Vorwort
Der antifaschistische Widerstandskämpfer und Aktivist der ersten Stunde ab
8. Mai 1945 hat sein bewegtes Leben sehr informativ für die Nachgeborenen
aufgezeichnet. Er schrieb: „den vorliegenden Bericht (der 270 Seiten
umfasst) habe ich 1987 und 1988 aus den Notizen, Konzepten und anderen
Vermerken, die ich nach 1945 und vor allem seit 1970 bei verschiedenen
Veranstaltungen, Aussprachen, Foren und Vorträgen über den
antifaschistischen Widerstandskampf und die Jahre nach 1945 benutzte oder
aus Schilderungen – zum Beispiel für das Archiv der Nationalen Mahn- und
Gedenkstätte Sachsenhausen und Aufzeichnungen zu anderen Gelegenheiten –
zusammengestellt. Meine Absicht bestand vor allem darin, aus eigenen
Erlebnissen die ersten Jahre der DDR zu schildern, weil ich sie für die
Darstellung unserer Geschichte für besonders wichtig halte. Daraus
ergab sich natürlich, über mein Leben vor 1945 das Wichtigste
aufzuzeichnen. Diese Aufzeichnungen sind also nicht entstanden, weil ich
das eigene Leben für außergewöhnlich halte. Es war nicht anders als es
Tausende meiner Generation und politisch Gleichgesinnter erlebten, die wie
ich das Glück hatten überlebt zu haben.“ Lakonisch schrieb Kurt Riemer,
dass sich ältere Menschen an besondere Ereignisse in den Kinderjahren sehr
gut erinnern können. Ein Schlüsselerlebnis war für ihn, der 1909 in Berlin
geboren wurde, die Ereignisse im August 1914. Einprägsam schildert er,
wie er als fünfjähriger den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte. Kurt
befand sich mit seiner Mutter und der zwei Jahre älteren Schwester auf
Besuch bei der Großmutter, die in dem Dorf Neuholland im Kreis Oranienburg
lebte. Er schildert anschaulich wie die Mutter plötzlich alle Sachen
zusammenpackte und zurück nach Berlin eilte. Bildhaft skizziert Kurt
Riemer das Gewimmel und Treiben auf dem damaligen Stettiner Bahnhof dem
heutigen Ostbahnhof. Die Leserinnen und Leser können durch Ausführungen
die damalige Kriegsbegeisterung der Menschen nachempfinden. Er gewann
damals den Eindruck, dass der Sieg über die Feinde bereits errungen war.
Zurecht erinnert Kurt Riemer daran, dass seine Erinnerungen an die
Geschehnisse in den Jahren von 1914 bis 1918 geprägt wurden durch den
weiteren Verlauf und das harte Leben in den Kriegsjahren. Bildhaft
schildert der Autor, wie er als zehnjähriger die Tage der
Novemberrevolution 1918 in Berlin erlebte. Gleiches gilt für die
Erinnerungen an den Kapp-Putsch 1920. Er berichtet, dass diese
persönlichen Erlebnisse mitbestimmend waren für sein späteres politisches
Leben. Ausführlich geht Kurt auf seinen Weg zum Wergzeugmacher ein. Die
Nutzer der Biografie erfahren, dass es ihm gelang, 1923 eine Lehrstelle
bei den Siemens-Schuckert Werken in Berlin zu erlangen. Man erfährt, dass
die Ausbildung zum Facharbeiter sehr gründlich war mit dem Ziel des
Betriebes, sich eine folgsame Stammbelegschaft zu schaffen. In diesem
Zusammenhang schildert er, dass nach einer zweijährigen Lehrzeit im
Betrieb die Spezialisierung zum Werkzeugmacher begann in dem er in den
Werkzeugbau des Elektromotoren-Werkes kam. Hier fand Kurt trotz Verbot
den Weg zur Gewerkschaft. Er organisierte sich im Deutschen
Metallarbeiterverband (DMV). Seinen Hinweis, dass er sich als Lehrling
nicht politisch engagieren darf erwiderte sein Arbeitskollege „Du musst
Dir für Dein ganzes Leben merken alles was für die Arbeiter gut ist, ist
im Kapitalismus verboten.“ Diesen klassischen Satz hat Kurt nie vergessen.
Im Zeitabschnitt von 1927 bis zum 30. Januar 1933 skizziert er
außerordentlich einprägsam seine Tätigkeit als Werkzeugmacher und seine
politischen Aktivitäten innerhalb der Gewerkschaft und als Mitglied der
KPD. Der Autor verweist an Hand zahlreicher Beispiele, dass von Seiten
der KPD und der SPD sowie den Gewerkschaften unmittelbar nach der
Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland der Widerstand gegen
das NS-Regime organisiert wurde. Er schildert wie die KPD Mitglieder
gezielt und diszipliniert in den illegalen Widerstand gingen, indem sie
jede Möglichkeit nutzten, um Parteieigentum aller Art sicherzustellen.
Überzeugend legt Kurt Riemer dar, wie die illegale Tätigkeit organisiert
wurde. Um drohenden Verhaftungen zu entgehen wurden abgeschottete
Fünfergruppen gebildet, illegale Treffpunkte festgelegt. Dazu nutzten die
Widerständler die zahlreichen Möglichkeiten, sich an den Berliner Seen und
Wäldern zu treffen. Sie nutzten auch die Möglichkeit, in die bürgerlichen
Sport- und Kulturvereine einzutreten, um sich dort – unerkannt –
auszutauschen. Die Leserinnen und Leser erfahren auch, daß bei aller
Gefährlichkeit bei dem Wirken gegen die braune Diktatur die Widerständler
sich zu fröhlichem Tun zusammenfanden. Da Kurt Riemer den NS-Schergen
nicht unbekannt war, riet ihm Robert Uhrig, auf Wanderschaft zu gehen, um
so unterzutauchen. Er folgte dem Rat und fuhr mit dem Fahrrad von Berlin
durch Sachsen, Bayern, Württemberg-Baden und die Rheingebiete, den
Schwarzwald und die Oberpfalz. Die Radwanderung nutze Kurt Riemer sowohl
für seine politische als auch kulturelle Bildung. Ende September 1933
kehrte er nach Berlin zurück und nahm sein normales Leben wieder auf.
Seine illegale Verbindung zu Max Riedel und Robert Uhrig wurde intensiv
und konspirativ fortgesetzt. Trotz aller Vorsicht kam ihm im Januar 1934
die Gestapo auf die Spur. Es erfolgte seine Verhaftung und er wurde in das
von der SA geführte Konzentrationslager „Maikowski-Haus“ verschleppt. Das
Konzentrationslager war nach dem SA-Sturmführer benannt, der im Januar
1933 umkam. Kurt wurde dort brutal verhört. Den Nazis war es gelungen, Max
Riedl zu verhaften, der unter der Folter zugegeben hatte, Kurt Riemer
Exemplare der illegalen „Roten Fahne“ übergeben zu haben. Bei der
Gegenüberstellung sagten sie gleichlautende Fakten aus, um zu verhindern,
dass weitere Kampfgefährten verhaftet wurden. Da Max Riedel in einem
anderen Stadtbezirk wohnte, konnte Kurt glaubhaft aussagen, nicht zu
dessen illegaler Gruppe zu gehören. Im weiteren Verlauf seiner Haftzeit
geriet er an einen Gestapo-Kommissar, der offensichtlich schon vor 1933
bei der Polizei tätig gewesen war und sich menschlich verhielt. Er nahm
die Aussagen von K. Riemer, nur zufällig illegales Material angenommen zu
haben, als Wahrheit zur Kenntnis und verfügte seine sofortige Entlassung
aus der Haft – nach dem Kurt Riemer sich verpflichtet hatte, sich nicht
mehr politisch gegen das Regime zu betätigen. Dieser setzte sein illegales
Wirken dennoch umgehend weiter fort. Er beschreibt faktenreich, wie unter
Leitung von Robert Uhrig der Widerstand in Berlin organisiert wurde. K.
Riemer beschreibt einprägsam, wie nach der Verhaftung von Robert Uhrig der
illegale Widerstand, nun unter seiner Leitung, fortgesetzt wurde. Stolz
berichtet er, dass die Widerständler sogar Kontakt zu R. Uhrig herstellen
konnten, der eine Zuchthausstrafe in Luckau verbüßte. Es gelang ihnen,
illegales Material, getarnt als Geschenksendungen, nebst Teilen für ein
Transistorradio in das Zuchthaus einzuschmuggeln, so dass die Häftlinge
Kontakt zur Außenwelt erhielten. Durch seine Schilderung über das
illegale Wirken der Uhrig-Organisation von 1936 bis 1942 ist zu erfahren,
das von Berlin aus ein engmaschiges illegales Netz über das gesamte Land
bis nach Österreich aufgebaut wurde. Kurt Riemer erläutert, dass die
gesamte politische Arbeit trotz der hohen Verluste und Rückschläge darauf
ausgerichtet war, den Zusammenhalt der KPD zu sichern, zerrissene
Verbindungen wieder herzustellen und Verbündete aus allen Schichten der
Bevölkerung für den illegalen Widerstand zu gewinnen. Die Widerständler
bemühten sich besonders um die noch verbliebenen Sozialdemokraten, um die
erstrebte Einheitsfront gegen die NS-Diktatur doch noch herzustellen. Er
schreibt: „Unser Ziel war und blieb, unter den schwierigsten Bedingungen
aus eigener Kraft das NS-Regime zu stürzen.“ Der Autor berichtet
detailliert über die Ursache, die zur Zerschlagung der Uhrig-Organisation
führte und betont, dass er nur durch das standhafte Schweigen seiner
Kampfgefährten überlebte. Die Gestapo nahm Kurt Riemer unter der Annahme,
dass er durch die Bekanntschaft mit Robert Uhrig zu der Organisation
gehöre, im September 1943 fest. Es gelang ihm durch geschicktes
Verhörverhalten, diesen Verdacht zu entkräften; dennoch wurde Kurt im
September 1943 in das Konzentrationslager Sachsensenhausen verschleppt.
Die dortige Haftzeit bis zum Todesmarsch im April 1945 beschreibt er
faktenreich. K. Riemer kam zu Gute, dass er als Werkzeugmacher in den
SS-Werkstätten Fronarbeit leisten musste, wobei er zugleich seine
Kenntnisse für die Sabotage der Rüstungsproduktion nutzen konnte. Die
LeserInnen der Publikation erfahren, dass Kurt Riemer als Aktivist der
ersten Stunde – entgegen seinem Wunsch, Lehrausbilder zu werden – zunächst
die Funktion des Bürgermeisters in dem ostbrandenburgischen Dorf Telschow
zu übernehmen hatte, ehe er in seinen nachfolgenden Tätigkeiten ein
anerkannter Wirtschaftsfachmann der DDR wurde. Am 30. September 1971
beendete er sein berufliches Wirken. Die Autobiografie von Kurt Riemer
ist das Spiegelbild eines Mannes, der die ganze Dramatik des 20.
Jahrhunderts er- und durchlebte. Sie ist ein ausgezeichnetes Lesebuch für
die gegenwärtige Zeit.
Dr. Günter Wehner
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort 7 Jugend 13 1923 –
Lehrzeit 17 1927 – Meine politische Tätigkeit als
Werkzeugmacher 23 1933 – Illegalität
33 1934 – Im Maikowski-Haus 39 1934 – Im
Columbia-Haus 48 Nach 1934 – Die Tätigkeit in der
illegalen Berliner Parteiorganisation unter Leitung von Robert Uhrig
59 September 1943 – Meine zweite Verhaftung – Prinz-Albrecht-Straße und
Lehrter Straße 89 Oktober 1943 – Im
Konzentrationslager Sachsenhausen 110 1944 – Das
Arbeitskommando 124 Noch einiges über mein Leben im
Lager 142 April 1945 – Evakuierung des Lagers und
Ende des Todesmarsches 146 Mai 1945 – Wie das neue
Leben begann – Bürgermeister in Telschow 164 Januar
1946 – Werkzeugmacher bei der AEG 200 April 1946 –
Mitarbeit bei der Schaffung des Volkseigentums – Die Zentralkommission für
Sequestrierung und Beschlagnahme 205 April 1948 – Der
Ausschuss zum Schutze des Volkseigentums 224 August
1949 – In der Personalabteilung der Deutschen Wirtschaftskommission
229 Oktober 1949 – Leiter der Hauptabteilung Personal im Ministerium
des Inneren 231 Oktober 1951 – Die neue Arbeit in der
Metallurgie 238 Januar 1952 bis 1956 – Werkdirektor
in den Eisenwerken West, Calbe/Saale 242 1956 –
Leiter der Hauptverwaltung Eisenindustrie im Ministerium für Berg- und
Hüttenwesen 282 1958 – Vorsitzender des
Bezirkswirtschaftsrates Magdeburg 288 Juli 1960 –
Beginn meiner letzten Berufsjahre 292
Quellen-
und Literaturverzeichnis 299
Über den Autor
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