Gerhard Banse, Siegfried Wollgast (Hg.)

Toleranz – gestern, heute, morgen. Beiträge der Oranienburger Toleranzkonferenzen 2002 bis 2011

 

2013, [= Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 33], 358 S., zahlr., Tab. u. Abb., ISBN 978-3-86464-030-8, 39,80 EUR

 

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Inhalt und Umfang von Begriffen ändern sich. Auch der Toleranzbegriff macht(e) eine Entwicklung durch. Das suchen die 17 Beiträge dieses Bandes zu unterlegen. Es sind Originalbeiträge der jährlichen Oranienburger Toleranzkonferenzen von 2002 bis 2011, veranstaltet von der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin gemeinsam mit dem Mittelstandsverband Oberhavel e.V. zu Oranienburg. Diese Beiträge sind nach der Reihenfolge der zehn Konferenzen angeordnet und bezeugen eine Entwicklung der Toleranzauffassungen bereits in einem Jahrzehnt. Sie gehen auf die Bedeutung von Toleranz in Philosophie, Theologie, Ökonomie, Ökologie, Geschichtswissenschaft, Politik und Bildung, bei Rohstoffnutzung und Energieerzeugung sowie bei verschiedenen Nationen ein. Dabei wird auf Quellen, Nährböden und Perspektiven dieses in Wissenschaft, Alltagsleben wie Gesellschaft gültigen Begriffs eingegangen. Auch auf den jeweiligen Zeitgeist. Verdeutlicht wird auch: Toleranz und Intoleranz hängen eng zusammen, wurden und werden unter immer wieder neuen historischen und sozialen Bedingungen reproduziert und weisen eine gewisse Offenheit auf. Die Ausführungen werden abgerundet u.a. mit einem Grußwort des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck an die Konferenzen, einer Inhaltsangabe der Toleranzkonferenzen 2002 bis 2011 und dem Toleranz-Edikt von Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg vom 29. Oktober 1685.

 

Einleitung

Aus einem Ausspruch von Theodor Fontane aus dem Jahr 1885 entstand das geflügelte Wort „Das ist ein weites Feld …". Wahrlich ist das in sehr, sehr vielen Lebensbereichen zu beachten und gilt auch für sehr, sehr viele Begriffe, so für den höchst unterschiedlichen Gebrauch und die sehr verschiedene Wertung von Toleranz und Intoleranz im Denken, Leben und Wirken des Menschen. Ein weites Feld ist nicht durch eine kleine Parzelle fassbar. Jedenfalls macht das Unendliche mehr als das Endliche aus, und im Endlichen gibt es unendliche Abstufungen. Was gestern galt, heute gilt und morgen gelten wird, erfährt stets Veränderungen. Es muss auch dem Zeitgeist Tribut zollen. Lässt sich dieses nicht nur für Toleranz gültige Faktum bewältigen? Und wie?

Wir unterschieden Sinn- und Sachwissenschaften. Es gibt immer mehr Sachwissenschaften, seit jeher gibt es aber nur zwei Sinnwissenschaften: Philosophie und Theologie. Beide suchen den Sinn des menschlichen Lebens zu beantworten, gleichsam Immanuel Kants berühmte Fragen: „1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?" Sie umfassen in etwa das, was man bis heute als Weltanschauung, Weltsicht oder Lebenskompass fasst. Denn auch diese sind der Sinnwissenschaft zugehörig. Ihre weitgehende Selbstständigkeit bleibt dabei erhalten. Ihre inflationäre Nutzung führt jedoch zu ihrem Präzisionsverlust. Bei aller Spezifik von Sinn- und Sachwissenschaft: Die Sinnwissenschaft Philosophie begründet vieles in ihren Reden und Werken „mit der ganzen Bandbreite von fundierten Aussagen, historisch begründeten Darstellungen, anregenden Hypothesen und problematischen Spekulationen", aber auch mit einzelwissenschaftlichen Sätzen; nicht nur, um Beispiele zu geben, auch nicht nur zwecks Verdeutlichung: philosophische Disziplinen – wie Ethik oder die Geschichte der Philosophie – kommen gar nicht ohne Sätze aus, die einer Spezialwissenschaft zuzuordnen, aus ihr hervorgegangen sind.

Dabei sind die Beziehungen der Philosophie zu der ihr weitgehend gleichgeordneten Theologie sehr vielfältig. „Als Grundlage für die Bestimmung der Philosophie können die weltanschaulichen Grundfragen nach der Existenzweise und Entwicklung der Welt, nach den Quellen des Wissens, nach der Stellung der Menschen in der Welt, nach dem Sinn des Lebens und dem Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung genommen werden, deren allgemein-notwendige und hinreichende Beantwortung Kriterium für philosophische Aussagen ist. Alles, was prinzipiell der Welt-, Lebens-, Bewußtseins- und Handlungserklärung dient, ist als Philosophie anzusehen."

Wer eine Weltanschauung, damit eine philosophische oder theologische Grundlage hat, damit bewusst lebt, der sieht seine Fachwissenschaft nicht isoliert und beschränkt sich nicht auf sie. Das ist in der Wissenschaft keineswegs neu, auch wenn es im heutigen Wissenschaftsbetrieb vielfach außer Acht gelassen zu werden scheint!

Jeder Wissenschaftler fasst auch – bewusst oder unbewusst – den von ihm behandelten Gegenstand von seiner Weltanschauung her und artikuliert ihn in derselben. Da Weltanschauung Philosophie und/ oder auch Theologie ist, werden viele einzelwissenschaftliche Überlegungen zugleich zu ihrem Gegenstand. So, wenn ich nach der Stellung eines Wissenschaftlers, Dichters, Schriftstellers zu Gott, zur bestehenden Welt, zu Leben und Tod, zum Fortschritt frage, wenn ich eine Gesamteinschätzung seines Wirkens vorzunehmen suche. Hier verknüpfen sich sinnwissenschaftliche Aussagen mit einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen. Letztlich ist auch heute eine Gesamtsicht auf die Wissenschaft unverzichtbar! Es gilt den nun einmal existierenden „fachübergreifenden, fachstudienintegrierten oder -begleitenden Studienteil" zu beachten, das „studium generale" zu pflegen. Anderenfalls gelangt man zu den von Arthur Schopenhauer charakterisierten „Fachidioten".

Alle Sachwissenschaften übernehmen immer mehr Grundgedanken der Sinnwissenschaften, nutzen sie zur Erklärung eigener Phänomene. Häufig werden philosophische bzw. theologische Grundbegriffe durch Beispiele aus den Sachwissenschaften verdeutlicht. Die Sinnwissenschaften sind aber völlig selbständig; nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel kann sich z.B. die Philosophie ihre Methode nicht von einer anderen Wissenschaft ausborgen.

Man hat den Eindruck, die gegenwärtig bestimmende Politik wie auch die Medien verabsolutieren häufig die Toleranz, setzen ihren Wert als absolut. Währenddessen fassen sie unter Toleranz nur Facetten seines Geltungsbereichs; was sie nicht als tolerierungswürdig ansehen, was sie vielmehr verteufeln, wird nicht unter Toleranz gefasst. Dabei ist Toleranz stets beschränkt: „Eine unendliche Toleranz wäre das Ende der Toleranz […] Zwar darf man nicht alles tolerieren, weil das die Toleranz dem Verderben weihen würde, aber man darf auch nicht auf jegliche Toleranz denen gegenüber verzichten, die sie nicht beachten. Eine Demokratie, die alle undemokratischen Parteien verbieten würde, wäre sehr wenig demokratisch, und eine Demokratie, die sie gewähren und alles machen ließe, wäre […] dadurch zum Scheitern verurteilt, da sie darauf verzichten würde, das Recht notfalls mit Gewalt und die Freiheit mit Zwang durchzusetzen." Übrigens ist „universelle Toleranz […] weder tugendhaft noch praktizierbar".

Doch genug der theoretischen Überlegungen, es sind ja nur Aspekte der Auffassungspalette von Toleranz! Wir wissen nur zu gut: Heute, da wir verstärkt nach Werten fragen und sie verinnerlichen wollen (sollten), ist Toleranz, interdisziplinär gesehen, unverzichtbar. In einer Zeit, da z.B. Globalisierung zur Selbstverständlichkeit wird, ist stärker auf ihre Chancen und Grenzen im 21. Jh. einzugehen. Dabei spielen Vergangenheit und Gegenwart bei der Toleranzforschung und -bewältigung eine übergreifende Rolle. Allein die Bestimmung des Toleranzbegriffs war bzw. ist dabei sehr unterschiedlich, sie bzw. ihre Wertung reicht von utopischen Hoffnungen einerseits bis zu ihrem Verständnis als vordemokratische Vokabel andererseits.

Der vorliegende Band enthält ausgewählte Beiträge der seit nunmehr 11 Jahren alljährlich durchgeführten Toleranzkonferenzen, die die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin und der Mittelstandsverband Oberhavel e. V. seit dem Jahr 2002 in Oranienburg durchgeführt haben (und die bis zur 6. Konferenz einschließlich überwiegend in den Bänden 56, 65, 77, 84, 91 und 97 der „Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften" zu Berlin enthalten sind). Hintergrund der Konferenzen war auch das „Edikt von Potsdam" („Toleranzedikt") vom 29. Oktober (08. November) 1685, durch den Kurfürsten von Brandenburg Friedrich Wilhelm erlassen (es ist als Anlage 2 abgedruckt). In diesen Konferenzen wurden u.a. folgende Einsichten verdeutlicht: Toleranz und Intoleranz waren und sind auf widersprüchliche Weise in die menschliche Geschichte und die Lebenswirklichkeit des Einzelnen eingebunden. Die Vorstellung und Begriffe Toleranz und Intoleranz wurden und werden unter immer wieder neuen historischen und sozialen Bedingungen reproduziert und weisen eine gewisse Offenheit auf. Dem müsste eine „Unterrichtung" in Toleranz, insbesondere wenn diese als Gesinnung oder Haltung aufgefasst und praktiziert werden soll, gerecht werden. Wesentlich ist zugleich: die historische Ausprägung, Bereicherung und Nutzung des Toleranzbegriffs ist nicht von der widersprüchlichen Entwicklung der Erfahrungen der weltanschaulichen, religiösen, politischen, rechtlichen und moralischen Positionen, der Überzeugungen, Weltanschauungen und Ideologien zu trennen, die der Gattungsgeschichte der Menschheit insgesamt und mithin auch der Toleranz-Idee zugrunde lagen. Hinzu kommt der jeweilige Zeitgeist.

Alle Darlegungen bieten letztlich die oder fragen nach der Verbindung von Sinn- und Sachwissenschaft; fassen Toleranz wie Intoleranz als beiden zugehörig. Manchmal wird mehr erfasst als Toleranz oder Intoleranz in einem Bereich zu einer bestimmten Zeitperiode, vielmehr wird auch auf Quellen, Nährböden, Perspektiven dieser in allen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen wie Alltagsbereichen gültigen Begriffe eingegangen.

Wir danken allen Autoren für ihre Bereitschaft, einem unveränderten Nachdruck ihres jeweiligen Beitrags zuzustimmen. Jeder Tag bringt neue Erkenntnisse. Es zeigt sich auch hier: Vieles ist weiterhin gültig, und der ganze Band – aufgebaut nach der Reihenfolge der Konferenzen – zeigt auch eine Entwicklung der Toleranzauffassungen. Das wird am – in seiner jetzigen Fassung erst 2012 endgültig formulierten – Beitrag Lutz-Günther Fleischers von 2009 sowie auch an den zwei – deshalb bewusst ausgewählten – „Dopplungen" sichtbar, den eröffnenden bzw. einleitenden Überlegungen von Herbert Hörz sowie den Hauptreferaten von Siegfried Wollgast jeweils auf der 1. und auf der 10. Konferenz (im Jahr 2002 bzw. im Jahr 2011).

Am 3. November 2012 fand bereits die 11. gemeinsame Toleranzkonferenz der Leibniz-Sozietät und des Mittelstandsverbandes Oberhavel e.V. statt. Die Programme der Konferenzen 1 bis 10 mit ihrem jeweiligen Gegenstand finden sich im Anhang 1 dieses Bandes. Sie zeigen beeindruckend etwas von der Vielfalt der Probleme von Toleranz und Intoleranz in den verschiedenen Wissenschafts- und Lebensbereichen. Wir geben hier nur eine Auswahl davon wieder. In einigen Beiträgen waren bei Zitaten und Berufungen die entsprechenden Lebensdaten in den Text eingefügt. Wir haben das gestrichen, weil wir für alle hier aufgenommenen Artikel – nicht jedoch für die Anhänge – ein Personenregister mit Lebensdaten beigeben. Es bezeugt auch die Vielfalt der von den Autoren benutzten Literatur. Wenn sonst überhaupt Veränderungen vorgenommen wurden, so lediglich stilistischer oder formaler Art.

Die Konferenzen 5 bis 10 wurden jeweils durch Grußworte des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Herrn Matthias Platzeck, eröffnet. Sein Grußwort zur 10. Tagung im Jahr 2011 wird nach dieser Einleitung wiedergegeben. Zur Eröffnung der 5. Toleranzkonferenz im Jahr 2006 sprach zur Begrüßung auch der Ehrenbürger der Stadt Oranienburg, der dort 1926 geborene Herr Michael Blumenthal – ein US-amerikanischer Wirtschaftsprofessor, Politiker, Manager und Autor, der von 1977 bis 1979 US-Finanzminister unter Präsident Jimmy Carter war und seit 1997 Direktor des Jüdischen Museums Berlin ist. Diese Begrüßung wird ebenfalls vor den wissenschaftlichen Texten wiedergegeben.

Wir danken herzlich allen, die bei der Vorbereitung der Drucklegung dieses Bandes mitgewirkt und uns dadurch helfend unterstützt haben, vor allem vielen Autoren und insbesondere dem Vizepräsidenten unserer Sozietät, Herrn Armin Jähne, wie auch seiner Gattin Frau Dr. Svoboda Jähne. Zu danken ist auch der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Technologie und Forschung, die die Vorbereitung und Drucklegung dieses Bandes finanziell unterstützt hat. Die vorliegende Publikation bietet unseres Erachtens mit den ausgewählten Beiträgen und deren sehr unterschiedlichen Aussagen, mit den ausführlichen Literaturhinweisen und den weitgehend gegebenen Lebensdaten eine gute Grundlage für weitere interdisziplinares Toleranzforschungen. Auch für unsere eigenen!

Berlin / Dresden, Dezember 2012

Gerhard Banse

Siegfried Wollgast

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung

Gerhard Banse, Siegfried Wollgast

 

Grußwort an die 5. Toleranztagung [2006]

Matthias Platzeck

 

Toleranz als Humankriterium? [2002]

Herbert Hörz

 

Zum Toleranzproblem in Vergangenheit und Gegenwart [2002]

Siegfried Wollgast

 

Über die Schwierigkeiten einer Erziehung zur Toleranz [2002]

Dietrich Hoffmann

 

Was hat Technik mit Toleranz zu tun? [2002]

Gerhard Banse

 

Entwicklung von Toleranz [2003]

Lothar Kolditz

 

Toleranz und Minderheiten in Deutschland und Europa [2003]

Jörg Roesler

 

Toleranz in einer pluralen Weltgesellschaft [2004]

Hans Heinz Holz †

 

Toleranz in der politischen Kultur als Voraussetzung für Konfliktmanagement in den interethnischen bzw. interreligiösen Beziehungen Das Beispiel Israel [2004]

Angelika Timm

 

Integration und Desintegration in den südslawischen National-Bewegungen des 19./20. Jahrhunderts ein Toleranzproblem? [2004]

Ernstgert Kalbe

 

Toleranz im Spannungsfeld religiöser und kultureller Pluralität [2004]

Gerhard Weil

 

Kirchengeschichte als langer Weg zu mehr Toleranz [2005]

Gert Wendelborn

 

Von intoleranten Medien, falschen Vorbildern und neuen Hoffnungen in der Bildung [2007]

Dieter Wiedemann

 

Gewalt und Bildung [2007]

Dieter Kirchhöfer

 

Wie tolerant sind Kinder? Möglichkeiten der Toleranzförderung in Kindergarten und Schule [2007]

Dietmar Sturzbecher, Kai Breitling

 

Stehen landwirtschaftlich erzeugte Produkte / Nachwachsende Rohstoffe für Ernährung und Energie in den nächsten 10 Jahren ausreichend zur Verfügung? (Arbeitstitel) [2009]

Lutz-Günther Fleischer

 

Humangebot: Toleranter Umgang mit der Natur [2011]

Herbert Hörz

 

Zum Doppelcharakter von Toleranz und Intoleranz heute [2011]

Siegfried Wollgast

 

Anhang 1: Programme der Toleranzkonferenzen

Anhang 2: Edikt von Potsdam vom 29. Oktober [8. November] 1685

Personenverzeichnis ((eventuell))

Autorenverzeichnis

 

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