Weinholz, Erhard

 

„Schon vorbei. Berliner Geschichten und Notizen"

 

Erzählungen, 2009, 185 S., ISBN 978-3-89626-668-2, 11,80 EUR

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Klappentext

Schon vorbei, die ereignisreichen achtziger und neunziger Jahre. Leider? Oder zum Glück? In Tagebuchnotizen und Geschichten - teils fiktional, teils dokumentarisch - schildert Erhard Weinholz den ambivalenten Alltag im Ostteil Berlins. Es ist, als würde uns eine leise Stimme ins Ohr sprechen. Sie erzählt von Wohnungsbesetzern, kalten Wintern und den unerwarteten Folgen einer Weltreise, von der in Liebesdingen recht freizügigen Ökonomiestudentin Heike und ihrem Kurzzeitfreund Matthias. Als Dreh- und Angelpunkt erweist sich dabei immer wieder der Umbruch vom Herbst 1989. Allen, denen es an DDR-Kenntnissen mangelt, hilft das Glossar am Schluss.

Leseprobe

Merkzettel. Berliner Notizen 1984 bis 1985
1984
Werbespot für Berlin: Meine Damen und Herren, nur Berlin ist garantiert hundertprozentig reines Berlin. Mit Worten wie: »Im Grunde ebenso gut wie Berlin« angepriesene Nachahmungen weise man zurück. Man verlange das ächte Berlin!

Jemand hat auf der Aussichtsplattform drüben im Westen ein Plakat aufgestellt: »Lieber Herr H., warum wollen Sie Gabi und mich quälen und uns weitere Jahre stehlen?« Dazu ein Foto der Frau. Solche Aktionen haben dort schon mehrmals stattgefunden. Einmal wurde Freiheit für jemanden gefordert. Am Abend war das Plakat weg.
Fuhr mit dem 78er, es war Umleitung, durch die Spandauer. Auf dem Parkplatz hinter dem Roten Rathaus standen die großen, schwarzen Staatskarossen.
Ein Mann: »Sind se wohl heute im Rathaus.«
Die Frau: »Oder im Palast.«
Der Mann: »Da würdense doch hier nich ihre Wagen abstellen. Denkste, die loofen da rüber?«
Die Frau: »Na, vielleicht war da kein Platz mehr.«

1985
Heute hatte ich die allerschönsten Eisblumen am Küchenfenster, ganz zarte, langgliedrige Gebilde. Leider sind sie am Nachmittag, als ich meine Jeans wusch und viel heißes Wasser brauchte, zerschmolzen.

In unserem Seitenflügel machen sich Auflösungstendenzen bemerkbar. B. soll ausgezogen sein, er hatte kein Wasser, weil seine Küche an der eingefrorenen Leitung hängt, die durch die Toilette geht. Eines der eingefrorenen Rohre, vielleicht in R.s Küche, ist geplatzt und gestern Nacht aufgetaut, auf der Treppe überall Riesenpfützen, die jetzt wieder gefrieren. Das Treppenlicht funktioniert nicht mehr.
Idee zu einer kleinen, märchenhaften Geschichte, der Geschichte vom alten Seitenflügel. Er erfährt, dass er nicht mehr bewohnbar sei, stellt, traurig darüber, allmählich seine Funktionen ein. Erinnert sich an frühere Zeiten.
Die vielen Möwen in Berlin kommen mir immer etwas unpassend vor. Vielleicht sollen sie an die Zeit erinnern, als Berlin noch in der Hanse war?

Aushang am SEZ: Neu bei uns – Muskel-Party.

Das Anbringen von Verbotsschildern ist eine gute deutsche Tradition, die auch heute noch fortgeführt wird. Neben den beiden Eingängen des Hauptpostamtes in der Eberswalder Straße hängt jetzt ein Schild: »Das Mitbringen von Hunden, Fahrrädern und Kinderwagen in die Diensträume ist nicht gestattet«. Handwagen darf man dagegen anscheinend mitbringen, ebenso Pferde. Noch besser ist ein Schild im Bad in der Gaudystraße: Man darf sich nicht zu zweit in einer Badekabine aufhalten, man darf sich dort nicht die Haare waschen und so weiter, und so weiter, insgesamt mehr als ein Dutzend solcher Verbote. In die Badewanne zu scheißen ist komischerweise nicht verboten.

Der Haus- und Hofchronist berichtet: In der Wohnung rechts unten im Seitenflügel gegenüber wurde Geschirr eingepackt. Ein Auszug scheint bevorzustehen. Das Wohnungsschild fehlt bereits. In die Wohnung links unten im Quergebäude nebenan ist dagegen, wie es aussieht, jemand eingezogen. Gardinen hängen jetzt dort. Vorher war eine ganze Weile renoviert worden. Vor zwei oder drei Jahren wohnte dort ein Ehepaar, junge Leute, bei denen es oft Krach gab. Manchmal bumsten sie bei offenem Fenster, man hörte den Atem, das Stöhnen der Frau, das Aufeinanderklatschen der Bäuche.

Vor einigen Tagen fand ich auf der Dimitroffstraße einen West-Fünfziger. Meine Valuten bestehen derzeit aus:
1) 50 Groszy von 1975,
2) 20 Groszy von 1973,
3) 1 Forint von 1976,
4) 1 Krone von 1962,
5) 50 Heller von 1978,
6) 1 Schwedenkrone von 1973 und
7) diesem 50-Pfennig-Stück vom Jahre 1982.
Nun kann ich auf Reisen gehen.

Des Öfteren kommen Leute auf unseren Hof und schauen sich um – nach leer stehenden Wohnungen? Gestern ein Ehepaar (?) um die vierzig. Vielleicht steht eine neue Einzugswelle, illegal natürlich, bevor?

Heute wurde ich auf der Kastanienallee angebettelt, was ja nicht mehr so häufig vorkommt. Der Bettler, jemand um die fünfzig, den ich hier schon öfter gesehen habe, fragte, ob ich ihm mal fünfzig Pfennige geben könne, er wolle sich eine Schachtel Karo kaufen, habe aber sein Geld vergessen. Oder vielleicht auch eine Mark? Ich gab ihm einen Fünfziger, auf dass er ihn in Gottes Namen versaufe.

In der Friedrichstraße, an der Ecke zur Hannoverschen, also zur Ständigen Vertretung, stehen neben einem Trafo-Kasten ständig zwei Leute von der Stasi, und zwar in einem derartigen Zivil, dass man sie tatsächlich für schlichte Bürger halten kann. Heute aber haben sie sich verraten: Weil es dauernd regnet, den ganzen Tag schon, haben sie sich Pelerinen übergehängt, grüne Polizeipelerinen.

Versuch, ein Ventil zu kaufen: Der erste Laden hat wegen Urlaub zu, der zweite hat gerade Schließtag, der dritte hat zwar Ventile, aber keine Überwurfmuttern.

Jetzt gibt es auch Geldautomaten für Kreditkarten, sah gestern den ersten in der Post am Alex. Ja, ja, dr Furdschridd, dr Furdschridd …

Heute Vormittag ein echtes altes Berliner Pissoir entdeckt, am Herthaplatz in Pankow. Die Wände sind gut erhalten, nur das Dach fehlt, und innen sieht’s gar schaurig aus.

Ich muss mir doch des Öfteren bewusst machen, dass ich in Berlin lebe, der Hauptstadt, Ziel so mancher Sehnsüchte. Das große Berlin … Und da lebe ich, gehe durch die Straßen.