Thomas Leinkauf

 

 

Cusanus, Ficino, Patrici – Formen Platonischen Denkens in der Renaissance

 

2014, [= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, Bd. 18], 395 S., ISBN 978-3-86464-051-3, 44,80 EUR

 

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Inhaltsverzeichnis
 

 

Einleitung                                                                                            7

 

Die Bestimmung des Einzelseienden durch die Begriffe contractio,

singularitas und aequalitas bei Nicolaus Cusanus.                                    25

 

Nicolaus Cusanus und Bonatentura. Zum Hintergrund von

Cusanus’ Gottesname ›possest‹                                                             59

 

Der Bild-Begriff bei Cusanus.                                                              77

 

Renovatio und unitas. Nicolaus Cusanus zwischen Tradition und Innovation – Die ›Reformation‹ des Möglichkeitsbegriffs     105

 

Philosophie und Religion bei Marsilio Ficino                                       123

 

Mens und intellectus. Überlegungen zum Status des menschlichen Geistes in der Philosophie des Marsilio Ficino     157

 

Marsilio Ficinos Platon-Kommentar                                                    189

 

Platon in der Renaissance: Marsilio Ficino und Francesco Patrizi            227

 

Die Seele als Selbstverhältnis. Der Begriff ›Seele‹ und seine Bedeutung zu Beginn der Frühen Neuzeit (Marsilio Ficino)     243

 

Liebe als universales Prinzip. Zur Auseinandersetzung mit Platons Symposion im Denken der Renaissance:
Marsilio Ficino und ein Ausblick auf die Liebes-Traktate des 16. Jahrhunderts                                                       259

 

Marsilio Ficino und Dionysius Areopagita. Rezeption und Transformation des dionysischen Denkens durch Ficino         283

 

Marsilio Ficinos Theologia Platonica und Francesco Patrizi                  293

  

Zum Begriff des ›Geistes‹ in der Frühen Neuzeit. Überlegungen am Beispiel Francesco Patrizi da Chersos          309

 

Francesco Patrizis Poetik des Wunderbaren. Zur anthropologischen Funktion der Dichtung in der Frühen Neuzeit    331

 

Patrizi und Proklos                                                            351

 

Literatur                                                                          373

     Abgekürzt zitierte Literatur                                            373

     Weitere Werke von Ficino                                              374

     Literatur                                                                     375

     Nachweise                                                                  392

 

 

Über den Autor                                                                 395

 

 

 

Einleitung

 

I. Präliminare Überlegungen zum Begriff ‚Renaissance‘:

 

Der Begriff ‚Renaissance‘ bezeichnet eine Epoche und ist, wie nahezu alle Epochenbezeichnungen, also wie ‚Antike‘, ‚Mittelalter‘ oder ‚Neuzeit‘, schon selbst Ausdruck eines Programms oder sogar eines Projektes[1]. Seine Entstehung verdankt sich einem nicht leidenschaftslosen Interesse an der Entwicklung der Geschichte als Kultur- und Geistesgeschichte und auch, spätestens seit den großen Entwürfen des Deutschen Idealismus, als Philosophiegeschichte oder Geschichte des Denkens. Was ‚Renaissance‘ meint, ist ‚für uns‘ nur noch rekonstruierbar als Resultat eines lang anhaltenden Selbstanreicherungsprozesses in der Semantik dieses Begriffs (und vergleichbarer Begriffe), die schon in dem durch den Begriff selbst angezeigten Zeitraum beginnt (was nicht selbstverständlich ist) und die vor allem im 19. Jahrhundert noch einmal einen kräftigen Impuls erhalten wird. Der Ausdruck ‚Renaissance‘ geht sicherlich zurück auf sprachliche Bildungen, die aus der Zeit des späten 14. und des 15. Jahrhunderts überliefert sind und die sämtlich Resultat einer bewußten, teilweise ideologisch kalkuliert inszenierten Positionierung des sie verwendenden Autors innerhalb der Debatte um Selbstdistanzierung der Kultur des Humanismus von derjenigen der vorausliegenden Zeitepoche darstellen. Die vorsichtige, möglichst neutrale Formulierung „vorausliegende Zeitepoche“ verweist schon darauf, daß ich es vermeiden möchte, den Gegenbegriff ‚Mittelalter‘ hier umstandslos vorauszusetzen:  der Ausdruck Mittelalter ist selbst Produkt derjenigen Diskussion, die auch den Ausdruck Renaissance hervorgebracht hat – in gewisser Weise ist der eine ohne den anderen nicht denkbar, wenn auch das, was sie jeweils im Einzelnen bedeutet haben und jetzt noch bedeuten, auch ohne diesen Gegenbegriff formulierbar ist. So kann ‚Mittelalter‘ einfach zwischen ‚Antike‘ und ‚Neuzeit‘ gesetzt werden, ‚Renaissance‘ kann auch nur als in Bezug auf die Antike stehend gedacht werden. Aber dieses ‚Kann‘ ist schal gegenüber der komplexen Dialektik der Begriffsgenese und Begriffsgeschichte.

 

Was zunächst die äußerlichen, also zeitlich quantifizierbaren „Grenzen“ dessen, was mit der Epochenqualifikation ‚Renaissance‘ begründet gemeint sein kann, betrifft, so schließe ich mich der nüchternen Bestandsaufnahme Paul Oskar Kristellers aus dem Jahre 1982 an (mit dem ich ansonsten durchaus in vielen anderen Punkten nicht einer Auffassung bin): „If we were to combine the latest date proposed for the beginning of the Renaissance with the earliest date proposed for its conclusion, we would give the period a timespan of twenty-seven years. Inversely, if we were to choose the earliest date proposed for its beginning and the latest date for its termination, we would give the period more than four hundred years duration. Of course, this does not even take into account those who deny that the Renaissance ever existed and consider 1500 to be the year in which the Middle Ages gave away to the Modern Age“. Er zieht dann die Konsequenz: „It would seem best to concentrate on quality rather than quantity, and define the Renaissance as European civilication from 1300 or 1350 to about 1600“[2]. Indem ich diese mittlere Position übernehme, also weder die Reduktion auf einen extrem kurzen Zeitraum, noch die Extension auf eine Großepoche (der ich eher die Bezeichnung ‚Frühe Neuzeit‘ zuweisen würde), noch gar die völlige Negation sinnvoller Verwendung unseres Begriffs mitmache, gestehe ich zur gleichen Zeit zu, daß ‚Renaissance‘ kein leerer Begriff ist und daß es eine auch qualitativ bestimmbare Epoche gegeben hat, auf die dieser Begriff als sinnvolle Bezeichnung zutrifft.

 

Die etwa in dem Begriff ‚Renaissance‘ (zunächst soviel wie: Wiedergeburt, Erneuerung) gebündelten semantischen Implikationen sind für die rückblickende Aneignung der genuin philosophischen Texte dieser Epoche lange Zeit, anhebend mit der Aufklärung, bestimmend gewesen[3]. Es steht heute so ziemlich fest, daß die Genese des Epochenbegriffes ‚Renaissance‘ sich dergestalt vollzog, daß einem seit Francesco Petrarca (1304-1374) festmachbaren beginnenden Bewußtsein von Epochenschwelle mit einer komplexen und uneinheitlichen Verwendung des Bildes der „Wiedergeburt“ (italienisch: rinascita) dann im 16.Jahrhundert eine bewußte Periodisierung folgte, die an den Namen Giorgio Vasari (1511-74) geknüpft ist. In dessen berühmten Vite de'piu eccellenti architetti, pittori et scultori italiani von 1550 wird „das Jetztbewußtsein, das sich vom Mittelalter absetzt, (..) selbst schon historisch“ (Stierle[4]) und Vasari ist es auch, der zum ersten Mal das Substantiv „rinascita“ bildet. Es ist also die Kunstgeschichte, in der die Wiedergeburt der Antike als solche epochalen Rang erhält, und folgerichtig ist es auch die Kunstgeschichtsschreibung gewesen, deren Spezialgeschichte „am meisten im Zeichen der rinascita“ stand[5]. Allerdings setzen sich weit vor dieser beginnenden Reflexion der Kunst auf ihre eigene Geschichte schon seit  Petrarca im allgemeinen kritischen Bewußtsein der Humanisten zu dem, was ‚für sie‘ Eigenzeit, Zeitgenossenschaft sowie Geschichte bedeuten konnte, im hierfür einschlägigen italienischen Sprachraum verschiedene qualifizierende Begriffe durch: rinascita (Wiedergeburt), ressurezione (Wieder-Auferstehung), restaurazione (tätiges Wiederherstellen) oder risorgimento (Bild des Hervortretens einer Quelle, die versiegt war), novità[6] – alles Begriffe, die in der politisch-ideologischen Historiographie des 19. Jahrhunderts dann wieder zu Schlagwörtern werden sollten. Qualifizierend kann man dieses Set an Begriffen deswegen nennen, weil es sich und damit auch die es gebrauchenden Autoren generell und pauschalisierend gegen die „tenebrae“, die Dunkelheit und Finsternis der vorangegangenen Zeit (id est: des sogenannten Mittelalters), absetzen will und soll[7]. Die diesen Begriffen gemeinsame Markierung der Diskontinuität ist somit von Anfang an mit dem eindringlichen Gegensatz von Licht und Dunkelheit und dessen suggerierter Konnotation von Gut und Böse, Wahrheit und Falschheit, Positivität und Negativität verbunden. Wie der Blick auf Vasari zeigte, wird schon Mitte des 16. Jahrhunderts „rinascita“ unter den substantivierten Schemata für den Rückblick auf den Anbruch der Jetztzeit am geläufigsten[8]. Die hiermit verbundenen Wertungen gingen dann, vermittelt über die Entwicklung in Frankreich, insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert in den Begriff von Renaissance, Neuzeit oder Moderne ein[9]. Denn immer stärker wurde der Name, den die Epoche schon früh (spätestens eben durch Vasari) erhielt, in der Folge zum sprachlichen Träger der immer differenzierteren bewußten Aneignung, in der die Zeit allererst erfaßt wird und die namentliche Bezeichnung ihren inbegrifflichen Sinn erhält[10]. Rückblickend wurde diese Epoche jetzt zur Vorgeschichte des modernen Bewußtseins erklärt. Die damit verbundenen, stilisierenden aber wirkmächtigen und zentralen Vorurteile einer (i) ein- und erstmaligen „Revolution des menschlichen Geistes“ (d‘Alembert), die schon das Licht der (rationalen) Vernunft und die Autonomie des Subjektes konnotiere[11], und einer (ii) einseitigen und der Intention nach vollständigen Ableitung dessen, was in und an dieser Epoche „von Bedeutung ist“, aus dem Reichtum antiker Überlieferung, werden die Diskussion bis in die jüngste Zeit zumindest mitbestimmen, wenn nicht gar unterschwellig tatsächlich bestimmen. Die Aufklärung etwa betrachtete sich in diesem Sinne klar als legitimen Erben der Renaissance, aber die Renaissance wurde dadurch eben umgekehrt zu einer Art Vor-Aufklärung. Über Michelet[12] und Burckhardt wandert diese Vorstellung, die genuin mit dem Rechtfertigungsproblem der Moderne überhaupt verbunden ist und die sich auf die „Entdeckung des Menschen als eines autonomen Vernunftwesens“ verengt, in den Bereich der historischen Renaissanceforschung ein. So diente etwa die emphatische Auslegung von ‚Renaissance‘ als Wiedergeburt des Klassischen eindeutig als historisch abgestütztes Argument in kultur- bzw. schulpolitischen Auseinandersetzungen, deren humanistische Entscheidungen bis in den Latein-und Griechisch-Unterricht der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts Auswirkungen hatten[13]. Die Herausgeber der Cambridge History of Renaissance Philosophy konstatieren, mit Blick auf das 19. Jahrhundert, folgenden Sachverhalt: „Even when Renaissance writers were discussed, they were generally treated as pawns in the philosophical battles of later centuries, not as thinkers of their own age and their own right“[14]. Ein bedeutendes Beispiel für solch eine Rollenspielstruktur stellen die einflußreichen Diagnosen von Jakob Burckhardt dar, dessen Einfluß auf die Einschätzung dessen, was ‚Renaissance‘ heiße und bedeuten könne, in Deutschland von unabsehbarer Reichweite waren. Er bestimmte den Bedeutungskern unseres Epochenbegriffs als Entdeckung der Natur des Menschen und des Individuums. Während im Mittelalter der Mensch sich nur „in irgend einer Form des Allgmeinen“ erkennen konnte, etwa als Volk, Partei, Korporation, Familie, verschwinde dieser „Schleier“ im Italien der Renaissance: „es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämmtlichen Dinge überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjective, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches“[15]. Solche und andere Sätze hatten eine weitgehende Wirkung, die Verwendung von Begriffen wie ‚das Subjective‘ intensivierten die anachronistische Deutung der Renaissance als Vor-Aufklärung, Proto-Idealismus oder überhaupt Anfang der eigentlichen, nämlich vom Subjekt ausgehenden Philosophie. Auch ein so verdienstvolles und in vieler Hinsicht die Diskussion immer noch bewegendes Werk, wie dasjenige Ernst Cassirers[16], gehört in seiner deutlich neukantianischen, eine kontinuierliche Entwicklungslinie des Denkens hin zum ‚kritischen‘, ‚rationalistischen‘ Wissenstyp aufweisen wollenden Gesamtanlage in diesen Zusammenhang: auch hier ist letztlich qualifizierender (aus Kant und der neukantianischen Schule gezogener) Gradmesser des Fortschritts vor allem die Erkenntnistheorie der einzelnen Hauptautoren. Es ist dieses Deutungsmuster, das in der Folge durch intensive Quellenarbeit, Übersetzungstätigkeit und hermeneutisch reflektierte Interpretationen kritisiert und auch zurecht zurückgewiesen werden mußte, um zu einem Begriff von ‚Renaissance‘ zu gelangen, der diese Epoche in ihrer komplexen Zwischenstellung zwischen unterschiedlichen Polen – in unterschiedlicher Tiefenschärfe: zwischen Antike und Moderne, zwischen Mittelalter und Neuzeit, zwischen Nominalismus und Realismus etc. – Ernst nehmen kann.

Der schwierige Epochentitel ‚Renaissance‘ kann daher weder nur als bloße Diskontinuität zum Mittelalter, also als unmittelbarer Rückgriff auf die Antike und als davon alleine ausgehende Restitution des Klassischen, Ausgewogenen, Proportionalen und Einfachen in der Theorie und dem Bereich des Praktischen verstanden werden, noch ausschließlich und ebenso verkürzend als bloße Vorstufe zum Rationalismus des 17. Jahrhunderts. Die vermeintliche Klarheit darüber, daß wir uns im 15. Jahrhundert nicht mehr im Mittelalter befinden ist nicht weniger trügerisch als die, daß wir uns schon, wenn auch nur in nuce, auf der Stufe, wie immer problematisch diese auch sein mag, des Rationalismus vom Typ eines Descartes befinden. Beide Evidenzen haben jedoch andererseits auch ein fundamentum in re: so nahe Cusanus, Ficino oder Pico auf je verschiedene Art und Weise auch dem inhaltlich komplexen und sprachlich hochdifferenzierten Diskurs des späten Mittelalters sein mögen, sie sind keine genuinen Repräsentanten dieses Diskurses mehr; und, auf der anderen Seite, so fern die kristallinen und durch präzise Trennschärfe ihrer Begriffe geprägten Theorien des Rationalismus auch sein mögen, bestimmte Aspekte der Intellekt-Theorie der Renaissance weisen schon unwiderstehlich zumindest auf ihre sachliche und historische Möglichkeit hin. Trotz dieser historischen Evidenzen, die unsere Epoche gegenüber dem Mittelalter abgrenzen und gegenüber der Neuzeit öffnen, ist es jedoch für eine sachangemessene Rekonstruktion des Befundes unabdingbar – und dies gilt nicht nur in philosophicis –, die Probe auf deren Umkehrung zu machen: also zum einen mit der Öffnung gegenüber dem Mittelalter, d. h. die Diskussion des späten Mittelalters ist in bestimmten Aspekten, z. B. des Individualitäts- oder Singularitätsbegriffs, dem Gedanken der Kontraktion, der quantifizierend-kalkulatorischen Bewegungsanalyse, dem Problem des Nominalismus und der Methodologie, der Theorie des Lullismus, ein integraler Bestandteil philosophischer Theorien des 15. und 16. Jahrhunderts die nicht schon selbst schulphilosophische Texte sind[17]. Und zum anderen: Absetzung gegenüber der Neuzeit, d. h. die Systemstruktur wie auch zentrale Theoreme des Rationalismus, etwa die vollständige Entseelung und Mechanisierung der Natur (res extensa) oder die apriorische Hypothesenbildung Galileis sind keine Implikate des Denkens des 15. Jahrhunderts. Eine methodisch bewußte Verschränkung und kritische Ponderierung dieser gegenstrebigen Ansätze allein kann den Boden schaffen, um das komplexe Phänomen dieser Epoche besser beurteilen zu können, einer Epoche, die ansonsten ihr Spezifisches aufgelöst finden wird in der respektiven Zuweisung an nur nachbereitende oder vorbereitende intellektuelle Leistungen: 1. Renaissance als Wiedergeburt des Alten, 2. frühe Neuzeit als Vorbereitung des Neuen der Neuzeit, der Moderne, also nur als Übergangsphase vom einen zum anderen noch wahrnehmbar bleibt oder als in sich gespaltene, janusköpfige Zeit[18].

Hans Blumenberg konstatierte schon in seinem Buch Aspekte der Epochenschwelle, daß der „unmerkliche Limes“ der Epochenwende für das historische Bewußtsein nur durch eine sich von beiden Seiten annähernde Differentialanalyse ermitteln lasse[19]. Seine Protagonisten sind dafür Cusanus und Giordano Bruno, die gleichsam das Noch-nicht und das Schon der „neuen Wirklichkeit“ der Neuzeit markieren[20]. Indem Blumenberg die Epochenschwelle oder den Limes ins Epizentrum des an Personen und Personen- oder Ereignisdaten gebundenen historisch-chronolgischen Prozesses stellt, will er vermeiden, was er die Erosion der Gründerfiguren nennt (S. 22, z. B. Kolumbus, Luther, Kopernikus, Descartes). Der Limes soll unterhalb der chronologischen Axe verlaufen, die selbst, wie man sagen könnte, keinen absoluten Anfang kennt, sondern immer nur schon angefangen Habendes. Es ist, vermutlich nicht nur aus Gründen der Zeit, die hier zur Verfügung steht, nicht möglich, diese fundamentalen Probleme unseres Umganges mit Vergangenem einer letzten Klärung zuzuführen. Für den Zweck einer präliminaren Betrachtung muß der Hinweis auf die auch nach einem halben Jahrhundert nicht abgenommene Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit und des Bewußthaltens von dem Problematischen und Aporetischen der Epocheneinteilungen und Periodisierungen von Geschichtlichem genügen. Der „Limes“ der Epochenschwelle scheint, wie die Horizontlinie, die ja auch das Oben und Unten teilt und eine Grenzscheide ist, zu entschwinden, je mehr man sich ihm nähert, scheint sich immer tiefer in die Unauslotbarkeiten der Mikrostrukturen und Singularitäten zurückzuziehen. Daß dadurch unser allgemeines und übergreifendes Vokabular, mit dem wir den Limes benennen und ihm einen inhaltlichen Bezug verleihen, immer stärker ausgehöhlt und nominalisiert wird, ist ebenso klar wie die reale und nicht selbst nominalisierbare Tatsache der Unabweisbarkeit seiner Funktion und Benutzung: es ist für jeden, der sich mit den Texten des Francesco Petrarca oder des Nicolaus Cusanus befaßt klar, daß er hier nicht mehr auf dem festen Boden einer scholastischen oder spätscholastischen Sprach- und Denkform steht, und es ist für jeden Leser des Giordano Bruno ebenso unabweislich klar, daß er, trotz allem Vorausweisenden seiner unerhörten Spekulationen, noch nicht sich im Zeitalter der rationalistischen Systementwürfe oder einer historia litteraria und ihrer Wissenskumulationen befindet. Wenn in den folgenden Ausführungen der Ausdruck ‚Frühe Neuzeit‘ verwendet wird, so nicht um die Verwendung von ‚Renaissance‘ zu vermeiden oder zu korrigieren, sondern um die verhandelten Probleme in einen größeren Horizont zu stellen. Unter ‚Frühe Neuzeit‘ verstehe ich eine Großepoche, die verschiedene Teilepochen in sich einschließt. Ihre Grenzen fallen, was den Beginn betrifft, zusammen mit der Renaissance – es würde Sinne machen, sie mit der Gestalt Francesco Petrarcas (1304-74) beginnen zu lassen (also mit dem frühen Humanismus) – ihr Ende hingegen liegt weit jenseits dessen, was hier als Renaissanceepoche verstanden wird: es endet mit dem Ende der scholastischen Tradition in der späten Form, die wir im Denken des Christian Wolf finden[21]. Dieser größere Horizont ist es, auf den ich manchmal verweise, wenn es um die im nächsten Abschnitt näher dargelegten spezifischen Inhalte geht, die ich anhand des Denkens von Cusanus, Ficino und Patrizi erörtern möchte.

II. Hinweise auf das, was in diesem Buch zu finden ist

 

Auch wenn die hier vorgelegten Beiträge zur Geschichte des Denkens tatsächlich den mit dem Begriff ‚Renaissance‘ gemeinten Zeitraum betreffen – Cusanus lebte von 1401-1464, Ficino von 1433-1499, Patrizi von 1529-1597 –, so stellen sie dennoch zunächst keinen Beitrag zu der komplizierten Debatte um den Begriff ‚Renaissance‘ dar, wenn sie auch nicht ausschließen wollen, etwas zum näheren Verständnis bestimmter Diskussionen und intellektueller Entwicklungen innerhalb des durch diesen Begriff abgesteckten Zeitraumes beitragen zu können. Es geht in allen diesen Beiträgen vielmehr um Sachprobleme philosophischer Provenienz, die so verschiedene Bereiche wie die Ontologie, Metaphysik, Geisttheorie, Physik, Poetik und die Kommentierung von Texten betreffen. Sie sind um drei Hauptautoren gruppiert, die die philosophische Entwicklung außerhalb der Universitäten nachweislich intensiv vorangebracht und stimuliert haben. Daß der Bereich des Universitären mit seinen bis über das ganze 16. Jahrhundert hinein aktiven, hochdifferenzierten schulphilosophischen Diskussionen hier ausgeklammert ist, ist ausschließlich den Interessen des Verfassers verdankt, der diesen Filiationen des Denkweges über einen längeren Zeitraum immer wieder nachgegangen ist und natürlich auch damit, daß der Umfang dieses Buches einfach zu groß geworden wäre, wenn man etwa die naturtheoretischen Debatten an der Universität Padua oder die Diskussionen um terministische Logik an der Universität Paris, die aller zeitgleich ebenfalls stattfanden, mit hinein genommen hätte[22]. Es hat also nichts mit einem Wegschieben oder Ignorieren zu tun oder gar der möglicherweise unterstellbaren Einstellung, hier habe es keinen Austausch und keine wechselweise Einwirkung gegeben.

 

Es ist zudem unzweifelhaft, daß es eine ‚platonische‘ Denk- und auch Lebensform in der Renaissancephilosophie gegeben hat und es ist hinreichend komplex, die verschiedenen Formen, in denen sich diese ausgeprägt haben, möglichst sachangemessen darzustellen. Die Denker, die hier des Näheren zur Sprache kommen werden, sind durchweg eigenständige Persönlichkeiten, besondere Individuen, deren Leben selbst noch einmal ein gewisses Interesse erzeugen – das durch viele Reisen in diplomatischem und seelsorgerischem Dienst, durch Konzilstätigkeit und Kirchenpolitik geprägte Leben des Kardinallegaten Nicolaus Cusanus, das einem iter europeum gleicht, das durch versammelnde, inspirierende Kraft geprägte Dasein des Marsilio Ficino in einem Florenz, in dem sich unter anderem auch Cusanus, aber auch viele andere bedeutende Persönlichkeiten der Zeit aufhielten und in dem er nicht nur den Kreis, der durch den Titel Academia Platonica bezeichnet wird, um sich versammelte, sondern für so unterschiedliche Intellektuelle wie Angelo Poliziano oder Giovanni Pico ein Bezugspunkt gewesen ist, das durch abenteuerlich Reisen, Bücherkäufe (Patrizi besaß eine der umfangreichsten und vor allem auch durch Raritäten gekennzeichnete Privatbibliotheken seiner Zeit,  die er schließlich aus Geldnot an den spanischen Hof verkaufen mußte[23]) und die akademischen „studi(ol)a“ Nord- und Mittelitaliens (Ferrara, Padua, Rom) geprägte Leben des Kroaten Francesco Patrizi (Frane Pétric), der schließlich die Ehre hatte den ersten universitären Lehrstuhl für Platonische Philosophie (eingerichtet durch Papst Paul III.) an der Sapienza in Rom besetzen zu dürfen. Um diese biographischen Falten und fata allerdings geht es im Folgenden nicht, sie sind an anderen Stellen nachzulesen[24]. Es geht vielmehr um die philosophischen Implikationen, die in den begrifflichen Bildungen und systematischen Ansätzen dieser Denker angelegt sind und um deren Potential. Dies sind Potentiale, die die Ontologie, die Intellekttheorie, die Sprachtheorie, die Naturtheorie und die studia humanitatis (Historik, Poetik) betreffen. Es geht also um den Begriff des „Geistes“ (mens, intellectus), um die Stellung und Funktion der Seele im Sein, um Fragen der Ontologie (das Einzelseiende, den Möglichkeitsbegriff), um die Bedeutung der Religion, um die Funktion der Liebe im Aufbau der Welt und zwischen den Individuen, um die Kompetenzen der Sprache (Kommentar, Dichtung), um die Entfaltungskraft des Individuums (Kunst) und natürlich auch um rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge (Bonaventura-Cusanus, Ficino-Patrizi etc.). Ein alle diese Themen in der Wurzel verbindender Tenor ist die begründete Annahme von Einheiten, die aus sich selbst heraus sind oder wirklich sind, die autark sind und die aus dieser starken Form von Einheit und Einssein heraus selbst wiederum Ursache und Prinzip für andere Einheiten sind, etwa für die Realisierung von ethischen Handlungen, von Tugenden, von gelingendem Leben als Person, von politischem Existenzraum, von Kunstwerken. Alle diese realisierten Einheiten[25] sind Teile der Wirklichkeit, der ontologischen als Individuen, der psychologisch-mentalen als Personen, der ‚ästhetischen‘ als Kunst, und treten neben andere Formen von Einheit, etwa organisch-biologische, allgemein naturhafte Einheiten oder kontingente, schwache Einheiten, deren ephemerer Charakter dennoch nicht hindert, daß an ihnen etwas aufscheint, das auf den starken Typus von Einheit verweist. Sprachlich drückt sich das häufig in Wendung wie ‚beseelt‘, ‚schön‘, ‚bewundernswert‘ etc. aus. Die platonische Tradition ist seit Platon der festen Überzeugung, daß es für die aus der Präsenz dieser multiförmigen Einheiten in der Realität entstehenden Thaumasien und folgende epistemischen Aporien Antworten nur auf der Ebene transzendenter, materiefreier, stabiler Einheiten geben könne. Auch dies wird Thema der hier vorgestellten Beiträge sein. Es nützt nichts, Säcke voll Argumenten für die Vielheit, die Variation, die Differenz, das Nicht-Identische und die Negativität auf den Strand des Seins zu kippen, wenn nicht das in diesen Argumenten versammelte Potential vor dem Hintergrund der kontinentalen Bindekraft von Einheit und deren fundierender, formgebender, strukturierender Kraft gedeutet wird. Daß ‚das Eine‘ oder ‚die Einheit‘ für das Denken immer schon, da dieses ausschließlich in vielheitlicher Form sich vollziehen kann, problematische Begriffe sind, an denen sich historisch gesehen – aber mit sachlicher, transhistorischer Notwendigkeit – aus dem Reibungsprozess der denkenden Anstrengung die negative Theologie, die reflektierte Mystik, die spekulative Dialektik entwickelt haben[26], kann philosophisch nicht gegen die Einsicht sprechen, daß keine Vielheit überhaupt denkbar ist, die nicht Einheit – sei es als Prinzip ihres Seins, sei es als Verfaßtheit ihrer eigenen Teilmomente – voraussetzt, kein Prinzip denkbar ist, das nicht, sofern ihm nichts anderes bedingend vorausgehen sollte und es daher zumindest nicht ‚erstes‘ Prinzip oder ‚erste Ursache‘ wäre, ein Eines oder selbst Einheit ist, kein Sein als ein bestimmtes, definites, zu anderem abgegrenztes und anderes Sein, das nicht durch eine in sich, trotz aller vielheitlichen Bestimmungen, einheitliche Form bestimmt ist, etc. Die Tatsache, daß man ‚pragmatisch‘ diese Fragen nicht mehr stellt, sozusagen um schnell weiter zu kommen, bedeutet nicht, daß sie nicht mehr existieren und sich nicht mehr aufdrängen und in ihrer Forderung nach Beantwortung nicht insistierend gegenwärtig blieben. Dies Feld der Theologie oder Spielarten der Religion zu überlassen, kann nicht Intention eines sich über sich selbst klaren und aufgeklärten Denkens sein.

 

Ein zentrales Thema der hier vorgelegten Texte ist sicherlich der komplexe Begriff des Geistes (mens, intellectus; wohl zu unterscheiden von dem psychologisch-biologisch oder auch rein theologisch zu verstehenden Begriff des spiritus). Er wird in dieser vor allem platonisch geprägten Diskussionslinie nicht so sehr im Sinne der durch Averroes und die sog. averroistische Schule in Paris (Siger von Brabant) herausgestellten Problematik des „intellectus agens“ und des „intellectus possibilis“ (nach Aristoteles, De anima III 5) behandelt – obgleich natürlich vor allem bei Cusanus und auch bei Ficino Kenntnis dieser Diskussion vorhanden ist –, sondern er wird ganz im Sinne der neuplatonischen Synthese aus Platon und Aristoteles verstanden, etwa so, wie ihn Plotin und Proklos durch ihren spekulativ gedachten Begriff des nus vorgegeben hatten (Plotin III 8, 9, 34 f: immer schon alles durchgegangen; VI 4, 14, 4-6: alles auf einmal). Dies muß man wissen, um die besonderen Bestimmungen und Kompetenzen, die dem Geist zugewiesen werden und die über die engeren intellekttheoretischen Implikationen (Aktuierung einer species, Abstraktion etc.) hinausgehen, zu verstehen. Es geht um Einheit und zwar um eine Einheit, die ineins absolute, vollständige und sich in ihren wiederum einheitlichen Teilmomenten durchsichtige, intelligible Vielheit ist. Es geht um die Vorstellung, daß der menschliche Geist ‚Bild‘ oder ‚Explikat‘ dieser absoluten noetischen Einheit ist und deren Vollkommenheit unter Bedingungen zeitlicher Ausfaltung (Diskursivität) schrittweise (in einem Leben) nach Innen (Begriffe, Intentionalitäten, Wissensformen) und Außen (Handlungen, Sprache, Kunst etc.) realisiert. Vor allem in den Beiträgen Mens und Intellectus sowie Zum Begriff des Geistes in der Frühen Neuzeit diskutiere ich am Beispiel des Marsilio Ficino und seines indirekten Schülers Francesco Patrizi die weitreichenden und auch für die Handlungs- und Freiheitslehre einschlägigen Implikationen dieses genuin neuplatonischen Verständnisses von Geist und versuche dabei auch die Transformationen deutlich zu machen, die dieser Begriff in seiner frühneuzeitlichen Aneignung erfahren hat[27]; für Cusanus habe ich dies an anderer Stelle ausführlich getan[28]. Der Begriff des Geistes wird hier deswegen herausgestellt, weil er, bis auf wenige Ausnahmen, in der Forschungsliteratur sozusagen contra evidentiam et lectionem ignoriert und beiseite geschoben wird. Es gibt anscheinend ein Unbehagen gegenüber den starken metaphysischen Implikationen: gegenüber einem nicht-empirischen Verständnis von ‚Ich‘ oder ‚Selbst‘, das mit einem starken Spontaneitäts-und Freiheitsmoment verbunden ist, gegenüber einem Wissensbegriff, der nicht lemmatisch-diskursiv, sondern enzyklopädisch-intuitiv ist und die Einheit des Wissens und der Wissenschaften gegen ihre schlechte Trennung behauptet, gegenüber der Vorstellung, daß die Seele ein „Sich-Aussprechen des Geistes“ (logos nou) ist (Plotin V 1, 3, 6-9), daß also alles, was an ihr wirklich ‚Seele‘ ist, nichts anderes als ein dynamisches Explikat des Geistes ist, der in ihr wirkt, gegenüber dem Gedanken vor allem, der nicht nur geisttheoretische oder psychologische Bedeutung hat, daß ein Eines am Vielen „gegenwärtig“ (präsent) sein kann, ohne daß es als solches aufgelöst wird. Mit diesem Grundgedanken der unverkürzten Präsenz des Einen im und am Vielen ist allerdings ein zentrales Thema der Theorie der Seele berührt, wie wir sie bei Marsilio Ficino und dann auch bei Patrizi finden, hierzu äußere ich mich vor allem in dem Beitrag Die Seele als Selbstverhältnis, zusätzlich aber auch in Abschnitt III, n. 2 von Mens und Intellectus[29]. Es gilt hierbei der Grundgedanke „daß die Einheit der Seele der Vielheit des körperlichen Substrates als Einheit gegenwärtig“ ist (wie auch, in der zeitgleichen Theorie des Schönen gilt, daß das Schöne oder die in ihm sich als „gratia“ zeigende Einheit, als Einheit in der Vielheit des Kunstwerkes gegenwärtig ist) [30], zugleich jedoch ist dieser Grundgedanke herausgefordert durch die allgemeine Ontologie, in der, nach dem Vorgang antiker Konzepte, die Seele als „Mitte“ des Seins, als „Verknüpfung“ oder „Band“ des Seienden oder als „Grenze/Grenzscheide“ von Intelligiblem und Sensiblem zu denken ist (Platon, Timaios 31 BC, 34 B; Plotin IV 6, 3, 5 f; IV 8, 4, 31 f; Liber de causis, prop. 2 et 9, etc.). Die Gegenwart des Einen mußte mit dem Gedanken des Vermittelns heterogener Seinsbereich zusammengedacht werden. Dies führt dann bei Denkern wie Patrizi, die sich an späneuplatonischen Differenzierungs- und Abstufungsmodellen orientierten, zu weiteren Binnenunterscheidungen des ‚mittleren‘ (seelischen) Seinsbereiches, so daß die Seele als Geistseele in der Einheit gehalten werden konnte (die Seele, die nach Plotin „nicht herausgefallen ist“, ouk exépesen, IV 8, 8, 1-6), die Seele hingegen als diejenige Kraft oder dasjenige Vermögen, das tatsächlich im körperlichen Substrat gegenwärtig ist, als das paradoxale Zugleich von Unkörperlich-Körperlich, als „spiritus“, verstanden werden konnte. Hier und in zeitgleichen Entwürfen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Cardano, Fracastorio, Telesio, Campanella) deutet sich schon die spiritus-Debatte auch der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft und dann des Rationalismus des 17. Jahrhunderts sowie der Cambridge Platonists an. In der Seelentheorie geht es vor allem um die Funktionen des Seelischen, also um Mitteilung von Leben, um das Steuern (kybernein, gubernari) des komplexen organischen Substrates, um Wahrnehmen und Empfinden (Konstitution von Innen-Außen) und um die Entfaltung (explicatio) des Geistigen in den konkreten Denk-und Handlungsraum. Damit, mit Entfaltung und Expression, wird ein weiterer wichtiger Diskussionsbereich berührt, der die spätmittelalterliche Denkform mit der frühneuzeitlichen verbindet: derjenige um die Begriffe des Möglichen und der Möglichkeit (possibile, possibilitas), der Kraft (potentia, vis) und des Vermögens (virtus). Hierzu finden sich Überlegungen vor allem im Rückgriff auf Gedanken des Nicolaus Cusanus in den Beiträgen Nicolaus Cusanus und Bonaventura (wo es um den cusanischen Gottesnamen „possest“ geht) sowie Renovatio und Unitas, der das Potential des menschlichen Seins zur Selbstentfaltung und Wirklichkeitsgestaltung behandelt[31]. Vor dem Hintergrund modaltheoretischer Differenzierungen, die den Möglichkeitsbegriff im Verhältnis zu Notwendigkeit und Wirklichkeit betreffen – die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit im absoluten Sein Gottes, das Sein der Wirklichkeit als durchgehende Realisierung des Möglichen (omnis creatura actu existens utique esse potest) und dasjenige Sein, das zwar möglich ist, aber nicht per necessitatem naturalem verwirklicht wird, sondern ebenso für immer möglich bleiben kann – entwickelt Cusanus einen Begriff von Möglichkeit, der zum einen seinen Gottesbegriff bestimmt (etwa in dem Gottesnamen possest), zum anderen aber, und das ist vor allem Gegenstand des Beitrages Renovatio und Unitas, seinen Begriff des sich in die Welt und als Welt (mundus humanus) entfaltenden Individuums[32]. Dies versuche ich auf der Basis folgender Überlegung zu zeigen: während in der klassischen Modallehre grundsätzlich gegolten hatte, daß ich von einem bestimmten x folgende Aussagen machen kann: ‚x ist möglich‘, ‚x ist wirklich‘ oder ‚x ist notwendig‘ und zwar immer als dieses identische x, so setzt Cusanus ingeniös diese x jetzt selbst als das Können oder das Mögliche (im Sinne von aktivem Ermöglichungsgrund) an, als ein Sein-Können, „dem kein Sein vorausliegt, von dem dieses das nachgeordnete Können wäre“ (unten S. …). Diese Grundform eines Seins ermöglichenden Seins, eines entfaltenden und explizierenden Prinzipseins, wird durch den Schöpfungsakt (in Verbindung mit dem imago-Gedanken) auf den Menschen übertragen: dieser ist jetzt selbst als posse esse humanum sein eigener Möglichkeitshorizont und ein autonomes Prinzip – entsprechend dem oben eingeführten Begriff autonomer Einheiten – von allein aus ihm entstehendem Sein, das sich dann als ein komplexer „mundus humanus“ entfaltet. Hierzu gehören natürlich Sprache, Handwerk, Politik und vor allem die Kunst, insbesondere diejenige des ‚Bildes‘. In diesem Sinne figuriert Nicolaus Cusanus als Paradigma für alles das, was Theoriebildung in der Renaissance im Blick auf die ontologische Position von Bildern, von Kunst, von Herstellungsprodukten des Menschen im Kern zu sagen haben wird. Diskutiert werden Begriffe wie Operationalität, Kreativität und Entfaltung und zwar vor dem Hintergrund metaphysischer Basisannahmen, die wir einerseits in den Texten zur Geist- und Seelenlehre ausführlicher behandelt haben (siehe die Bemerkungen oben …) und die andererseits, so etwa die Begriffe „virtus“ oder operatio“ jetzt näher in den Fokus rücken: „humanitatis extat virtus omnia ex se explicare intra regionis suae circulum“ (De coniecturis II, c. 14, n. 144; h III, S. 144). Das Grundthema hier ist die Selbstrealisierung des Menschen als bewußte Selbstkonfrontation mit dem ihm vom ersten Prinzip zugespielten Möglichkeits- und auch Freiheitsraum. Teile dieses Problems werden auch in dem Beitrag Mens und Intellectus aus der Sicht des Ficino erörtert, insbesondere dessen Freiheitsbegriff (im Unterschied zu demjenigen seines Freundes, Schülers und späteren Kritikers Giovanni Pico della Mirandola)[33]. Ausführlich wird hierauf in den Texten Der Bild-Begriff bei Cusanus und Francesco Patrizis Poetik des Wunderbaren eingegangen[34]. In den Überlegungen zum Bild-Begriff ist leitende Intention eine systematische Fassung dessen, was ‚ein-Bild-Sein‘ im Denkkontinuum zwischen Antike und Renaissance heißen kann (durchaus mit Implikationen auch für einen heutigen Diskurs über das ‚Bild‘ oder über Nachahmungs- und Imaginationstheorien) und eine Verbindung dessen, was hierzu gesagt werden wird, mit dem Begriff der Selbstrealisierung und Selbstentfaltung, wie ich ihn eben angedeutet hatte. Auch wird darauf geachtet, daß das metaphorische Umfeld in philosophischen Traktaten eine genuine piktoriale Verfahrensweise des Denkens immer wieder herausstellt – das läßt sich belegen bei vielen Autoren von Cusanus über Ficino bis hin zu Giordano Bruno (Explicatio triginta sigillorum, Opera latina, ed. Fiorentino et al., Neapoli-Fiorentiae 1879-91, II/2, S. 133: non est philosophus, nisi qui fingit et pingit, unde […] intelligere est phantasmate speculari)[35]. Für Cusanus kann gesagt werden, daß die faktische Entfaltung des menschlichen Entfaltungsvermögens, sei es begrifflich, sei es in mentalen Vorstellungsbildern, sei es durch handwerkliche oder ethisch-politische Tätigkeiten, sei es durch Kunst, je ein ‚Bild‘ oder besser: ein inbegriffliches Gegenbild zu einem ihm bedingend vorausliegenden (intelligiblen) Ur-Bild erzeugt. Dabei ist das umfassendste Gegenbild der Begriff des Universums, da dieses die Totalität des in die Existenz getretenen Seinsmöglichen in sich begreift. Dieses Gegenbild ist ausschließlich, wird der Begriff nicht nur äußerlich, grammatikalisch-denominativ genommen, sondern als reflektierter Sachbegriff, Produkt der Vernunft oder des Geistes (intellectus, mens). Andere Bilder sind in abgestufter Intensität und Bedeutung ebenfalls, als Bilder, Einheiten (siehe oben das zur Bedeutung von Einheit Gesagt, S. ….), die aus der Entwurfs-und Produktiosmöglichkeit des menschlichen Wesens entstehen – innere wie äußere Bilder stecken den mundus humanus ab, von dem wir zuvor schon kurz gesprochen haben, sie sind, sofern sie realisiert (gedacht, produziert etc.) werden, der Explikationshorizont des Menschen als seine Welt: omnia humaniter explicata[36]). Man kann sagen, daß in der poetologischen Diskussion des 16. Jahrhunderts bis hin zu Patrizi, das Poema ebenfalls als eine Einheit gegolten hat, die bestimmten strukturellen Bedingungen unterworfen ist und deren Bedeutung für das menschliche Sein durchaus die einfachen Modi rein sensueller Perzeption und das aus der Sprachgewohnheit resultierendem Verstehen überstiegen hat. Der Beitrag zu Patrizis Poetik des „Wunderbaren“ (mirabile) stellt neben die in anderen Texten diskutierte Bedeutung des Patrizi innerhalb der platonischen metaphysischen Tradition bewußt einen Text, der aus der lebendigen breiten Diskussion der Poetik dieser Zeit gewachsen ist und der einige besondere Vorschläge einer künftigen Poetik bereithält (die etwa, so sehe ich es, auf die Produktionen eines Marino voraus weisen).

 

Eine Reihe weiterer Abhandlungen befaßt sich mit Problemen der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zwischen den hier thematischen und auch anderen Autoren der philosophischen Tradition (Platon, Proklos, Bonaventura). In ihnen geht es um Kommentierung (Ficinos Platon-Kommentare), systematische Interpretation und Aneignung (Patrizi und Proklos) sowie Transformation von Kerngedanken (Cusanus und Bonaventura)[37]. In diesen Texten tauchen zentrale Themenbereiche, die ansonsten gesondert diskutiert werden, ebenfalls immer wieder auf: die Geisttheorie, die Seelenlehre, die Theorie der Liebe, die Problematik von Entfaltung und Freiheit). Ein eigener Text ist der für die Kultur und das Denken der Renaissance ganz besonders wichtigen Theorie (und Praxis) der Liebe gewidmet[38]. Er versucht, ausgehend von einer systematischen Rekonstruktion des in Ficinos De amore verhandelten Begriffs von „Liebe“ (amor, amore), einen tieferen Einblick in die Abhängigkeit dieses Begriffs von Platons einschlägigen Texten im Symposion und im Phaidros sowie von den Platon-Deutungen des Plotin auf der einen Seite zu geben und auf der anderen Seite auf die signifikanten Veränderungen in der Gewichtung bestimmter, schon Platon natürlich bekannter Aspekte der Liebe hinzuweisen, wie die neue Bewertung, die die Dimension der rein affektiven, auf Sinnesreizungen und Attraktivitäten basierenden Liebe (fascinum amoris) oder die Betrachtungen zu der sich in der Welt bewegenden, einen amor mutuus intendierenden und nicht ausschließlich „nach oben“ in die transzendente, intelligible Welt ausgerichteten Liebe erfahren. In Ficinos Texten kann man die „Diskrepanz zwischen der Stärke und Macht des natürlichen Strebens und der Offenheit seiner Konsequenzen, die zugleich der Horizont seiner Steuerbarkeit ist“ deutlich sehen, überall in dem hierdurch abgesteckten, die ganze Bandbreite des Lebens umfassenden Lebensfeld ist die Liebe der „mentale ‚Ort‘ der Unvermeidlichkeit des Sterbens“ und von dessen absoluter Wechselhaftigkeit[39]. Amor erweist sich für Ficino, aber auch schon in der ganzen Tradition seit Platon, für Plotin, Augustinus, Dionysius u. a., sofern er durch Reflexion und philosophische Deutung in seinem Wesen erkannt wird, zugleich als stärkstes Antidot gegen diese instabilitas menschlichen Seins, als Kraft der Restitution, Erhaltung und Dauer (Ficino A VI, c. 11), die sich in der zwischenmenschlichen Liebe, dem „amor mutuus“, zu einem gelebten lebendigen Symbol eines eigentlich idealen Seins verdichtet. Es geht um die Durchdringung, die das endliche Sein durch eine über es selbst hinausgehende Kraft erfährt – auch deswegen ist die Liebesthematik engstens mit der Schönheitsdebatte verbunden, sofern letztere eine analoge Durchdringung (und folgend Präsenz) des endlichen Artefakts seitens einer ihm letztlich transzendenten – etwa durch Licht symbolisierten – Kraft behauptet hat (sieh oben). In der Traktat-Literatur der späteren Renaissance wurde dieser Ansatz des Ficino dann weiter entfaltet, in der Kunst wurde er immer wieder thematisch, insbesondere durch die Darstellungen der beiden Grundtypen der „irdischen“ und der „himmlichen“ Aphrodite (Liebe) und durch die unzähligen Inszenierungen, in denen die einschlägigen Erzählungen aus den Metamorphosen des Ovid mit diesem platonischen Hintergrund synthetisiert worden sind.

 

Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen ohne die Aufnahme in die Reihe Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge, die Claus Zittel vor Jahren angeregt hatte und die Gisela Engel (Frankfurt) trotz zeitlicher Verzögerung dankenswerter Weise weiter befürwortet hat, sowie ohne die umsichtige und unschätzbare lektorierende Tätigkeit von Henrik Wels (Berlin). Allen Genannten gilt mein tiefer Dank.

 

Berlin, April 2013