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Felix Holtschoppen

 

Psychische Invasionen. Mediale Subjekte in der englischen phantastischen Literatur um 1900

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2014, [= Frankfurter Kulturwissenschaftliche Studien, Band 14], 260 S., ISBN 978-3-86464-036-0, 36,80 EUR

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Schauplatz ist das spätviktorianische England um 1900. Das britische Empire sieht sich als Garant für Zivilisation und Stabilität und legt daher großen Wert auf Selbstkontrolle und Disziplin. Doch die diskursive Überblendung von Selbstbeherrschung und der durch sie legitimierten Herrschaft über Kolonien ist verbunden mit großen Ängsten vor einem Verlust der Kontrolle und einer Umkehr der kolonialen Machtverhältnisse. Im spiritistischen Medium läuft zusammen, was die Jahrhundertwende an kulturellem Beunruhigungspotential für das britische männlich-autonome imperiale Subjekt bereithält. Hier scheint ein anderes Subjekt durch, dessen Grenzen nicht eindeutig zu ziehen und festzustellen sind. Wer spricht aus dem Körper des Mediums? Sind es verschiedene Aspekte derselben Persönlichkeit? Sind es die Geister von Verstorbenen?
Die phantastische Literatur um 1900 nimmt sich dieser Fragen an und wird in der vorliegenden Arbeit als Vorläufer der modernen Literatur in den Blick genommen. Indem die analysierten Texte in ihrem historischen und kulturellen Kontext positioniert werden, wird ihr spezifisch literarischer Beitrag zur Reformulierung des modernen Subjektverständnisses sichtbar. Sie lassen sich somit als Ausdruck einer Moderne lesen, die sich nicht auf Freuds Theorien bezieht, sondern sich vielmehr auf mediale und mediumistische Subjektmodelle aus dem Umfeld der Psychical Research beruft.

 

Inhalt
1. Einleitung 7
1.1 Krisen des Subjekts um 1900 7
1.2 Phantastische Literatur – Entthronte Ratio 13
1.3 Mediale Subjekte zwischen Pathologie und evolutivem Fortschritt 17
1.4 Okkulte, literarische und wissenschaftliche Modernismen 25

2. Spirit of Sensation: Florence Marryats The Strange Transfiguration of Hannah Stubbs (1896) 31
2.1 Spiritistische Gefahrenpotentiale 33
2.1.1 Erotik der Séance 36
2.1.2 Besessenheit und Persönlichkeitsverlust 42
2.2 Transfigurationen: Dämonisierung weiblicher Autonomie 51

3. Krisenhafte Autorschaft: Algernon Blackwoods »A Psychical Invasion« (1908) 79
3.1 John Silence als Detektiv, Arzt und Seelsorger 81
3.2 Das phantastische (Vexier-)Spiel der Narrative 90
3.2.1 Psychical Research und parasitäre Persönlichkeiten 93
3.2.2 Die medialisierte Hexe: maskuline Autorschaft vs. feminines Unbewusstes 104

4. Der Geist der Rebellion: Robert Hugh Bensons The Necromancers (1909) 119
4.1 Die unaussprechlichen Gefahren des Spiritismus 121
4.2 Klassengegensätze und leidenschaftliche Transgressionen 127
4.3 Konservative Kulturkritik: Moderne als Zerfall von Einheit und Autorität 134
4.4 Wechselnde Perspektiven: Lauries mediale Begabung als Besessenheit oder Rebellion 145

5. (Metem-)Psychose: Walter de la Mares The Return (1910) 171
5.1 What’s Eating Arthur Lawford 173
5.2 Mind and Matter: Lawford als mediales Subjekt 187
5.3 Kunst und Krise: Lawfords Besessenheit im Kontext der Moderne 209

6. Zusammenfassung 231

7. Literatur 237

Danksagung 259

Über den Autor 261

 

 

Leseprobe

 

1. Einleitung
 

1.1 Krisen des Subjekts um 1900
 

William Crookes, erfolgreicher Chemiker, Physiker und Mitglied der Royal Society, reagierte 1877 auf gegen ihn erhobene Vorwürfe der Leichtgläubigkeit und der Unwissenschaftlichkeit mit den Worten: »I have, it appears, two allo-tropic personalities, which I may designate, in chemical language, Ortho-Crookes und Pseudo-Crookes.« Während die eine respektable Wissenschaft betreibe, sei die andere ein naiver Spitzbube. Zuvor hatte Crookes postuliert, in seinen Experimenten mit dem Medium Daniel Dunglas Home eine neue Kraft entdeckt zu haben, die er zunächst »Psychic Force« nannte. In der Folge entbrannte ein heftiger Streit zwischen Crookes und anderen Wissenschaftlern, die den spiritistischen Phänomenen ablehnend gegenüberstanden, über die Seriosität seiner Experimente. Crookes’ Reaktion enthält in der Anspielung auf multiple Persönlichkeiten in nuce die Kernprobleme, die spiritistische Medien mit sich brachten. Einerseits wird hier das Problem der Autorschaft angesprochen durch die Unklarheit, wer gerade aus dem Körper des Mediums spricht; im Fall Crookes verbunden mit dem Problem der Autorität, denn die Aussagen von »Ortho-Crookes« sind offenbar glaubwürdiger als die von »Pseudo-Crookes«. Andererseits wird die durch das Präfix »Pseudo« schon angedeutete Frage aufgeworfen, ob es sich überhaupt um zwei distinkte Persönlichkeiten handelt. Ganz ähnlich wie in der phantastischen Literatur üblich wird mit einer Wendung wie »it appears« der Wahrheitsgehalt des Gesagten in Zweifel gezogen. Crookes macht auf humorvolle Weise auf das Bedürfnis aufmerksam, Wissenschaft und spiritistische Phänomene klar zu trennen und unterläuft es zugleich. Die Replik Crookes verdeutlicht, wie die medialen Subjekte, deren Körper zum Vehikel scheinbar unterschiedlicher Entitäten werden, die Frage nach der personalen Identität und dem Verhältnis von Körper und Psyche neu stellen.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich durch die Entstehung eines gewaltigen Apparates aus, der methodisch versucht, Individuen zu verorten, erkennungsdienstlich zu behandeln und ihnen eine feste Identität zuzuweisen. Anthropometrische Methoden von der Phrenologie über Craniometrie und Graphologie bis zur Daktyloskopie und Bertillonage versuchen Daten zu erheben und die feste unverwechselbare Identität eines Körpers herzustellen und die Menschen, deren Körper vermessen werden, solchermaßen in Datensätzen beschreibbar zu machen, dass ihre Identität an jedem Ort und zu jeder Zeit wissenschaftlich, objektiv und zweifelsfrei feststellbar ist. Im englischen Kontext ist hier besonders Francis Galton hervorzuheben, der an der Erstellung und Verbreitung solcher Methoden maßgeblich beteiligt ist. Dass dieser Wunsch nach Verortung und klarer Identifikation nicht nur mit der Kriminologie, sondern auch mit imperialen Bestrebungen und Herrschaftsphantasien verbunden ist, zeigt nicht zuletzt der Ursprung des Fingerabdruckverfahrens im kolonialen Kontext der britischen Herrschaft in Indien. Ursprünglich sollten die in den Augen der britischen Besatzer ununterscheidbaren indischen Subjekte mittels dieser Technik endlich verwalt- und beherrschbar gemacht werden. Auf dem literarischen Feld hat sich vor allem die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Detektivliteratur dieses Themas angenommen und inszeniert ein ums andere Mal, wie der britische Detektiv zwielichtige Subjekte wie Verbrecher und Ausländer aufspürt und dingfest macht.
All dies ist in der Forschung der letzten Jahrzehnte ausführlich diskutiert und beschrieben worden, wobei das Hauptaugenmerk auf den diskursiven Verflechtungen von Kriminologie, Anthropologie, Degenerationstheorie und imperialen Praktiken und Ideologien lag. Das Modell des autonomen Subjekts, das den empiristischen und positivistischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts zu Grunde liegt, findet seine ideale Ausprägung in der Figur des unabhängigen, uneingeschränkt rationalen und selbstdisziplinierten (und damit implizit als männlich, weiß, christlich gedachten) Wissenschaftlers, der kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten, hartnäckiger und ausdauernder Forschung und seiner auf dem aktuellsten Stand befindlichen technischen Instrumente die Geheimnisse der weiblich codierten Natur entschlüsselt und mit seinem imperialen Forschergeist wissenschaftliches Neuland erobert.
Das Gegenbild dieses heroischen Wissenschafts-Ideals bilden die weibliche Hysterikerin und der nervös-überreizte décadent, die passiv, schwach, willenlos und bar jeder Disziplin dem geistig-moralischen Verfall der britischen Gesellschaft Vorschub leisten. Sie erscheinen in zeitgenössischen Diskussionen als die Schwachstelle, durch welche alles Übel, welches die britische Gesellschaft von außen und innen zu bedrohen scheint, von Krankheiten wie der Syphilis bis zu degenerativen Folgeerscheinungen wie Wahnsinn, Verbrechen, Anarchismus etc., hereinbrechen und sich unbemerkt ausbreiten kann. Die Betonung liegt hierbei auf »unbemerkt«, denn die Sichtbarkeit ist eines der zentralen Momente der Bedrohungsphantasien, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts so gehäuft auftreten. Die tech­nischen Neuerungen, mit denen das Spektrum der Sichtbarkeit erweitert wird, bergen immer auch ein beunruhigendes Potential, denn zum einen offenbaren sie die Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung (unsichtbare Bakterien als Krankheitserreger lassen sich nur mit dem Mikroskop und nicht mit dem bloßen Auge erkennen) und geben damit Raum für ein Gefühl der Bedrohung durch unsichtbare Gefahren. Zum anderen werfen sie die Frage nach dem Bereich außerhalb ihrer Wirksamkeit auf, den sie noch nicht sichtbar machen können. Sie verschieben die Grenze der Wahrnehmbarkeit, machen dadurch jedoch genau auf diese Grenze und das, was hinter ihr liegen könnte, aufmerksam: Wenn es tödliche Krankheitserreger gibt, die im bislang Unsichtbaren lauern und dadurch in den Körper eindringen können, scheint es durchaus plausibel, dass jenseits der Wahrnehmung noch viel tödlichere unsichtbare Gefahren lauern, die das menschliche Subjekt bedrohen. Die in dieser Arbeit untersuchten Texte geben solchen Phantasien einen Raum und agieren sie stellvertretend für ihr Publikum aus, das heißt die englische Gesellschaft insbesondere der gehobenen Mittelschicht.
Genau im eben skizzierten epistemologischen ›Blinden Fleck‹ der positivistischen Wissenschaft spielen sich die heißen Debatten um Spiritismus, Mediumismus und all das ab, was man heute als Grenzwissenschaften bezeichnet. Denn zeitgleich mit dem Aufstieg des wissenschaftlichen Positivismus und Materialismus formieren sich auch ganz andere Strömungen, deren Ansichten, so unterschiedlich sie auch sein mögen, einen Gegenpol bilden und die Annahme eines festen, rationalen und frei entscheidenden Subjekts massiv in Frage stellen. So bildet die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auch den Rahmen für die Herausbildung der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft und die sich in diesem Kontext vollziehende Erforschung der menschlichen Psyche. Dass es ein menschliches Unbewusstes gibt, dürfte Ende des 19. Jahrhunderts kaum jemand mehr ernsthaft bezweifelt haben. Die große Frage blieb allerdings, wie man sich ein solches Unbewusstes vorzustellen habe und in welcher Verbindung es zum Bewusstsein steht bzw. welchen Einfluss es auf dieses ausübt.
So sehr sich die orthodoxe Wissenschaft auch dagegen sträuben mochte, die rein physisch-deterministische Erklärung der menschlichen Psyche schien angesichts der zahlreichen Experimente, die sich nicht-physikalischer Kräfte wie der Hypnose bedienten, kaum haltbar. Verschiedenste Theorien erhoben den Anspruch, die Phänomene zu erklären, die mit Trancezuständen wie jenen zu tun hatten, die im Zentrum spiritistischer Séancen standen. Dass in Trance befindliche Menschen, wie spiritistische Medien, Botschaften produzierten, wurde kaum bestritten. Die große Streitfrage war allerdings, wem man diese Botschaften zuschreiben sollte: ob sie aus der Trickkiste gewiefter Betrüger/innen, aus den tieferen und unzugänglichen Regionen des menschlichen Geistes oder aus dem Reich jenseits des Todes kommen sollten. Während es aus heutiger Perspektive eindeutige Unterschiede zwischen metaphysischer Spekulation und psychoanalytischen Fakten zu geben scheint, ist das um 1900 noch keineswegs der Fall. Worum es also geht, ist in Bezug auf die Phänomene der spiritistischen Medien die Frage nach der Autorschaft und untrennbar damit verknüpft die Frage nach der geistigen Gesundheit der Personen, die diese Phänomene oder Botschaften hervorbringen. Hier kreuzen sich die verschiedenen Diskurse und hier liegt auch das Hauptinteresse meiner Arbeit.
Denn im spiritistischen Medium läuft zusammen, was das viktorianische fin-de-siècle an Beunruhigungspotential für das männlich-autonome imperiale Subjekt bereithält. Hier scheint ein ganz anderes Subjekt durch, dessen Grenzen nicht eindeutig zu ziehen und festzustellen sind. Wer spricht aus dem Körper des Mediums? Sind es verschiedene Aspekte derselben Persönlichkeit? Sind es die Geister von Verstorbenen? Handelt es sich um Verrückte mit multipler Persönlichkeitsstörung oder um übersinnlich Begabte? Um degenerierte Hysteriker/innen oder um höherentwickelte Stufen der Evolution? Sind hier die Kräfte der menschlichen Psyche am Werk oder die jenseitiger Mächte?
Die Society for Psychical Research (kurz: SPR) gerierte sich als eben diejenige Institution, die wissenschaftlich, offen und vorurteilslos an diese Fragen heranging und somit in der idealen Position sei, sie zu entscheiden. Damit reklamierte sie für sich eine Mittlerposition zwischen der orthodoxen Wissenschaft und den Anhängern spiritistischer Theorien. Ob dies jemals ein aussichtsreiches Unterfangen war und ob die proklamierte Neutralität tatsächlich gegeben war, sei dahingestellt. Allein, dass sich einige äußerst einflussreiche Persönlichkeiten wie der Journalist W. T. Stead und der Philosoph Henry Sidgwick, sowie prominente Wissenschaftler wie die Physiker William Crookes und Oliver Lodge neben den Psychologen William James und F. W. H. Myers der SPR anschlossen, zeigt, dass sie kein völlig obskures Randphänomen war, sondern durchaus auf gesellschaftliche Akzeptanz hoffen konnte bzw. in Wissenschaftskreisen eben nicht nur auf Ablehnung sondern auch auf reges Interesse stieß.
Die Feldforscher der Society for Psychical Research begeben sich im späten 19. Jahrhundert in spiritistische Séancen, um der Frage nachzugehen, ob die menschlichen Medien echte Phänomene hervorbringen und übersinnliche Fähigkeiten besitzen oder ob sie vielmehr über besonderes Geschick in betrügerischen Gaukeleien verfügen. Denn einer der Hauptvorwürfe, der den Anhängern des Spiritismus gemacht wurde, war der, sie seien zu leichtgläubig. Es wird ihnen unterstellt, durch eine zu hohe Bereitschaft, etwas zu sehen und zu hören, was in dieser Form nicht stattfinde, das Wahrgenommene nach ihren Wünschen und Hoffnungen umzuformen. Ein selbsterklärter Skeptiker mokiert sich entsprechend in folgenden Worten über diese Selbsttäuschungen:

Again and again, men have led round the circles the materialised spirits of their wives, and introduced them to each visitor in turn; fathers have taken round their daughters, and I have seen widows sob in the arms of their dead husbands. Testimony such as this staggers me. Have I been smitten by colour-blindness? Before me, as far as I can detect, stands the very medium herself, in shape, size, form and feature true to a line, and yet, one after another, honest men and women at my side, within ten minutes of each other, assert that she is the absolute counterpart of their nearest and dearest friends, nay that she is that friend.

Auf der Seite der orthodoxen Wissenschaft glaubte man, dass es sich hier um Taschenspielertricks handelte und fragte sich, warum sonst als zuverlässig geltende Menschen (und zum Teil sogar Wissenschaftler) diese Tricks für bare Münze nahmen. Oder handelte es sich gar nicht um Betrug, sondern um genuinen Kontakt mit dem Jenseits? Die Society for Psychical Research machte es sich zur Aufgabe, dieser Frage durch objektive Beobachtung und ohne eine Voreingenommenheit bezüglich der Resultate auf den Grund zu gehen.
Was bei der wissenschaftlichen ›Aufklärung‹ spiritistischer Phänomene um 1900 immer mitverhandelt wird, ist die Fragilität des Konzeptes eines neutralen Beobachters, der klar beweisen kann, was eigentlich vor sich geht. Denn im 19.Jahrhundert gerät das wissenschaftliche Postulat eines souveränen Beobachtersubjektes zunehmend unter Beschuss, sowohl von Seiten der Psychologie und aufkommenden Psychoanalyse als auch von Seiten der Phantastik.

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