiel für solch eine Rollenspielstruktur stellen die einflußreichen
Diagnosen von Jakob Burckhardt dar, dessen Einfluß auf die Einschätzung
dessen, was ‚Renaissance‘ heiße und bedeuten könne, in Deutschland von
unabsehbarer Reichweite waren. Er bestimmte den Bedeutungskern unseres
Epochenbegriffs als Entdeckung der Natur des Menschen und des Individuums.
Während im Mittelalter der Mensch sich nur „in irgend einer Form des
Allgmeinen“ erkennen konnte, etwa als Volk, Partei, Korporation, Familie,
verschwinde dieser „Schleier“ im Italien der Renaissance: „es erwacht eine
objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämmtlichen Dinge
überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjective,
der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches“.
Solche und andere Sätze hatten eine weitgehende Wirkung, die Verwendung von
Begriffen wie ‚das Subjective‘ intensivierten die anachronistische Deutung
der Renaissance als Vor-Aufklärung, Proto-Idealismus oder überhaupt Anfang
der eigentlichen, nämlich vom Subjekt ausgehenden Philosophie. Auch ein so
verdienstvolles und in vieler Hinsicht die Diskussion immer noch bewegendes
Werk, wie dasjenige Ernst Cassirers,
gehört in seiner deutlich neukantianischen, eine kontinuierliche
Entwicklungslinie des Denkens hin zum ‚kritischen‘, ‚rationalistischen‘
Wissenstyp aufweisen wollenden Gesamtanlage in diesen Zusammenhang: auch
hier ist letztlich qualifizierender (aus Kant und der neukantianischen
Schule gezogener) Gradmesser des Fortschritts vor allem die
Erkenntnistheorie der einzelnen Hauptautoren. Es ist dieses Deutungsmuster,
das in der Folge durch intensive Quellenarbeit, Übersetzungstätigkeit und
hermeneutisch reflektierte Interpretationen kritisiert und auch zurecht
zurückgewiesen werden mußte, um zu einem Begriff von ‚Renaissance‘ zu
gelangen, der diese Epoche in ihrer komplexen Zwischenstellung zwischen
unterschiedlichen Polen – in unterschiedlicher Tiefenschärfe: zwischen
Antike und Moderne, zwischen Mittelalter und Neuzeit, zwischen Nominalismus
und Realismus etc. – Ernst nehmen kann.
Der
schwierige Epochentitel ‚Renaissance‘ kann daher weder nur als bloße
Diskontinuität zum Mittelalter, also als unmittelbarer Rückgriff auf die
Antike und als davon alleine ausgehende Restitution des Klassischen,
Ausgewogenen, Proportionalen und Einfachen in der Theorie und dem Bereich
des Praktischen verstanden werden, noch ausschließlich und ebenso verkürzend
als bloße Vorstufe zum Rationalismus des 17. Jahrhunderts. Die vermeintliche
Klarheit darüber, daß wir uns im 15. Jahrhundert nicht mehr im
Mittelalter befinden ist nicht weniger trügerisch als die, daß wir uns
schon, wenn auch nur in nuce, auf der Stufe, wie immer problematisch
diese auch sein mag, des Rationalismus vom Typ eines Descartes befinden.
Beide Evidenzen haben jedoch andererseits auch ein fundamentum in re: so
nahe Cusanus, Ficino oder Pico auf je verschiedene Art und Weise auch dem
inhaltlich komplexen und sprachlich hochdifferenzierten Diskurs des späten
Mittelalters sein mögen, sie sind keine genuinen Repräsentanten dieses
Diskurses mehr; und, auf der anderen Seite, so fern die kristallinen und
durch präzise Trennschärfe ihrer Begriffe geprägten Theorien des
Rationalismus auch sein mögen, bestimmte Aspekte der Intellekt-Theorie der
Renaissance weisen schon unwiderstehlich zumindest auf ihre sachliche und
historische Möglichkeit hin. Trotz dieser historischen Evidenzen, die unsere
Epoche gegenüber dem Mittelalter abgrenzen und gegenüber der Neuzeit öffnen,
ist es jedoch für eine sachangemessene Rekonstruktion des Befundes
unabdingbar – und dies gilt nicht nur in philosophicis –, die Probe auf
deren Umkehrung zu machen: also zum einen mit der Öffnung gegenüber dem
Mittelalter, d. h. die Diskussion des späten Mittelalters ist in bestimmten
Aspekten, z. B. des Individualitäts- oder Singularitätsbegriffs, dem
Gedanken der Kontraktion, der quantifizierend-kalkulatorischen
Bewegungsanalyse, dem Problem des Nominalismus und der Methodologie, der
Theorie des Lullismus, ein integraler Bestandteil philosophischer Theorien
des 15. und 16. Jahrhunderts die nicht schon selbst schulphilosophische
Texte sind.
Und zum anderen: Absetzung gegenüber der Neuzeit, d. h. die Systemstruktur
wie auch zentrale Theoreme des Rationalismus, etwa die vollständige
Entseelung und Mechanisierung der Natur (res extensa) oder die apriorische
Hypothesenbildung Galileis sind keine Implikate des Denkens des 15.
Jahrhunderts. Eine methodisch bewußte Verschränkung und kritische
Ponderierung dieser gegenstrebigen Ansätze allein kann den Boden schaffen,
um das komplexe Phänomen dieser Epoche besser beurteilen zu können, einer
Epoche, die ansonsten ihr Spezifisches aufgelöst finden wird in der
respektiven Zuweisung an nur nachbereitende oder vorbereitende
intellektuelle Leistungen: 1. Renaissance als Wiedergeburt des Alten, 2.
frühe Neuzeit als Vorbereitung des Neuen der Neuzeit, der Moderne, also nur
als Übergangsphase vom einen zum anderen noch wahrnehmbar bleibt oder als in
sich gespaltene, janusköpfige Zeit.
Hans
Blumenberg konstatierte schon in seinem Buch Aspekte der Epochenschwelle,
daß der „unmerkliche Limes“ der Epochenwende für das historische Bewußtsein
nur durch eine sich von beiden Seiten annähernde Differentialanalyse
ermitteln lasse.
Seine Protagonisten sind dafür Cusanus und Giordano Bruno, die gleichsam das
Noch-nicht und das Schon der „neuen Wirklichkeit“ der Neuzeit markieren.
Indem Blumenberg die Epochenschwelle oder den Limes ins Epizentrum des an
Personen und Personen- oder Ereignisdaten gebundenen
historisch-chronolgischen Prozesses stellt, will er vermeiden, was er die
Erosion der Gründerfiguren nennt (S. 22, z. B. Kolumbus, Luther,
Kopernikus, Descartes). Der Limes soll unterhalb der chronologischen Axe
verlaufen, die selbst, wie man sagen könnte, keinen absoluten Anfang kennt,
sondern immer nur schon angefangen Habendes. Es ist, vermutlich nicht nur
aus Gründen der Zeit, die hier zur Verfügung steht, nicht möglich, diese
fundamentalen Probleme unseres Umganges mit Vergangenem einer letzten
Klärung zuzuführen. Für den Zweck einer präliminaren Betrachtung muß der
Hinweis auf die auch nach einem halben Jahrhundert nicht abgenommene
Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit und des Bewußthaltens von dem
Problematischen und Aporetischen der Epocheneinteilungen und
Periodisierungen von Geschichtlichem genügen. Der „Limes“ der
Epochenschwelle scheint, wie die Horizontlinie, die ja auch das Oben und
Unten teilt und eine Grenzscheide ist, zu entschwinden, je mehr man sich ihm
nähert, scheint sich immer tiefer in die Unauslotbarkeiten der
Mikrostrukturen und Singularitäten zurückzuziehen. Daß dadurch unser
allgemeines und übergreifendes Vokabular, mit dem wir den Limes benennen und
ihm einen inhaltlichen Bezug verleihen, immer stärker ausgehöhlt und
nominalisiert wird, ist ebenso klar wie die reale und nicht selbst
nominalisierbare Tatsache der Unabweisbarkeit seiner Funktion und Benutzung:
es ist für jeden, der sich mit den Texten des Francesco Petrarca oder des
Nicolaus Cusanus befaßt klar, daß er hier nicht mehr auf dem festen Boden
einer scholastischen oder spätscholastischen Sprach- und Denkform steht, und
es ist für jeden Leser des Giordano Bruno ebenso unabweislich klar, daß er,
trotz allem Vorausweisenden seiner unerhörten Spekulationen, noch nicht sich
im Zeitalter der rationalistischen Systementwürfe oder einer historia
litteraria und ihrer Wissenskumulationen befindet. Wenn in den folgenden
Ausführungen der Ausdruck ‚Frühe Neuzeit‘ verwendet wird, so nicht um die
Verwendung von ‚Renaissance‘ zu vermeiden oder zu korrigieren, sondern um
die verhandelten Probleme in einen größeren Horizont zu stellen. Unter
‚Frühe Neuzeit‘ verstehe ich eine Großepoche, die verschiedene Teilepochen
in sich einschließt. Ihre Grenzen fallen, was den Beginn betrifft, zusammen
mit der Renaissance – es würde Sinne machen, sie mit der Gestalt Francesco
Petrarcas (1304-74) beginnen zu lassen (also mit dem frühen Humanismus) –
ihr Ende hingegen liegt weit jenseits dessen, was hier als Renaissanceepoche
verstanden wird: es endet mit dem Ende der scholastischen Tradition in der
späten Form, die wir im Denken des Christian Wolf finden.
Dieser größere Horizont ist es, auf den ich manchmal verweise, wenn es um
die im nächsten Abschnitt näher dargelegten spezifischen Inhalte geht, die
ich anhand des Denkens von Cusanus, Ficino und Patrizi erörtern möchte.
II. Hinweise auf das, was in diesem Buch zu finden ist
Auch
wenn die hier vorgelegten Beiträge zur Geschichte des Denkens tatsächlich
den mit dem Begriff ‚Renaissance‘ gemeinten Zeitraum betreffen – Cusanus
lebte von 1401-1464, Ficino von 1433-1499, Patrizi von 1529-1597 –, so
stellen sie dennoch zunächst keinen Beitrag zu der komplizierten Debatte um
den Begriff ‚Renaissance‘ dar, wenn sie auch nicht ausschließen wollen,
etwas zum näheren Verständnis bestimmter Diskussionen und intellektueller
Entwicklungen innerhalb des durch diesen Begriff abgesteckten Zeitraumes
beitragen zu können. Es geht in allen diesen Beiträgen vielmehr um
Sachprobleme philosophischer Provenienz, die so verschiedene Bereiche wie
die Ontologie, Metaphysik, Geisttheorie, Physik, Poetik und die
Kommentierung von Texten betreffen. Sie sind um drei Hauptautoren gruppiert,
die die philosophische Entwicklung außerhalb der Universitäten nachweislich
intensiv vorangebracht und stimuliert haben. Daß der Bereich des
Universitären mit seinen bis über das ganze 16. Jahrhundert hinein aktiven,
hochdifferenzierten schulphilosophischen Diskussionen hier ausgeklammert
ist, ist ausschließlich den Interessen des Verfassers verdankt, der diesen
Filiationen des Denkweges über einen längeren Zeitraum immer wieder
nachgegangen ist und natürlich auch damit, daß der Umfang dieses Buches
einfach zu groß geworden wäre, wenn man etwa die naturtheoretischen Debatten
an der Universität Padua oder die Diskussionen um terministische Logik an
der Universität Paris, die aller zeitgleich ebenfalls stattfanden, mit
hinein genommen hätte.
Es hat also nichts mit einem Wegschieben oder Ignorieren zu tun oder gar der
möglicherweise unterstellbaren Einstellung, hier habe es keinen Austausch
und keine wechselweise Einwirkung gegeben.
Es ist
zudem unzweifelhaft, daß es eine ‚platonische‘ Denk- und auch Lebensform in
der Renaissancephilosophie gegeben hat und es ist hinreichend komplex, die
verschiedenen Formen, in denen sich diese ausgeprägt haben, möglichst
sachangemessen darzustellen. Die Denker, die hier des Näheren zur Sprache
kommen werden, sind durchweg eigenständige Persönlichkeiten, besondere
Individuen, deren Leben selbst noch einmal ein gewisses Interesse erzeugen –
das durch viele Reisen in diplomatischem und seelsorgerischem Dienst, durch
Konzilstätigkeit und Kirchenpolitik geprägte Leben des Kardinallegaten
Nicolaus Cusanus, das einem iter europeum gleicht, das durch versammelnde,
inspirierende Kraft geprägte Dasein des Marsilio Ficino in einem Florenz, in
dem sich unter anderem auch Cusanus, aber auch viele andere bedeutende
Persönlichkeiten der Zeit aufhielten und in dem er nicht nur den Kreis, der
durch den Titel Academia Platonica bezeichnet wird, um sich versammelte,
sondern für so unterschiedliche Intellektuelle wie Angelo Poliziano oder
Giovanni Pico ein Bezugspunkt gewesen ist, das durch abenteuerlich Reisen,
Bücherkäufe (Patrizi besaß eine der umfangreichsten und vor allem auch durch
Raritäten gekennzeichnete Privatbibliotheken seiner Zeit, die er
schließlich aus Geldnot an den spanischen Hof verkaufen mußte)
und die akademischen „studi(ol)a“ Nord- und Mittelitaliens (Ferrara, Padua,
Rom) geprägte Leben des Kroaten Francesco Patrizi (Frane Pétric), der
schließlich die Ehre hatte den ersten universitären Lehrstuhl für
Platonische Philosophie (eingerichtet durch Papst Paul III.) an der Sapienza
in Rom besetzen zu dürfen. Um diese biographischen Falten und fata
allerdings geht es im Folgenden nicht, sie sind an anderen Stellen
nachzulesen.
Es geht vielmehr um die philosophischen Implikationen, die in den
begrifflichen Bildungen und systematischen Ansätzen dieser Denker angelegt
sind und um deren Potential. Dies sind Potentiale, die die Ontologie, die
Intellekttheorie, die Sprachtheorie, die Naturtheorie und die studia
humanitatis (Historik, Poetik) betreffen. Es geht also um den Begriff des
„Geistes“ (mens, intellectus), um die Stellung und Funktion der Seele im
Sein, um Fragen der Ontologie (das Einzelseiende, den Möglichkeitsbegriff),
um die Bedeutung der Religion, um die Funktion der Liebe im Aufbau der Welt
und zwischen den Individuen, um die Kompetenzen der Sprache (Kommentar,
Dichtung), um die Entfaltungskraft des Individuums (Kunst) und natürlich
auch um rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge (Bonaventura-Cusanus,
Ficino-Patrizi etc.). Ein alle diese Themen in der Wurzel verbindender Tenor
ist die begründete Annahme von Einheiten, die aus sich selbst heraus sind
oder wirklich sind, die autark sind und die aus dieser starken Form von
Einheit und Einssein heraus selbst wiederum Ursache und Prinzip für andere
Einheiten sind, etwa für die Realisierung von ethischen Handlungen, von
Tugenden, von gelingendem Leben als Person, von politischem Existenzraum,
von Kunstwerken. Alle diese realisierten Einheiten
sind Teile der Wirklichkeit, der ontologischen als Individuen, der
psychologisch-mentalen als Personen, der ‚ästhetischen‘ als Kunst, und
treten neben andere Formen von Einheit, etwa organisch-biologische,
allgemein naturhafte Einheiten oder kontingente, schwache Einheiten, deren
ephemerer Charakter dennoch nicht hindert, daß an ihnen etwas aufscheint,
das auf den starken Typus von Einheit verweist. Sprachlich drückt sich das
häufig in Wendung wie ‚beseelt‘, ‚schön‘, ‚bewundernswert‘ etc. aus. Die
platonische Tradition ist seit Platon der festen Überzeugung, daß es für die
aus der Präsenz dieser multiförmigen Einheiten in der Realität entstehenden
Thaumasien und folgende epistemischen Aporien Antworten nur auf der Ebene
transzendenter, materiefreier, stabiler Einheiten geben könne. Auch dies
wird Thema der hier vorgestellten Beiträge sein. Es nützt nichts, Säcke voll
Argumenten für die Vielheit, die Variation, die Differenz, das
Nicht-Identische und die Negativität auf den Strand des Seins zu kippen,
wenn nicht das in diesen Argumenten versammelte Potential vor dem
Hintergrund der kontinentalen Bindekraft von Einheit und deren fundierender,
formgebender, strukturierender Kraft gedeutet wird. Daß ‚das Eine‘ oder ‚die
Einheit‘ für das Denken immer schon, da dieses ausschließlich in
vielheitlicher Form sich vollziehen kann, problematische Begriffe sind, an
denen sich historisch gesehen – aber mit sachlicher, transhistorischer
Notwendigkeit – aus dem Reibungsprozess der denkenden Anstrengung die
negative Theologie, die reflektierte Mystik, die spekulative Dialektik
entwickelt haben,
kann philosophisch nicht gegen die Einsicht sprechen, daß keine Vielheit
überhaupt denkbar ist, die nicht Einheit – sei es als Prinzip ihres Seins,
sei es als Verfaßtheit ihrer eigenen Teilmomente – voraussetzt, kein Prinzip
denkbar ist, das nicht, sofern ihm nichts anderes bedingend vorausgehen
sollte und es daher zumindest nicht ‚erstes‘ Prinzip oder ‚erste Ursache‘
wäre, ein Eines oder selbst Einheit ist, kein Sein als ein bestimmtes,
definites, zu anderem abgegrenztes und anderes Sein, das nicht durch eine in
sich, trotz aller vielheitlichen Bestimmungen, einheitliche Form bestimmt
ist, etc. Die Tatsache, daß man ‚pragmatisch‘ diese Fragen nicht mehr
stellt, sozusagen um schnell weiter zu kommen, bedeutet nicht, daß sie nicht
mehr existieren und sich nicht mehr aufdrängen und in ihrer Forderung nach
Beantwortung nicht insistierend gegenwärtig blieben. Dies Feld der Theologie
oder Spielarten der Religion zu überlassen, kann nicht Intention eines sich
über sich selbst klaren und aufgeklärten Denkens sein.
Ein
zentrales Thema der hier vorgelegten Texte ist sicherlich der komplexe
Begriff des Geistes (mens, intellectus; wohl zu unterscheiden von dem
psychologisch-biologisch oder auch rein theologisch zu verstehenden Begriff
des spiritus). Er wird in dieser vor allem platonisch geprägten
Diskussionslinie nicht so sehr im Sinne der durch Averroes und die sog.
averroistische Schule in Paris (Siger von Brabant) herausgestellten
Problematik des „intellectus agens“ und des „intellectus possibilis“ (nach
Aristoteles, De anima III 5) behandelt – obgleich natürlich vor allem bei
Cusanus und auch bei Ficino Kenntnis dieser Diskussion vorhanden ist –,
sondern er wird ganz im Sinne der neuplatonischen Synthese aus Platon und
Aristoteles verstanden, etwa so, wie ihn Plotin und Proklos durch ihren
spekulativ gedachten Begriff des nus vorgegeben hatten (Plotin III 8, 9, 34
f: immer schon alles durchgegangen; VI 4, 14, 4-6: alles auf einmal). Dies
muß man wissen, um die besonderen Bestimmungen und Kompetenzen, die dem
Geist zugewiesen werden und die über die engeren intellekttheoretischen
Implikationen (Aktuierung einer species, Abstraktion etc.) hinausgehen, zu
verstehen. Es geht um Einheit und zwar um eine Einheit, die ineins absolute,
vollständige und sich in ihren wiederum einheitlichen Teilmomenten
durchsichtige, intelligible Vielheit ist. Es geht um die Vorstellung, daß
der menschliche Geist ‚Bild‘ oder ‚Explikat‘ dieser absoluten noetischen
Einheit ist und deren Vollkommenheit unter Bedingungen zeitlicher Ausfaltung
(Diskursivität) schrittweise (in einem Leben) nach Innen (Begriffe,
Intentionalitäten, Wissensformen) und Außen (Handlungen, Sprache, Kunst
etc.) realisiert. Vor allem in den Beiträgen Mens und Intellectus
sowie Zum Begriff des Geistes in der Frühen Neuzeit diskutiere ich am
Beispiel des Marsilio Ficino und seines indirekten Schülers Francesco
Patrizi die weitreichenden und auch für die Handlungs- und Freiheitslehre
einschlägigen Implikationen dieses genuin neuplatonischen Verständnisses von
Geist und versuche dabei auch die Transformationen deutlich zu machen, die
dieser Begriff in seiner frühneuzeitlichen Aneignung erfahren hat;
für Cusanus habe ich dies an anderer Stelle ausführlich getan.
Der Begriff des Geistes wird hier deswegen herausgestellt, weil er, bis auf
wenige Ausnahmen, in der Forschungsliteratur sozusagen contra evidentiam et
lectionem ignoriert und beiseite geschoben wird. Es gibt anscheinend ein
Unbehagen gegenüber den starken metaphysischen Implikationen: gegenüber
einem nicht-empirischen Verständnis von ‚Ich‘ oder ‚Selbst‘, das mit einem
starken Spontaneitäts-und Freiheitsmoment verbunden ist, gegenüber einem
Wissensbegriff, der nicht lemmatisch-diskursiv, sondern
enzyklopädisch-intuitiv ist und die Einheit des Wissens und der
Wissenschaften gegen ihre schlechte Trennung behauptet, gegenüber der
Vorstellung, daß die Seele ein „Sich-Aussprechen des Geistes“ (logos nou)
ist (Plotin V 1, 3, 6-9), daß also alles, was an ihr wirklich ‚Seele‘ ist,
nichts anderes als ein dynamisches Explikat des Geistes ist, der in ihr
wirkt, gegenüber dem Gedanken vor allem, der nicht nur geisttheoretische
oder psychologische Bedeutung hat, daß ein Eines am Vielen „gegenwärtig“
(präsent) sein kann, ohne daß es als solches aufgelöst wird. Mit diesem
Grundgedanken der unverkürzten Präsenz des Einen im und am Vielen ist
allerdings ein zentrales Thema der Theorie der Seele berührt, wie wir sie
bei Marsilio Ficino und dann auch bei Patrizi finden, hierzu äußere ich mich
vor allem in dem Beitrag Die Seele als Selbstverhältnis, zusätzlich
aber auch in Abschnitt III, n. 2 von
Mens
und Intellectus.
Es gilt hierbei der Grundgedanke „daß die Einheit der Seele der Vielheit des
körperlichen Substrates als Einheit gegenwärtig“ ist (wie auch, in
der zeitgleichen Theorie des Schönen gilt, daß das Schöne oder die in ihm
sich als „gratia“ zeigende Einheit, als Einheit in der Vielheit des
Kunstwerkes gegenwärtig ist),
zugleich jedoch ist dieser Grundgedanke herausgefordert durch die allgemeine
Ontologie, in der, nach dem Vorgang antiker Konzepte, die Seele als „Mitte“
des Seins, als „Verknüpfung“ oder „Band“ des Seienden oder als
„Grenze/Grenzscheide“ von Intelligiblem und Sensiblem zu denken ist (Platon,
Timaios 31 BC, 34 B; Plotin IV 6, 3, 5 f; IV 8, 4, 31 f; Liber de
causis, prop. 2 et 9, etc.). Die Gegenwart des Einen mußte mit dem Gedanken
des Vermittelns heterogener Seinsbereich zusammengedacht werden. Dies führt
dann bei Denkern wie Patrizi, die sich an späneuplatonischen
Differenzierungs- und Abstufungsmodellen orientierten, zu weiteren
Binnenunterscheidungen des ‚mittleren‘ (seelischen) Seinsbereiches, so daß
die Seele als Geistseele in der Einheit gehalten werden konnte (die Seele,
die nach Plotin „nicht herausgefallen ist“, ouk exépesen, IV 8, 8, 1-6), die
Seele hingegen als diejenige Kraft oder dasjenige Vermögen, das tatsächlich
im körperlichen Substrat gegenwärtig ist, als das paradoxale Zugleich von
Unkörperlich-Körperlich, als „spiritus“, verstanden werden konnte. Hier und
in zeitgleichen Entwürfen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Cardano,
Fracastorio, Telesio, Campanella) deutet sich schon die spiritus-Debatte
auch der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft und dann des Rationalismus des
17. Jahrhunderts sowie der Cambridge Platonists an. In der Seelentheorie
geht es vor allem um die Funktionen des Seelischen, also um Mitteilung von
Leben, um das Steuern (kybernein, gubernari) des komplexen organischen
Substrates, um Wahrnehmen und Empfinden (Konstitution von Innen-Außen) und
um die Entfaltung (explicatio) des Geistigen in den konkreten Denk-und
Handlungsraum. Damit, mit Entfaltung und Expression, wird ein weiterer
wichtiger Diskussionsbereich berührt, der die spätmittelalterliche Denkform
mit der frühneuzeitlichen verbindet: derjenige um die Begriffe des Möglichen
und der Möglichkeit (possibile, possibilitas), der Kraft (potentia, vis) und
des Vermögens (virtus). Hierzu finden sich Überlegungen vor allem im
Rückgriff auf Gedanken des Nicolaus Cusanus in den Beiträgen Nicolaus
Cusanus und Bonaventura (wo es um den cusanischen Gottesnamen „possest“
geht) sowie Renovatio und Unitas, der das Potential des menschlichen
Seins zur Selbstentfaltung und Wirklichkeitsgestaltung behandelt.
Vor dem Hintergrund modaltheoretischer Differenzierungen, die den
Möglichkeitsbegriff im Verhältnis zu Notwendigkeit und Wirklichkeit
betreffen – die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit im absoluten Sein
Gottes, das Sein der Wirklichkeit als durchgehende Realisierung des
Möglichen (omnis creatura actu existens utique esse potest) und dasjenige
Sein, das zwar möglich ist, aber nicht per necessitatem naturalem
verwirklicht wird, sondern ebenso für immer möglich bleiben kann –
entwickelt Cusanus einen Begriff von Möglichkeit, der zum einen seinen
Gottesbegriff bestimmt (etwa in dem Gottesnamen possest), zum anderen aber,
und das ist vor allem Gegenstand des Beitrages Renovatio und Unitas,
seinen Begriff des sich in die Welt und als Welt (mundus humanus)
entfaltenden Individuums.
Dies versuche ich auf der Basis folgender Überlegung zu zeigen: während in
der klassischen Modallehre grundsätzlich gegolten hatte, daß ich von einem
bestimmten x folgende Aussagen machen kann: ‚x ist möglich‘, ‚x ist
wirklich‘ oder ‚x ist notwendig‘ und zwar immer als dieses identische x, so
setzt Cusanus ingeniös diese x jetzt selbst als das Können oder das Mögliche
(im Sinne von aktivem Ermöglichungsgrund) an, als ein Sein-Können, „dem kein
Sein vorausliegt, von dem dieses das nachgeordnete Können wäre“ (unten S.
…). Diese Grundform eines Seins ermöglichenden Seins, eines entfaltenden und
explizierenden Prinzipseins, wird durch den Schöpfungsakt (in Verbindung mit
dem imago-Gedanken) auf den Menschen übertragen: dieser ist jetzt selbst als
posse esse humanum sein eigener Möglichkeitshorizont und ein autonomes
Prinzip – entsprechend dem oben eingeführten Begriff autonomer Einheiten –
von allein aus ihm entstehendem Sein, das sich dann als ein komplexer „mundus
humanus“ entfaltet. Hierzu gehören natürlich Sprache, Handwerk, Politik und
vor allem die Kunst, insbesondere diejenige des ‚Bildes‘. In diesem Sinne
figuriert Nicolaus Cusanus als Paradigma für alles das, was Theoriebildung
in der Renaissance im Blick auf die ontologische Position von Bildern, von
Kunst, von Herstellungsprodukten des Menschen im Kern zu sagen haben wird.
Diskutiert werden Begriffe wie Operationalität, Kreativität und Entfaltung
und zwar vor dem Hintergrund metaphysischer Basisannahmen, die wir
einerseits in den Texten zur Geist- und Seelenlehre ausführlicher behandelt
haben (siehe die Bemerkungen oben …) und die andererseits, so etwa die
Begriffe „virtus“ oder operatio“ jetzt näher in den Fokus rücken: „humanitatis
extat virtus omnia ex se explicare intra regionis suae circulum“ (De
coniecturis II, c. 14, n. 144; h III, S. 144). Das Grundthema hier ist
die Selbstrealisierung des Menschen als bewußte Selbstkonfrontation mit dem
ihm vom ersten Prinzip zugespielten Möglichkeits- und auch Freiheitsraum.
Teile dieses Problems werden auch in dem Beitrag Mens und Intellectus
aus der Sicht des Ficino erörtert, insbesondere dessen Freiheitsbegriff (im
Unterschied zu demjenigen seines Freundes, Schülers und späteren Kritikers
Giovanni Pico della Mirandola).
Ausführlich wird hierauf in den Texten Der Bild-Begriff bei Cusanus
und Francesco Patrizis Poetik des Wunderbaren eingegangen.
In den Überlegungen zum Bild-Begriff ist leitende Intention eine
systematische Fassung dessen, was ‚ein-Bild-Sein‘ im Denkkontinuum zwischen
Antike und Renaissance heißen kann (durchaus mit Implikationen auch für
einen heutigen Diskurs über das ‚Bild‘ oder über Nachahmungs- und
Imaginationstheorien) und eine Verbindung dessen, was hierzu gesagt werden
wird, mit dem Begriff der Selbstrealisierung und Selbstentfaltung, wie ich
ihn eben angedeutet hatte. Auch wird darauf geachtet, daß das metaphorische
Umfeld in philosophischen Traktaten eine genuine piktoriale Verfahrensweise
des Denkens immer wieder herausstellt – das läßt sich belegen bei vielen
Autoren von Cusanus über Ficino bis hin zu Giordano Bruno (Explicatio
triginta sigillorum, Opera latina, ed. Fiorentino et al.,
Neapoli-Fiorentiae 1879-91, II/2, S. 133: non est philosophus, nisi qui
fingit et pingit, unde […] intelligere est phantasmate speculari).
Für Cusanus kann gesagt werden, daß die faktische Entfaltung des
menschlichen Entfaltungsvermögens, sei es begrifflich, sei es in mentalen
Vorstellungsbildern, sei es durch handwerkliche oder ethisch-politische
Tätigkeiten, sei es durch Kunst, je ein ‚Bild‘ oder besser: ein
inbegriffliches Gegenbild zu einem ihm bedingend vorausliegenden
(intelligiblen) Ur-Bild erzeugt. Dabei ist das umfassendste Gegenbild der
Begriff des Universums, da dieses die Totalität des in die Existenz
getretenen Seinsmöglichen in sich begreift. Dieses Gegenbild ist
ausschließlich, wird der Begriff nicht nur äußerlich,
grammatikalisch-denominativ genommen, sondern als reflektierter Sachbegriff,
Produkt der Vernunft oder des Geistes (intellectus, mens). Andere Bilder
sind in abgestufter Intensität und Bedeutung ebenfalls, als Bilder,
Einheiten (siehe oben das zur Bedeutung von Einheit Gesagt, S. ….), die aus
der Entwurfs-und Produktiosmöglichkeit des menschlichen Wesens entstehen –
innere wie äußere Bilder stecken den mundus humanus ab, von dem wir zuvor
schon kurz gesprochen haben, sie sind, sofern sie realisiert (gedacht,
produziert etc.) werden, der Explikationshorizont des Menschen als seine
Welt: omnia humaniter explicata).
Man kann sagen, daß in der poetologischen Diskussion des 16. Jahrhunderts
bis hin zu Patrizi, das Poema ebenfalls als eine Einheit gegolten hat, die
bestimmten strukturellen Bedingungen unterworfen ist und deren Bedeutung für
das menschliche Sein durchaus die einfachen Modi rein sensueller Perzeption
und das aus der Sprachgewohnheit resultierendem Verstehen überstiegen hat.
Der Beitrag zu Patrizis Poetik des „Wunderbaren“ (mirabile) stellt neben die
in anderen Texten diskutierte Bedeutung des Patrizi innerhalb der
platonischen metaphysischen Tradition bewußt einen Text, der aus der
lebendigen breiten Diskussion der Poetik dieser Zeit gewachsen ist und der
einige besondere Vorschläge einer künftigen Poetik bereithält (die etwa, so
sehe ich es, auf die Produktionen eines Marino voraus weisen).
Eine
Reihe weiterer Abhandlungen befaßt sich mit Problemen der Wirkungs- und
Rezeptionsgeschichte zwischen den hier thematischen und auch anderen Autoren
der philosophischen Tradition (Platon, Proklos, Bonaventura). In ihnen geht
es um Kommentierung (Ficinos Platon-Kommentare), systematische
Interpretation und Aneignung (Patrizi und Proklos) sowie Transformation von
Kerngedanken (Cusanus und Bonaventura).
In diesen Texten tauchen zentrale Themenbereiche, die ansonsten gesondert
diskutiert werden, ebenfalls immer wieder auf: die Geisttheorie, die
Seelenlehre, die Theorie der Liebe, die Problematik von Entfaltung und
Freiheit). Ein eigener Text ist der für die Kultur und das Denken der
Renaissance ganz besonders wichtigen Theorie (und Praxis) der Liebe gewidmet.
Er versucht, ausgehend von einer systematischen Rekonstruktion des in
Ficinos De amore verhandelten Begriffs von „Liebe“ (amor, amore),
einen tieferen Einblick in die Abhängigkeit dieses Begriffs von Platons
einschlägigen Texten im Symposion und im Phaidros sowie von
den Platon-Deutungen des Plotin auf der einen Seite zu geben und auf der
anderen Seite auf die signifikanten Veränderungen in der Gewichtung
bestimmter, schon Platon natürlich bekannter Aspekte der Liebe hinzuweisen,
wie die neue Bewertung, die die Dimension der rein affektiven, auf
Sinnesreizungen und Attraktivitäten basierenden Liebe (fascinum amoris) oder
die Betrachtungen zu der sich in der Welt bewegenden, einen amor mutuus
intendierenden und nicht ausschließlich „nach oben“ in die transzendente,
intelligible Welt ausgerichteten Liebe erfahren. In Ficinos Texten kann man
die „Diskrepanz zwischen der Stärke und Macht des natürlichen Strebens und
der Offenheit seiner Konsequenzen, die zugleich der Horizont seiner
Steuerbarkeit ist“ deutlich sehen, überall in dem hierdurch abgesteckten,
die ganze Bandbreite des Lebens umfassenden Lebensfeld ist die Liebe der
„mentale ‚Ort‘ der Unvermeidlichkeit des Sterbens“ und von dessen absoluter
Wechselhaftigkeit.
Amor erweist sich für Ficino, aber auch schon in der ganzen Tradition seit
Platon, für Plotin, Augustinus, Dionysius u. a., sofern er durch Reflexion
und philosophische Deutung in seinem Wesen erkannt wird, zugleich als
stärkstes Antidot gegen diese instabilitas menschlichen Seins, als Kraft der
Restitution, Erhaltung und Dauer (Ficino A VI, c. 11), die sich in der
zwischenmenschlichen Liebe, dem „amor mutuus“, zu einem gelebten lebendigen
Symbol eines eigentlich idealen Seins verdichtet. Es geht um die
Durchdringung, die das endliche Sein durch eine über es selbst hinausgehende
Kraft erfährt – auch deswegen ist die Liebesthematik engstens mit der
Schönheitsdebatte verbunden, sofern letztere eine analoge Durchdringung (und
folgend Präsenz) des endlichen Artefakts seitens einer ihm letztlich
transzendenten – etwa durch Licht symbolisierten – Kraft behauptet hat (sieh
oben). In der Traktat-Literatur der späteren Renaissance wurde dieser Ansatz
des Ficino dann weiter entfaltet, in der Kunst wurde er immer wieder
thematisch, insbesondere durch die Darstellungen der beiden Grundtypen der
„irdischen“ und der „himmlichen“ Aphrodite (Liebe) und durch die unzähligen
Inszenierungen, in denen die einschlägigen Erzählungen aus den Metamorphosen
des Ovid mit diesem platonischen Hintergrund synthetisiert worden sind.
Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen ohne die Aufnahme in die Reihe
Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, die Claus Zittel vor Jahren
angeregt hatte und die Gisela Engel (Frankfurt) trotz zeitlicher Verzögerung
dankenswerter Weise weiter befürwortet hat, sowie ohne die umsichtige und
unschätzbare lektorierende Tätigkeit von Henrik Wels (Berlin). Allen
Genannten gilt mein tiefer Dank.
Berlin, April 2013
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