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Argentinische Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts

Herausgegeben, mit Kurzbiographien
und einem Vorwort versehen von
María Teresa Andruetto

 

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2014, [= Lateinamerika-Studien, Bd. 3], 234 S., ISBN 978-3-86464-046-9, 26,80 EUR

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Inhalt


Vorwort: Argentinische Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts María Teresa Andruetto 9

TUNUNA MERCADO 17

Antieros 19

LILIA LARDONE 27

Drehbuch für einen Dokumentarfilm (Die goldenen Jahre?) 29

Luisa Axpe 43

Die Schilfrohre 45

DELIA CROCHET 53

Die Form des Apfels 55

ANDREA RABIH 63

Schwarzes Wachs 65

ESTELA SMANIA 81

Mami kommt heute 83
Die Nacht oder wie man mit ihrer Hilfe das Land der Ängste und Verluste betritt 86

IRMA VEROLIN 91

Regentage 93

AMALIA JAMILIS 105

Nach dem Kino 107

PATRICIA SUÁREZ 113

Reise zum fünfzehnten Geburtstag 115

PAULA WAJSMAN 129

Brauchtum 131
Erster Traum 131
Zweiter Traum 132
Die Ankündigung 132
Die Ankunft 133
Ein Land 133
Das Treffen 134
Die Krankheit 134

LILIANA HEKER 137

Wenn alles glänzt 139

MARTA ORTIZ 149

Feigenbaum 151

ANGÉLICA GORODISCHER 163

Die Kategorien des Lebens gemäß der systematischen Klassifikation von Linné 165

LILIANA  HEER 173

Der Kreislauf 175
Gute Reise 180
Turbulentes Grundthema des Klaviers gefolgt von
einer Kadenz der Violine 191

ESTHER CROSS 193

Der Übersetzer von Conrad 195

LIBERTAD  DEMITRÓPULOS 205

Der Fluss des Leides [Auszug] 207
Die eiserne Blume [Auszug] 217

ELVIRA ORPHÉE 221
Ach, Enrique! 223

Danksagung 233
Porträts der Autorinnen 234
Editorial zur Reihe 235

 

Vorwort:

Argentinische Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts


Die argentinischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts wirkten im Kontext des Kampfes um die nationale Unabhängigkeit oder im Umfeld schreibender Männer. Zu den wichtigsten Vertreterinnen dieser Gruppe zählen u.a. Juana Azurduy, Juana Manuela Gorritti, Mariquita Sánchez de Thompson und Juana Manso. Sie waren auf unterschiedliche Weise an der Gründung der argentinischen Republik beteiligt, brachten Ideen ein, publizierten und unterhielten literarische Salons.
Die zweite Generation bestand aus den so genannten „Schriftstellerinnen der 1880er Jahre“ (u.a. Elvira Aldao, Delfina Bunge, Agustina Andrade, Eduarda Mansilla). Sie genossen die Privilegien und litten unter den Beschränkungen der Patrizierklasse, der sie als Töchter, Schwestern oder Ehefrauen der Männer angehörten, die Ende des 19. Jahrhunderts die Geschicke Argentiniens bestimmten. Diese Schriftstellerinnen waren vom Fortschrittsglauben erfüllt und in ihrer Wahrnehmung eurozentrisch geprägt. Wie ihre männlichen Kollegen hingen sie dem Positivismus an und kultivierten den Drang zu reisen und andere Kulturen – allen voran die französische – kennenzulernen. Doch als Frauen hatten sie unvermeidlich eine eigene Sichtweise, und auch in ihrem Schreiben thematisierten sie ganz eigene Fragen und Sorgen.
Ein großer Vorteil war zweifelsohne, dass sie der politischen und kulturellen Elite ihres Landes angehörten und auf ihre Familien sowie andere wichtige Kontakte zurückgreifen konnten. Doch um eine Stimme zu finden, mit der sie über ihre Anliegen sprechen konnten, mussten sie die Tabus hinterfragen, auf denen ihr gesellschaftliches Ansehen als Frauen gründete und die sie in ihrem privaten wie öffentlichen Leben – und nicht zuletzt in ihrer literarischen Entwicklung – prägten. Ähnlich wie ihren männlichen Kollegen stellte sich diesen Schriftstellerinnen vor allem die Frage des technologischen Fortschrittsglaubens, doch rückten sie in ihren Interpretationen in den Vordergrund, dass dieser Fortschritt nur über die Bildung und die außerhäusliche Arbeit auch der Frauen erreicht werden konnte. Vielleicht war ihnen dabei nicht einmal bewusst, dass eines Tages die Töchter und Enkelinnen ihrer Dienstboten von ihrem Einsatz profitieren würden. In gewisser Weise traten sie also für deren Belange ein, ohne zu ahnen, wie groß die von diesen Veränderungen ausgehende Umwälzung der Gesellschaft sein würde, die sie selbst verkörperten und deren Privilegien sie genossen.
Der folgenden Generation von Schriftstellerinnen oblag es dann, die zuvor nur vorgezeichnete Suche nach einer eigenen Sprache für ihre Anliegen zu vertiefen. Victoria Ocampo und Salvadora Medina Onrubia repräsentierten die radikalen Gegensätze der in dieser Gruppe herrschenden ideologischen und lebensweltlichen Positionen. Victoria Ocampo (1890–1979) wurde wie viele argentinische Schriftstellerinnen vor ihr in eine reiche Familie der Aristokratie von Buenos Aires geboren. Ihr erstes Buch veröffentlichte sie 1924, mit ihren Werken brachte sie die Stimmen und Ideen der wichtigsten Denker und Schriftsteller ihrer Zeit nach Argentinien. Auch für eine Stärkung der Frauen setzte sie sich ein, zwar noch beschränkt auf ihre eigene Klasse, dennoch in einer bis dahin ungekannten und unvorstellbaren Deutlichkeit. 1930 schließlich gründete sie die Zeitschrift Sur (und etwas später den gleichnamigen Verlag), die zu einem grundlegenden Instrument der Kanonisierung in der argentinischen Literatur wurde.
Salvadora Medina Onrubia (1894–1972) war Anarchistin und Feministin jüdischer Abstammung. Ihre Kindheit verbrachte sie im argentinischen Hinterland, sie lebte als alleinerziehende Mutter und begann 1918 ihre literarische Laufbahn. Sie schrieb für die wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften des Landes, verfasste Theaterstücke, Gedichte sowie Erzählungen und leistete Pionierarbeit für das argentinische Kindertheater. Im Alter von zwanzig Jahren heiratete sie den Inhaber der Zeitung Crítica, die sie nach dem Tod ihres Mannes von 1946 bis 1951 selbst leitete.
Victoria Ocampo und Salvadora Medina Onrubia waren in ideologischer Hinsicht Antipoden, einmal aufgrund ihrer sozialen Herkunft, dann aufgrund ihrer politischen Ausrichtung. Victoria Ocampo stellte sich gegen den Peronismus, Medina Onrubia war Gegnerin von General Uriburu, der den ersten Staatstreich in Argentinien anführte. Durch Geburt oder Heirat erhielten beide Zugang zu den Sphären der Macht und kämpften dort für die Rechte der Frauen, für ihr Wahlrecht und für ihre Freiheit zur sexuellen Entfaltung. Auf unterschiedlichen Wegen suchten beide, was die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector als die „Suche nach dem Eigenen“ beschrieben hat, und vielleicht gründet die ihnen bis heute entgegengebrachte Wertschätzung nicht nur auf rein literarischen Qualitäten, sondern auch auf der Bruchstelle, auf der Scharnierposition, die sie zwischen der ihnen vorangegangenen und der auf sie folgenden Generation von Schriftstellerinnen einnahmen.
Silvina Ocampo (1903–1993) war die Schwester von Victoria, die Ehefrau des Schriftstellers Adolfo Bioy Casares und bewegte sich im engsten Umfeld von Jorge Luis Borges. Sie begann 1937 zu schreiben und mit ihrer Vorstellungskraft, ihrem scharfen Blick für die Verwerfungen des menschlichen Wesens und für die dunklen Seiten im Leben der Töchter aus gutem Hause gelang ihr ein Werk, das ohne jeden Zweifel allein aufgrund seiner literarischen Qualitäten Bestand hat und schließlich den Kanon der zeitgenössischen Schriftstellerinnen Argentiniens begründete.
Ab 1930 setzten in der argentinischen Gesellschaft zahlreiche Veränderungen ein, die neuen Gesellschaftsbereichen allmählich den Zugang zur Bildung und zu materiellen, kulturellen sowie symbolischen Gütern ermöglichten. Wichtige Schritte waren dabei u.a. das allgemeine Wahlrecht (zunächst nur für volljährige Männer), die Präsidentschaft von Hipólito Irigoyen, die Krise von 1930, der Staatsstreich von General Uriburu, auf den eine Reihe von Militärputschen folgte – die sich mit Unterbrechungen bis 1983 fortsetzten – der Aufstieg des Peronismus 1945, der den ökonomisch schwachen Schichten langfristig Zugang zu materiellen und soziokulturellen Gütern verschaffte, das während dieser Zeit eingerichtete Wahlrecht für Frauen und die Öffnung der freien, laizistischen und kostenlosen Universität für die Mittelschicht im Allgemeinen sowie für Frauen im Besonderen, in deren Folge Frauen aus der Mittelschicht erstmals eine Hochschulausbildung absolvieren konnten. Schriftstellerinnen aus neuen Gesellschaftsschichten begannen Ende der 1940er Jahre ihre Bücher zu veröffentlichen. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in den 1960er Jahren und bis zum Staatsstreich von 1976. In dieser Zeit der kulturellen Blüte entwickelten schreibende Frauen unterschiedliche Stile und erreichten zum Teil auch große Auflagenhöhen (z.B. Marta Lynch, Beatriz Guido oder Silvina Bullrich).
Die vorliegende Anthologie möchte einen Überblick über die Erzählerinnen der argentinischen Literaturszene dieser Jahre bis hin zur Gegenwart bieten. Bei der Auswahl wurden allerdings solche Autorinnen nicht berücksichtigt, die nach 1970 geboren wurden. Versammelt wurden Vertreterinnen verschiedener Generationen (Angélica Gorodischer, Elvira Orphée oder Libertad Demitrópulos zählen zu den ältesten, Esther Cross, Andrea Rabih oder Patricia Suárez zu den jüngsten) und unterschiedlicher sozialer wie kultureller Herkunft. Einige von ihnen bilden wahre Säulen des weiblichen Schreibens in Argentinien (Liliana Heker, Angélica Gorodischer, Elvira Orphée, Libertad Demitrópulos), entweder aufgrund der literarischen Qualität ihrer Werke oder aufgrund der Räume, die sie den ihnen nachfolgenden Frauen erschlossen haben. Für einige von ihnen war Buenos Aires der Mittelpunkt ihres Lebens und Wirkens (Andrea Rabih, Esther Cross, Luisa Axpe), andere blieben auch angesichts der bis vor wenigen Dekaden in Argentinien herrschenden Zentralisierung des kulturellen Lebens und Verlagswesens in ihren Provinzen (Delia Crochet und Marta Ortiz in Rosario, Lilia Lardone und Estela Smania in Córdoba, Amalia Jamilis in Bahía Blanca), wieder andere entwickelten ihr Schreiben im politischen Exil (Tununa Mercado fand Zuflucht in Frankreich und Mexiko). Einige von ihnen entstammen dem Bildungsbürgertum, Gesellschaftsbereichen mit bedeutendem kulturellen Kapital (Elvira Orphée, Tununa Mercado, Esther Cross), andere kommen aus der Mittelschicht (Lilia Lardone, Patricia Suárez, Delia Crochet, Irma Verolin). Ihre Werke wurden von Kleinverlagen herausgebracht (Delia Crochet, Marta Ortiz, Liliana Heer, Libertad Demitrópulos, Paula Wajsman, Estela Smania) oder erschienen bei großen Verlagshäusern (Liliana Heker, Tununa Mercado, Esther Cross, Angélica Gorodischer).
Einige erlebten Phasen großer öffentlicher Anerkennung und gerieten später fast in Vergessenheit (Amalia Jamilis hatte in den 1970er Jahren Erfolg bei Publikum und Kritik, verschwand danach allerdings fast vollkommen, Irma Verolin erhielt bedeutende Literaturpreise und erlebte danach lange Jahre der Stille, Luisa Axpe veröffentlichte in den 1980ern und Anfang der 1990er bei großen Verlagen, danach verschwanden ihre Bücher vom Markt) oder genossen „Kultstatus“ (Paula Wajsman, Liliana Heer), was gleichbedeutend war mit äußerst geringen Verkaufszahlen, und die sehr jung verstorbene Andrea Rabih wurde eigentlich erst vor Kurzem durch die Veröffentlichung ihrer gesammelten Werke entdeckt. Bei Autorinnen wie Andrea Rabih, Delia Crochet oder Estela Smania (die zuvor im Grunde auf ihre Bücher für Kinder und Jugendliche reduziert wurde) konnte mein Blog Narradoras argentinas (www.narradorasargentinas.blogspot.com) mit seinen bescheidenen Mitteln zu einer größeren Verbreitung und Anerkennung sowie zur Publikation ihrer Werke beitragen.
Die Themen der hier versammelten Erzählerinnen reichen von der zum höchsten Glanz getriebenen Hausarbeit (Tununa Mercado) bis hin zum Elend in kleinen Provinzstädtchen (Delia Crochet), von den Klassenunterschieden, der Unterdrückung und den Frustrationen von Frauen (Lilia Lardone) bis hin zum Verhältnis von Erotik und Krankheit (Andrea Rabih), von Vergänglichkeit (Irma Verolin) bis hin zu fehlender Liebe, Einsamkeit, Verlassenheit oder Alter (Estela Smania, Marta Ortíz), vom Aufeinandertreffen zwischen Realem und Fantastischem (Amalia Jamilis, Luisa Axpe) bis hin zu ästhetischen wie haushälterischen Anforderungen und weiblichen Stereotypen (Angélica Gorodischer), vom Verhältnis zu den anderen, Liebe, Sex, Arbeit und Mutterschaft (Patricia Suárez) bis hin zu Humor und Parodie (Angélica Gorodischer, Patricia Suárez), von intellektuellen Welten (Liliana Heer, Esther Cross) bis hin zur Abrechnung mit dem Leben, der Krankheit und dem Tod (Paula Wajsman, Andrea Rabih), von Klassenunterschieden, Kindheit und Obsessionen (Liliana Heker) bis hin zu weiblicher Subjektivität und zur Entwicklung eines eigenen Ichs (Estela Smania, Marta Ortiz), schließlich von Experimenten und teilweise extremen Brüchen mit der Sprache (Liliana Heer) bis hin zum Leben an der Grenze, der indigenen Welt, der ethnischen Vermischung und Identität (Libertad Demitrópulos, Elvira Orphée). So entsteht in seiner Gesamtheit ein Panorama, das keine Themen oder Formen scheut und sich Etikettierungen oder Zuschreibungen einer „weiblichen“ Literatur entzieht bzw. sie unterläuft.
Viele außerordentliche Erzählerinnen, die ebenfalls in den Zeitrahmen dieses Bandes gepasst hätten, konnten leider nicht in die Auswahl aufgenommen werden; gleiches gilt für die neuen Namen der von Frauen verfassten argentinischen Literatur, für die beeindruckende Gruppe der seit Ende der 1960er geborenen Schriftstellerinnen, für so hervorragende Erzählerinnen wie Samantha Schweblin, Selva Almada, Eugenia Almeida, Fernanda García Lao, Laura Alcoba und viele andere mehr. Sie alle hätten es ohne jeden Zweifel verdient, Anlass und Gegenstand einer weiteren Anthologie zu werden.
María Teresa Andruetto
Übersetzung: Marcel Vejmelka
 

TUNUNA MERCADO

Tununa Mercado wurde am 25. Dezember 1939 in Córdoba als Nilda Mercado geboren und wuchs in einer Familie des lokalen Bildungsbürgertums auf. Sie studierte Philologie an der Universidad Nacional de Córdoba, dort lernte sie den Literaturwissenschaftler Noé Jitrik kennen, den sie später heiratete und mit dem sie zwei Kinder hat. 1964 zog sie mit ihrer Familie nach Buenos Aires, wo sie Teil der Intellektuellengruppe um Jitrik war, zusammen mit César Fernández Moreno, Paco Urondo, Alberto Vanasco, Miguel Brascó und Juan Gelman. Während der Militärdiktatur Onganías in den sechziger Jahren ging sie nach Frankreich, da ihr Mann von der Universität in Besançon berufen worden war, lehrte dort Geschichte und Kultur Lateinamerikas und erlebte auch den Mai 1968. 1970 kehrte sie nach Argentinien zurück und arbeitete für La Opinión, zu jener Zeit die wichtigste Tageszeitung der progressiven Presse. 1974, während ihr Mann dienstlich in Mexiko war, erhielt sie Morddrohungen von der paramilitärischen Organisation „Triple A“ und entschloss sich, bis zum Ende der Diktatur im Exil zu leben. In Mexiko wurde sie Mitglied einer Soli­daritätsorganisation für Exilargentinier, für deren Gemeinschaft sie und ihr Mann sich stark engagierten. Sie arbeitete als freie Journalistin, war Redakteurin der feministischen Zeitschrift Fem sowie Pressesprecherin des Instituto Nacional de Bellas Artes. 1987 kehrte sie endgültig nach Buenos Aires zurück und begann mit der Veröffentlichung ihrer Werke: Canon de alcoba (Kurzgeschichten, Ada Korn, 1988/Seix Barral, 2009), En estado de memoria (Roman, Ada Korn, 1990/Alción, 1998/Seix Barral, 2010), La letra de lo mínimo (Essays, Beatriz Viterbo, 1994), La madriguera (Roman, Tusquets, 1996), Narrar después (Essay, Beatriz Viterbo, 2003) und Yo nunca te prometí la eternidad (Roman, Planeta, 2005). Für ihre Werke erhielt sie verschiedene Preise sowie das Guggenheim-Stipendium.

 

Antieros

Mit den Zimmern beginnen. Vorsichtig mit einem feuchten Besen den Boden kehren (ein Eimer voll Wasser muss diesen Durchgang begleiten, vom hintersten Schlafzimmer über die anderen Schlafzimmer bis zum Ende des Flurs). Den Abfall ein erstes Mal einsammeln, nachdem das erste Schlafzimmer gekehrt worden ist, und so auch in den anderen Zimmern. Zum ersten Schlafzimmer, dem hintersten, zurückkehren und den Staub mit einem feuchten, aber nicht nassen Tuch von den Möbeln wischen. Laken und Bettwäsche ausschütteln und das Bett beziehen. Die Tagesdecke muss das Kissen bedecken, unter das man den Schlafanzug oder das Nachthemd des Schlafenden legt. Die Stühle sowie andere Objekte, die am Vorabend verrückt worden sein könnten (es gibt immer einen Vorabend, der eine Spur hinterlässt, die beseitigt werden muss), wieder richtig hinstellen. In einem ersten Durchgang wird es möglich sein, Gläser, Tassen, Flaschen, schmutzige Wäsche im Anschluss in die Küche und in die Waschküche zu bringen. In das zweite Zimmer gehen, das bereits wie die anderen Zimmer, der Flur und die angrenzenden Bäder gekehrt worden ist. Dort die Handlungen wiederholen, die zuvor ausgeführt wurden: Staub wischen, Laken und Bettwäsche lüften, das Bett mit den straff gezogenen Laken beziehen (die Falte ist ein Feind), das Kissen glätten, nachdem man es aufgeschüttelt hat, Laken und Decken gut unter die Matratze klemmen; an jeder Ecke muss die Bettwäsche in zwei Etappen gefaltet werden, zuerst nach rechts und dann nach links und umgekehrt – es kommt auf die jeweilige Seite an –, um eine Spitze zu erhalten, die geometrisch mit der Ecke abschließt. Der perfekte Zustand: Die Leinen müssen so gespannt sein wie der Rahmen einer Stickarbeit. Sich im dritten Zimmer darauf einstellen, ein Ehebett zu beziehen; zu diesem Zweck die Bewegungen berechnen, um so viel Zeit wie möglich zu sparen. Beide Vorgänge – das untere Laken zuerst, und dann das obere Laken unter die Matratze klemmen – müssen, entgegen aller Logik, getrennt durchgeführt werden; die Gewitztheit, beide zusammenzulegen, hat zur Folge, dass man die ganze Nacht nicht schlafen kann. Die Sparsamkeit sollte sich vielmehr darauf beziehen, die größtmögliche Anzahl an Vorgängen auf einer Seite auszuschöpfen, bevor man auf die andere Seite geht. Sobald die Putz- und Aufräum-Etappe der Schlafzimmer bewältigt ist, einen Blick in jedes Zimmer werfen, um jedes Detail, das vergessen worden sein könnte, genau anzupassen; berichtigen; die Jalousien fast halb offen lassen, das Fenster gekippt, die Vorhänge zugezogen. Sich einen Moment lang erfreuen, reihum in der Türöffnung eines jeden Zimmers, am stillen Glanz, den das Innere im Halbdunkel absondert. In den Bädern alles, was Kachel oder Fliese ist, mit einer speziellen Poliermaschine behandeln. Den Warmwasserhahn aufdrehen, um Dampf zu erzeugen, der beste Glasreiniger. Reiben und reiben, bis es glänzt, mit speziellen Mitteln aromatisieren – niemals mit purem Chlor, das nach Elend riecht –; Seifen, Seifenschalen, Shampooflaschen, Spülungen, Cremetiegel und Kosmetikartikel in Ordnung bringen, wobei man so wenig Gegenstände wie möglich außerhalb der Hausapotheke stehen lässt. Die Handtücher richtig falten, wobei man Duschtuch und Handtuch in den Farben kombiniert, die sich am meisten ähneln. (Wer putzt, darf sich nicht selbst im Spiegel betrachten.) Den Boden wischen, kontrollieren, ob genug Toilettenpapier vorhanden ist, nicht ein einziges Haar auf einer der Sanitäranlagen hinterlassen, nicht einmal auf den Kämmen und Bürsten. Anschließend in das Wohnzimmer gehen. Alles aufheben, was auf dem Boden liegt, mit einem Besen durchkehren und anschließend mit einem Tuch und einem beliebigen Poliermittel darüber wischen, um die Wachsschicht auszubessern (eine Aufgabe, die einmal im Monat komplett durchgeführt und täglich nur einmal überarbeitet werden sollte); mit einem Staubwedel den Staub von den Büchern und den Blättern der Pflanzen wischen (auch diese benötigen eine gründliche Reinigung etwa alle zehn Tage); neu platzieren, ordnen, penibel eine gewisse Harmonie bei der Anordnung der Objekte herstellen, auf den Regalen, Anrichten, Schränken, Vitrinen und dem ganzen Mobiliar; die Vorhänge ausschütteln, sie lüften und ordentlich wieder fallen lassen, damit sie frisch bleiben. Die Sofakissen in Form bringen, die Teppiche und Deckchen perfekt glatt ziehen; mit viel Vorsicht die Pflanzen gießen, ohne Wasser zu verschütten. Den Staub von den Bilderrahmen wischen; falls es einen Fleck auf dem Glas gibt, ad-hoc mit ein wenig Reinigungsmittel besprühen und mit einem trockenen Fensterleder darüber wischen; die Tür- und Fensteröffnungen ebenfalls abstauben, die Laibungen, die Balken; mit einer Bürste die Erde aus den Fugen holen. Mit einem Lappen das Parkett zum Glänzen bringen. Falls die Kupfer- und Silberstücke matt sind, sie mit Silvo polieren; falls das Mahagoniholz bleich ist wie die Depression, die Stimmung mit ein wenig Politur heben. Es sich für eine Weile mit einem kleinen Kissen im Nacken auf dem weichsten Sessel bequem machen, bevorzugt auf dem aus grünem Kordsamt, und sich von dort aus der Vision eines blendenden Raumes hingeben, die Vorhänge halb geschlossen und die Fenster geöffnet, die zwischen den Pflanzen und den Stoffen eine Brise voller Aromen hereinwehen lassen. In der Zwischenzeit wurde auf dem Feuer Wasser zum Kochen aufgesetzt, nicht irgendein Wasser, sondern die richtige und notwendige Menge, um die Schweineknochen zusammen mit weiteren geeigneten Zutaten hineinzugeben: Frühlingszwiebeln, Fenchel, Sellerie, Koriander, Thymian, Lorbeer und Majoran: dieses Wasser kocht bei geschlossenem Topf und geschlossener Tür, weit weg von der reinen Atmosphäre der Sauberkeit, die im Wohnzimmer die Sinne erregt, zur Mittagszeit, während sich die Menschen in ihren Büros abmühen oder auf dem Weg zu Geschäftsterminen in ihren Autos verzweifeln. Die Brise wellt den Voile, aber bewegt kaum die Vorhänge, die jeweils mit einer goldenen Kordel an den Seiten des großen Fensters festgebunden sind, en bandeaux. Die Schuhe ausziehen, um die warme Frische des Samts zu spüren. Die rechte Hand sanft von der Wade zum Oberschenkel hinaufführen und die Haut streicheln, feststellen, dass sie problemlos mit dem Kordsamt mithalten kann; die Hand nicht weiter nach oben führen; die Bluse aufknöpfen und für eine Weile die Brüste entblößen, sich aufrichten und sich mit der Hand an der Hüfte im hinteren Spiegel der Vitrine zwischen den Kristallgläsern im Profil betrachten. Aus dem Wohnzimmer gehen und vorher die Bluse schließen, zuknöpfen, und die Falten des Rocks unter der Schürze richten. In die Küche gehen, die voll Dunst ist aufgrund der Knochen, die im Topf kochen und dampfen, und deren einziges Ziel es ist, sich in die Grundlage für eine andere Delikatesse zu verwandeln. Das Spülpulver in einen Plastikbehälter hineingeben, den man für gewöhnlich dafür nutzt, und mit heißem Wasser ein schaumiges Gemenge herstellen; das Frühstücksgeschirr spülen: Tassen, Kännchen, Löffel, Messer, Teller, alles, was vom Tisch abgeräumt und im Spülbecken aufgestapelt wurde. Noch einmal, wie jeden Tag, darüber nachdenken, dass es ein Jammer ist, keine Latexhandschuhe benutzen zu können, und man folglich die Schäden hinnimmt, die das Spülmittel auf der Haut hinterlässt (Pilze inklusive); die Fasern verwenden, die das Objekt erfordert: Stroh, Stahlwolle oder einfach nur einen Schwamm. Den Lappen, den man benutzt, um die Arbeitsfläche abzutrocknen, nicht am Wasserhahn hängen lassen; das passt nicht in die Ordnung der Küche. Die Herdplatten putzen, schrubben, schleifen, scheuern bis alles glänzt wie ein Spiegel. Mit einem Lappen und pulvrigem Putzmittel über die Kacheln wischen; den Abfall in einem kleinen Behälter sammeln, der später in einen größeren geleert wird, der, wie es sich gehört, mit einer großen Plastiktüte oder mit einer Schicht Zeitungspapier ausgelegt ist, die zu diesem Zweck zugeschnitten wurde. Mit dem Lappen über den Boden wischen; einmal und ein zweites Mal, dabei jedes Mal den Lappen abtropfen lassen und auswringen. Aufräumen, vor allen Dingen aufräumen; alles, was außen liegt, in die Schränke räumen; die Lebensmittel im Kühlschrank neu ordnen. Wissen, zum Beispiel, dass Auberginen, nach alter Hausfrauenweisheit, weiter hinten in die Ecke gelegt werden können, wie edle Stierhoden; dass Karotten, an die Tür eines Bordells geworfen und mit einem opaken Präservativ überzogen, einen phallischen Zweck erfüllen können; dass Gurken dem Mädchen aus den unmoralischen Geschichten bei ihren narzisstischen Zeremonien behilflich sein können; dass der glitschigste Pilz nicht mit der Morchel verglichen werden kann, die der franko-russische Professor für Linguistik seiner franko-deutschen Kollegin während einer pflanzlichen Liebeszeremonie anbot; dass das Gemüse und das Obst – Bocksbärte, weiße Rüben, Paradies- und Petacón-Mangos, die Samen des Mammiapfels, Ancho-, Pasilla- und Mulato-Chilis, Feigenblatt- und Chayote-Kürbisse, Drachenfrüchte und Süßkartoffeln – der geheime Kofferinhalt des Reisenden sein können, der von Dorf zu Dorf zieht und sich für gewisse Praktiken anbietet, die individuelle Laster ansprechen.
All dies wissen, während der Topf Dampf abgibt, der zur Abzugshaube aufsteigt, obwohl diese Abzugshaube durch eine riesige Glocke mit Lichtern und Lüftungsrohren ersetzt worden ist, die den Lebensmitteln das Bewusstsein aussaugt. Danach die Zwiebel angehen, die Königin, sie hartnäckig von oben kleinhacken und die winzigsten Stücke mit diesem System schneiden, das sie wunderbarerweise nahezu unter der Messerklinge verschwinden lässt; sie langsam im Feuer anbraten, bis sie ganz leicht gebräunt ist. Auf dieser Grundlage das große Bauwerk entstehen lassen, mit dem Fleisch, das über Nacht im Kummer liegen gelassen wurde, den Tomaten, dem Knoblauch, der bis zur Erschöpfung angeschmort wurde, um ihm seine ganze Seele zu extrahieren, der Substanz, die zu Brei geworden ist (warum muss der Knoblauch verschwinden? Warum?), den Kräutern, vornehmlich Bohnenkraut, und dem Gläschen, das getrunken wird, während mit ihm und noch einem und noch einem der empfangende Körper des Fleisches genährt wird, mittels Marinieren, Einlegen, Köcheln. Die Zeit verstreicht, während die Reiskörner in Unruhe versetzt werden und sich ergänzender Schaum auf der Oberfläche der Brühe bildet, sie lässt den Geruch der Kräuter in sich eindringen, deren Essenz immer mehr entzogen wird, bloße Stängel, spärliche Äderungen, die mit aller Kraft versuchen, das Ausgepresstwerden zu überleben. Niemand, kein Fremder darf diese Zeremonie unterbrechen, in der alles aus Gewohnheit ausgeführt wird, aber in der jedes Detail auf einmal einen sehr bestimmten Sinn erhält, aus seiner eigenen Gegenständlichkeit heraus, einer Gegenständlichkeit, die sich durch eine eigene, wenn nicht außerordentliche, Existenz auszeichnet. Das Öl bedeckt die Oberfläche der geschälten Avocados, gleitet auf ihrer Haut entlang und ergießt sich über den Teller; die durch den Messerrücken aus ihrer Hülle ausgestoßene Knoblauchzehe lässt eine larvale Substanz erscheinen; das Blut quillt aus dem Fleisch und regt augenblicklich den Speichelfluss an; die Zitrone gibt ihren Saft ab, wenn sie von den Fingern ausgepresst wird; die Haut der Kichererbsen gleitet zwischen den Fingern aus und die Erbse schießt in die Schüssel; die Milch verdickt im Mehl für die Brühe; das Ei kommt aus seiner Schale heraus und zeigt seinen Hahnentritt; der zylinderförmige Teig breitet sich auf dem Tisch aus und rollt sich unter der Handfläche; dem Tintenfisch entspringt durch Einwirkung der Finger ein transparenter Stachel genau aus seiner Mitte; der Sardine quillt ein Fischlein aus dem Leib; der Salat stößt sein Herz aus. Nochmals die Bluse aufknöpfen und die Brüste entblößen und ohne große Umschweife, als ob man Chicorée mit einer Essenz einreiben oder die Unterlippe eines Kalbs mit einem Gewürz durchkneten würde, die steifen Brustwarzen mit ein wenig Öl bestreichen, mit den Spitzen der Zeigefinger die Warzenhöfe umkreisen und beide Brüste leicht massieren, ohne Unterschiede zwischen den Reichen zu bestärken, selbst Arten und Gewürze mischen, aus purer Experimentierfreudigkeit, denn es kann sein, dass den Brustwarzen Dill nicht gefällt, dafür aber Salbei. Zulassen, dass das Feuer brennt, dass in den Kochtöpfen das Wasser und die Säfte brodeln und dass die Glocke der Abzugshaube die Dämpfe wie einen Wirbel absorbiert. Ausschalten und, in der Stille, mit absoluter Klarheit den Lärm der Transformation der Materie wahrnehmen. Sich erinnern, dass drinnen alles bereit ist, dass es nichts zu verbergen gibt, dass an jeder Stelle, wo die Besen und die Schrubber, die Wollstoffe und die Lappen vorbeigeführt wurden, alles blitzblank hinterlassen wurde und zur Erholung und zur Stille der Mittagszeit einlädt; sich ebenfalls vergewissern, und nochmals, dass bis auf einen Lieferanten, dem man nicht öffnen muss, bis um vier Uhr nachmittags keiner die Zeremonie unterbrechen wird. Dennoch den Riegel vor die Tür schieben; sich schlicht und einfach die Bluse ausziehen und danach den Rock. Nur die Schürze anbehalten, während man, mit unterschiedlichen Löffeln, einmal und ein weiteres Mal, den Geschmack aus dem einem Topf und aus dem anderen probiert, ihn verbessert, ihm mehr Körper verleiht, den individuellen Geschmack verstärkt. Mit demselben Öl, mit dem einige der vielen Speisen, die nun langsam auf ihren Feuern köcheln, gebraten wurden, die Rundung des Gesäßes, die Beine, die Waden, die Knöchel einschmieren; sich bücken und aufrichten mit der Schnelligkeit einer Person, die häusliche Gymnastik gewohnt ist. Das Feuer weiter verringern, fast bis zum Erlöschen, und sich wie eine Vestalin in die Mitte der Küche stellen und diesen Raum wie ein Amphitheater betrachten; sich nach dem Schlafzimmer sehnen, dem Inneren, dem eingeschlossenen Gelände, verboten, da sie Gefangene der Ordnung sind, die einige Stunden zuvor geschaffen wurde. Sich den ganzen Körper mit größerer Sorgfalt einschmieren, Spalten mit unterschiedlichen Tiefen und Ausprägungen, Senken und Ansätze; sich drehen, biegen, die Harmonie der Bewegungen suchen, die Olive und den Kreuzkümmel riechen, den Kümmel und den Curry, die Mischungen, die die Haut letztlich absorbiert hat, nachdem die Sinne durcheinander gebracht und die immer rhythmischeren Schritte zu einem Tanz geworden sind, und sich vom Höhepunkt überfluten lassen, inmitten von Schweiß und Düften.

Aus: Canon de alcoba (Seix Barral, 2009)
Übersetzung: Susanne Mandiche Lahr