[= Cognoscere Historias, Bd. 16], trafo verlag 2007, 125 S., ISBN (10) 3-89626-617-9, ISBN (13) 978-3-89626-617-0, 22,80 EUR
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Schon seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges Mitte des 17. Jahrhunderts konnten Europäer ab und an Bewohner des afrikanischen Kontinents vor ihrer Haustür bestaunen, ohne also selbst den "schwarzen Erdteil" betreten zu haben. Denn schon damals fanden Afrikaner mehr oder minder freiwillig den Weg nach Europa; vereinzelt zwar und oftmals als Exoten bestaunt. Die meisten von ihnen fand man wohl an den adligen Höfen, wo sie als Hofmohren, wie die Afrikaner damals so gut wie ohne rassistische Konnotation genannt wurden, anzutreffen waren. Reich mit exotischen Accessoires und farbenprächtiger Kleidung ausstaffiert, sollten die Hofmohren vom Reichtum und der Macht der adligen Herrschaft zeugen. Selbstverständlich ist dies aus heutiger Sicht zu kritisieren, wurden doch die Afrikaner geradezu vorgeführt. In der Hierarchie der Dienerschaft hatten jene Afrikaner allerdings nicht die untersten Stellungen inne. Vielmehr arbeiteten sie als Diener der oberen Kategorie und wurden selbst in solchen herausgehobenen Funktionen, wie als "Prinzenerzieher" in nicht unbedeutenden Herrscherfamilien in ganz Deutschland eingesetzt.
Die gegenwärtige Diasporaforschung beschäftigt sich zunehmend mit den Lebensgeschichten solcher Menschen, die ihre Wurzeln in Afrika haben. Wie viele Afrikaner insgesamt nach Europa kamen und nicht diese soziale Sondereinstellung genossen und dadurch nicht in Briefen, Büchern und Dokumenten oder gar auf Gemälden Erwähnung bzw. Berücksichtigung fanden und damit keine Anhaltspunkte für die spätere historische Forschung lieferten, ist nicht bekannt. Es dürften weitaus mehr sein, als wir heute wissen.
Neben den Hofmohren kamen im Laufe der Zeit auch Söldner aus den verschiedenen feudalen Armeen Europas sowie mehr aber weniger freiwillig europäische Reisende auf ihrer Heimkehr begleitende Afrikaner zur sich in Deutschland langsam entwickelnden afrikanischen Diaspora hinzu. Aus solchen Menschen bestehende Gruppen oder auch einzelne ihrer Individuen riefen damals immer wieder die Aufmerksamkeit der Europäer hervor. Dieses Interesse heute als Rassismus oder rassistische Verhaltensweisen zu denunzieren, ist Unsinn. Denn die Europäer wurden damals auf dem afrikanischen Kontinent ebenso als vermeintliche Exoten begafft, wie die Afrikaner in Europa. Solange keine Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe oder gar Angriffe auf Leib und Leben wegen des anderen Aussehens festzustellen ist, sollte eher vom Exotismus, denn vom Rassismus die Rede sein.
Nicht selten befanden sich unter den Afrikanern, die bis ins 19. Jahrhundert hinein nach Europa gekommenen waren, ehemalige Sklaven. Sie begleiteten Europäer, seien es nun heimkehrende Forschungsreisende, Missionare oder Händler. In Deutschland waren dies keine Sklaven mehr, denn die deutsche Rechtsgeschichte kennt im eigenen Land den Sklavenstatus nicht. Die Deutschen waren in der Regel durch Geschenk oder Freikauf in den "Besitz" der Afrikaner gelangt. Wenn es auch in Deutschland keine Sklaverei gab, so war dennoch das oft lebenslange Abhängigkeitsverhältnis zwischen europäischen Reisenden und afrikanischen Begleitern nicht von Gleichberechtigung gekennzeichnet, sondern es bestand wohl eher ein Ungleichheitsverhältnis; wie beispielsweise zu feudalen Verhältnissen zwischen Herr und Knecht.
So gestaltete sich auch in Mitteldeutschland die Beziehung zwischen deutschem Herrn und afrikanischem Diener bzw. Begleiter ungleichmäßig, wenn auch die Entwicklung der afrikanischen Diaspora in Mitteldeutschland etwas anders verlief, vor allem in der Gegend um Berlin und in Brandenburg, als im übrigen Deutschland oder gar in anderen europäischen Ländern.
Denn von 1681 bis 1721 unterhielt der Kurfürst Wilhelm von Brandenburg, genannt der Große Kurfürst, an der Westküste Afrikas eine Kolonie, genannt Großfriedrichsburg. Sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm I., verkaufte als preußischer König schließlich die Kolonie im Jahre 1721 an die Niederländisch-Ostindische Kompanie. Er zeigte keinerlei Interesse an der Aufrechterhaltung des kolonialen Geschäftes. Preußens König sah "das afrikanische Kommerzienwesen als eine Chimäre", das heißt als ein Hirngespinst, an.
Zu derjenigen Zeit, als Brandenburg bzw. Preußen seine Handelskolonie an der Küste des heutigen Staates Ghana unterhielt, kamen die ersten Afrikaner auch nach Deutschland, kehrten aber wieder in die Heimat zurück. Anders die zu Tausenden zählenden afrikanischen Sklaven, die durch die Brandenburger bzw. später Preußen in die Karibik verschleppt wurden. Brandenburg-Preußen war nämlich in Sachen Sklaverei nicht besser als die anderen europäischen Mächte, die durch den Menschenhandel zu Reichtum gelangten, von dem wir letztlich noch heute im Norden profitieren. Auch die Brandenburger bzw. die Preußen brachten unendliches Leid über Zehntausende von afrikanischen Familien, bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts das koloniale Abenteuer beendet wurde.
Der koloniale Traum des Großen Kurfürsten hat indes nicht nur in Übersee mehr oder minder deutliche Spuren hinterlassen. In dem Vertrag zum Verkauf von Großfriedrichsburg war die Festlegung getroffen worden, daß "12 Negerknaben zu stellen (seien), von denen sechs mit goldenen Ketten geschmückt sein sollten".
Seit jener Zeit gab es in Preußen afrikanische Einwohner in etwas größerer Anzahl, die vornehmlich in der Armee als Trommler und Pfeifer dienten. Aber auch Hofmohren gab es nunmehr auf so manchem preußischen Schloß. So entstand mit dem Verkauf der Kolonie Großfriedrichsburg im Jahr 1721 eine mehr oder minder klar abzugrenzende afrikanische Diaspora in Deutschland, vornehmlich in Preußen, da davon ausgegangen werden kann, daß die Afrikaner auf Grund ihres Status untereinander Verbindung hielten.
Über die einzelnen Schicksale der ihrer heimatlichen Umgebung, ihren Familien und Freunden entrissenen Afrikaner ist wenig bekannt. Die Geschichte der Erforschung der afrikanischen Diaspora in Deutschland steht erst am Anfang. Zwar gibt es schon erfreuliche Fortschritte in den vergangenen Jahren zu verzeichnen, doch existieren thematische Schwerpunkte oder einzelne Personen, von denen heute mehr bekannt ist als von anderen. Die Lebenswege und Schicksale der meisten Afrikaner, die im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte mehr oder minder dauerhaft nach Deutschland gekommen sind, werden wohl für immer unbekannt bleiben. Denn die Historiker können ja nur solchen Biographien nachspähen, die in schriftlicher Form Spuren hinterlassen haben. Es gibt Unterschiede in der Intensität der Spuren, die diese Menschen verursacht haben. Von einigen, wie die an adligen Höfen beschäftigten, gibt es zum Teil recht viele Quellen. Von den Individuen anderer "Berufsgruppen" oder "Schicksalsgemeinschaften" wissen wir hingegen weitaus weniger.
Kaum ist heute etwas über die Geschichte derjenigen Afrikaner bekannt, die durch mehr oder minder berühmte Afrikaforscher im 19. Jahrhundert in die mitteldeutsche Region gekommen sind. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil die Forschungsreisenden selbst in ihren nicht wenigen schriftlichen Selbstdarstellungen, auf denen sich vielfach ihr späterer Ruhm begründete, aus welchen Gründen auch immer, Afrikanern, die ihnen dienten und sie schließlich in die Heimat nach Europa begleiteten, recht wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben. Dabei gab es kaum einen bedeutenden deutschen Afrikareisenden im 19. Jahrhundert, der keinen Afrikaner mit nach Europa gebracht hatte.
Diejenigen Historiker, die sich mit der Geschichte der afrikanischen Diaspora beschäftigen, haben noch nicht all zu viele Fakten über das Leben der von Forschungsreisenden nach Europa mitgebrachten Afrikaner herausgefunden. Tatsache ist nämlich, daß kaum verläßliche Quellen über das Leben der von den deutschen Afrikaforschern mitgebrachten Afrikanern existieren und dann noch Aufmerksamkeit durch Forscher gefunden haben.
Es waren durchaus nicht nur die beiden in der vorliegenden Dokumentation im Mittelpunkt stehenden bedeutendsten und angesehensten deutschen Afrikaforscher Gerhard Rohlfs und Georg Schweinfurth, die aus welchen Motivationen heraus auch immer, junge Afrikaner mit nach Europa nahmen und hier erziehen lassen wollten.
Auch andere deutsche Forscher brachten von ihren Afrikaexpeditionen vor allem "schwarze Knaben" mit, zum Beispiel solch bekannte Namen wie Heinrich Barth (1821–1865), Eduard Vogel (1829–1856), Gustav Nachtigal (1834–1885), Anton Stucker (1855–1888) oder Hermann von Wissmann (1853–1905). Afrikaforscher anderer Nationalitäten tauchten ebenfalls in Europa auf und hatten an ihrer Seite afrikanische Kinder. So ist etwa bekannt, daß der berühmte Afrikaforscher Hennry Morton Stanley (1840–1904) mehrfach "Negerknaben" vom afrikanischen Kontinent mitgebracht hat.
Wenn die Afrikaner auch immer im Schatten ihrer berühmten Protegés standen, war es jedoch nicht so, daß sie überhaupt keine Aufmerksamkeit in der dominierenden deutschen Gesellschaft gefunden hätten. Allein schon ihr Aussehen, selbst wenn sie europäisch gekleidet waren, sorgte für Aufsehen oder Aufmerksamkeit. Betrachtete man diese Afrikaner vor etwa 1880 zwar oftmals als Exoten und wohl auch schon des öfteren mit rassistischer Überheblichkeit, sollte sich die rassistische Behandlung der Afrikaner insbesondere ab Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich verschlechtern. Rassismus wurde mehr oder minder in Deutschland Bestandteil der offiziellen Ideologie. Denn wie wollte man sonst der deutschen Bevölkerung erklären, warum man in Afrika und anderswo Kolonien erwerben wollte? Denn immerhin nahm man ja den dortigen Bewohnern ihr Land weg, behandelte sie herabwürdigend und beutete sie ökonomisch aus. Diese Verhaltensweise mußte also begründet werden; zum großen Teil eben durch Indoktrinierung rassistischen Gedankengutes.
Afrikanische Einzelschicksale waren zu jener Zeit, eigentlich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, kaum Gegenstand historischer oder literaturhistorischer Betrachtungen. Wenn sie in Schriften auftauchten, dann höchstens als Subjekte, die den handelnden Europäern assistierten oder, quasi als die Bösen, die den europäischen Helden, Sorgen und Hindernisse bei der "Ausbreitung der Zivilisation" bereiteten. In der Fotographie und in der damals noch jungen Filmindustrie war es übrigens kaum anders.
Lediglich ab und an tauchen Afrikaner im 20. Jahrhundert vereinzelt als Akteure in Kunst und Literatur auf. Ein bisschen anders war es wohl in den Jahren zuvor gewesen, denn dazu schriebt Peter Martin, daß in Literatur und Kunst in Deutschland lebende Afrikaner "beinahe so häufig auftauchten wie im wirklichen Leben". Das weitere Schicksal von Afrikanern, hatten sie ihre Schuldigkeit an den Schnittstellen der Berührung mit der europäischen Zivilisation getan, spielte allerdings kaum noch eine Rolle, wie überhaupt das Leben von Afrikanern, erzählt aus ihrer eigenen Sicht, lange Zeit keinen zu interessieren schien. Der erste Versuch dies zu ändern, stammt von dem bekannten deutschen Afrikawissenschaftler Diedrich Westermann.
Erst viel später und dann auch nur vereinzelt, beschäftigten sich deutschsprachige Wissenschaftler und Schriftsteller ausgiebiger mit dem Schicksal von Afrikanern in Europa. Den Durchbruch in der Forschung machte Heinz Debrunner mit seinem Buch "Africans in Europa". Einige Jahre später veröffentlichte Peter Martin sein in Hamburg zum Standardwerk gewordenes Buch "Edle Mohren, schwarze Teufel". Der Autor hat mit dem großartigen Buch begonnen, Teil- und Einzelergebnisse der deutschen, aber auch der internationalen Forschung zusammenzutragen und durch umfangreiche Recherchen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu erweitern und neue Maßstäbe für dieses Forschungsfeld zu setzen. Und im Jahr 2005 gab Peter Martin mit Christine Alonzo das Buch "Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus" heraus, welches zum ersten Male verschiedene Aspekte der Geschichte der afrikanischen Diaspora im nationalsozialistischen Deutschland behandelt.
Es liegt, bedingt nicht zuletzt durch eine Vielzahl von regionalen Studien, inzwischen eine schwer zu überblickende Anzahl von Fallstudien vor, die sich mehr oder minder intensiv mit der Immigration von Bewohnern aus Übersee, insbesondere aus Afrika, nach Europa beschäftigt. Zuweilen sind sie in obskuren Journalen, die tatsächlich nur einen beschränkten regionalen Verbreitungsgrad aufweisen, schwer aufzufinden.
Die historische Erforschung der Diaspora überseeischer Völker in Europa ist nicht von Deutschland oder von Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Europa ausgegangen, sondern hat trotz der großen Verdienste des Schweizers Debrunner ihre Anregungen aus den USA, Großbritannien und Frankreich geschöpft. Dort war in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts intensiv begonnen worden, sich in zum Teil ausführlichen Studien der Geschichte der afrikanischen Diaspora in Europa zu widmen. Als erste fundierte Publikation im anglophonen Sprachraum kann das bis heute anerkannte Werk von Kenneth Little gelten, das bereits 1948 erschienen war. Es folgte das Buch des Afro-Amerikaners Shelby T. McCloy, der versuchte, die afrikanische Diaspora in Frankreich nachzuzeichnen.
Nach den genannten bahnbrechenden Werken erschien eine Reihe von recht bedeutenden Einzelstudien, die sich mit den speziellen Aspekten der fremdländischen, vor allem der afrikanischen Diaspora etwa in Portugal, Rußland und den Niederlanden beschäftigen. Die Geschichte der afrikanischen Diaspora in Großbritannien sind schon vielfach Gegenstand von wissenschaftlichen Studien gewesen. Sie bestimmen zusammen mit den US-amerikanischen Studien den wissenschaftlichen Standard. Es seien an dieser Stelle zwei viel beachtete Bände aus den 1990er Jahren erwähnt.
Auffallend ist, daß derjenigen ausländischen Diasporaforschung in Europa die größte Aufmerksamkeit gewidmet wurde, die sich mit Einwanderern aus Afrika beschäftigt, gefolgt von derjenigen, die sich mit dem Schicksal von sogenannten Orientalen in Europa befaßt.
Es zeugt von einem gewissen akademischen Desinteresse, daß jahrzehntelang, als diese Forschungsrichtung bereits in Westeuropa und den USA etabliert war, keine größeren Forschungsarbeiten in Deutschland hierzu erschienen sind.
Zu Beginn der 90er Jahre wurde der Versuch unternommen, die sich in den deutschsprachigen Ländern mit der Geschichte der afrikanischen und asiatischen Diaspora befassenden Akademiker zusammenzuführen. Die Ergebnisse einer Tagung wurden in einem Sammelband veröffentlicht.
Der in fast allen Büchern deutlich gemachte Hinweis auf die trotz allem noch immer vorhandenen Desiderata bedeutet jedoch nicht, daß nicht auch in den vergangenen Jahrzehnten in den deutschsprachigen Ländern einige bedeutende Fallstudien veröffentlicht worden sind, die sich entweder einzelnen Personen bzw. Personengruppen oder dem – oft nur zeitweiligen – Aufenthalt und Wirken von Nichteuropäern in einer bestimmten Region oder gar nur an einem Ort widmeten. So entstand gerade in der Heimat- und Regionalgeschichtsforschung eine ganze Reihe von speziellen Darstellungen von freilich unterschiedlichem wissenschaftlichen Wert. Vereinzelt beschäftigte man sich schon seit den fünfziger Jahren in den beiden deutschen Staaten, aber auch in Österreich und in der Schweiz, in speziellen Untersuchungen mit dem Wirken von Afrikanern im deutschsprachigen Europa. Es handelt sich zwar in der Regel um die Darstellung von Lebensläufen, verfaßt etwa von Burchard Brentjes oder Monika Firla-Forkl, um die entsprechenden Monographien von nur zwei der bekanntesten Autoren aus dem Ost- und dem Westteil Deutschlands zu nennen. Die Arbeiten besitzen indes einen weit über die Biographieforschung und lokale Geschichte hinausgehenden Wert.
Bei der Mehrzahl jener Publikationen handelt es sich um die Lebensgeschichten von Personen aus Afrika, die in Europa einen gewissen Bildungsstand erlangt hatten. Trotz der in den letzten zwei Jahrzehnten publizierten einschlägigen, zum Teil sehr gewichtigen Fallstudien und Sammelbänden wird deutlich, daß es in der deutschsprachigen Diaspora-Forschung einen großen Nachholbedarf gibt. Diese Aussage trifft indes nicht so sehr auf die Forschungen über die Völkerschauen zu, die eigentlich auch zur Diasporaforschung gezählt werden können.
Auf diesem Gebiet existieren einige Pionierarbeiten, etwa die von Hilke Thode-Arora, Rea Brändle und neuerdings Frank Westermann und Anne Dreesbach, um nur einige Biographien zu nennen.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß über diejenigen Afrikaner, die mit heimkehrenden Afrikareisenden nach Europa gelangten, sehr wenig bekannt ist. Auf die Geschichte von deutschen Forschungsreisenden begleitender Afrikaner hatte allerdings schon im Jahre 1970 Dieter Wellenkamp in dem Buch "Der Mohr von Berlin" aufmerksam gemacht. Über die Qualität des Buches im allgemeinen kann man geteilter Meinung sein. Es erzählt jedoch erstmals umfassend das Schicksal eines afrikanischen Knaben, den der Reisende Gerhard Rohlfs auf seiner Afrikadurchquerung in den Jahren 1865 bis 1867 von einem Sklavenhändler geschenkt bekommen hatte. Die Umstände, unter denen Rohlfs zu dem Jungen kam, beschreibt er in seinem Reisebericht eindrucksvoll: "Ein reicher Sklavenhändler aus Kordofan, der mit einer Ladung ‘Menschenfleisch’ in Mursuk angekommen war, erkrankte hier schwer und ließ mich um meinen ärztlichen Rat und Medizin ersuchen ... Ich gab ihm vorläufig eine Auflösung von Kalihydrojodicum. Nach drei Tagen besuchte mich ein Freund von ihm, um mir zwei Mahbub für die Medizin zu behändigen, die ich jedoch nicht annahm, worauf er sagte: ‘Da du kein Geld annehmen willst, so wird dir mein Freund ..., wenn du ihn soweit wieder herstellst, daß er aufstehen und gehen kann, einen jungen Sklaven umsonst überlassen.’... und nach Verlauf von 14 Tagen war der Patient völlig genesen. Beim ersten Ausgange führte er mir den versprochenen Negerknaben zu ... Der unglückliche Kleine, ein Kind von sieben bis acht Jahren, zum Skelett abgemagert und so entkräftet, daß er kaum noch aufrecht gehen konnte, kroch auf allen Vieren zu mir heran, um seinem neuen Herrn die Hand zu küssen, und sein erstes Wort war: ‘Ich bin hungrig’ ... Ich war erst unschlüssig, ob ich ihn bei mir behalten und auf meinen beschwerlichen Reisen mitnehmen sollte, aber der Gedanke, daß ohne Pflege das arme, schon so von Kräften gekommene Kind unfehlbar dem Tode verfallen wäre, überwog schließlich alle Bedenken."
Weil Gerhard Rohlfs den afrikanischen Jungen am 25. Dezember als "Geschenk" erhalten hatte, nannte er ihn Noël, was auf Französisch "Weihnachten" heißt.
Noël wurde wieder kräftiger und genas schließlich. Rohlfs brachte ihn mit nach Deutschland, wo er ihn dem König von Preußen übergab. In dessen Auftrag ließ man Noël die bestmögliche Erziehung angedeihen. Selbst die Königin Augusta nahm regen Anteil an seiner Entwicklung. Der Afrikaner in Preußen "entwickelte" sich jedoch nicht so, wie es seine Protegés von ihm erwarteten. Alle Versuche, dem "Mohren" eine gesicherte Lebensstellung zu verschaffen, schlugen fehl. Noël starb im Alter von 72 Jahren in einer psychiatrischen Anstalt in Ancona/Italien.
Auch ein anderes von einem Afrikaforscher mitgebrachtes afrikanisches Kind scheiterte in Europa, wobei auch hier wieder Gerhard Rohlfs eine wesentliche Rolle spielte. Es handelt sich um Allagabo Tim, dessen Schicksal bislang noch niemals die Aufmerksamkeit eines späteren Wissenschaftlers gefunden hat.
Der noch als Kind von seinem Kontinent nach Europa verbrachte Allagabo Tim wurde von Georg Schweinfurth, einem angeheirateten Verwandten von Gerhard Rohlfs, wie man gemeinhin annehmen könnte, ohne triftigen Grund seiner Heimat und Familie entrissen, quasi wie ein Souvenir erworben, welches "ich zum Andenken an manches Vergangene mitgenommen hatte" und – wie das bei Souvenirs eben so der Fall ist – wie ein Wegwerfartikel behandelt worden.
Ganz so wird es allerdings nicht gewesen sein, wie an Hand der ausgewerteten Dokumente zu sehen sein wird. Da das über Jahre in diesem Buch erstmals geschilderte Schicksal Allagabo Tims außerhalb einer fast familiären Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit gefunden hatte, liegt eine entsprechende Vermutung durchaus im Bereich des Möglichen.
Das Leben dieser beiden non Schweinfurth in Afrika "erworbenen" Jungen weist einige Parallelen auf. Beide waren als Kinder in die Sklaverei geraten. Rohlfs hatte Noël vor dem sicheren Tod bewahrt, und nach dessen Gesundung war der Knabe ihm ein treuer Diener und zuverlässiger Begleiter während seiner weiteren Afrikadurchquerung bis Lagos geworden, von wo aus er ihn mit nach Deutschland genommen hatte. Die Reiserouten des Afrikaforschers machten es erforderlich, daß er sich vorwiegend in den Handelsniederlassungen arabischer Elfenbein- und Sklavenhändler aufhielt und sogar in deren Karawanen mitreiste. Bei einer solchen Gelegenheit waren ihm im Frühjahr 1869 drei Sklavenjungen zu seiner persönlichen Bedienung überlassen worden: Giabir und Amber waren Niam-Niam, und Allagabo Tim stammte aus der ethnischen Gemeinschaft der Bongo. Er war schon als kleines Kind aus seinem Dorf geraubt worden und als Austausch gegen gestohlenes Vieh in den Besitz des Händlers Ghattas gekommen. Sein ursprünglicher Name lautete "Lebbe", was in der Bongo-Sprache die Bezeichnung für eine Mimosenart ist. Die Dinka, die ihn geraubt hatten, übertrugen diesen Namen in ihre eigene Sprache in "Tihm", was soviel wie "Baum" bedeutet. Erst von dem arabischen Sklavenhändler hatte er den Namen "Allagabo" erhalten. Das heißt "Gottesgeschenk". Dies war im nördlichen Afrika zu jener Zeit ein übliches Verfahren, um die Rechtmäßigkeit der Sklavennahme auszudrücken.
Nachdem Allagabo in den Besitz Georg Schweinfurths übergegangen war, begleitete der Junge ihn auf den meisten seiner Reisen. Den Entschluß, den Knaben mit nach Deutschland zu nehmen, fasste der damals schon berühmte Reisende erst kurz vor seiner Rückkehr in die Heimat.
Schon in den Jahren 1868 bis 1871 hatte Georg Schweinfurth eine Reise zur Erforschung der Länder westlich des oberen Nils unternommen. Dabei entdeckte er das Pygmäenvolk der Akka. Sein größter Wunsch war es nunmehr, einen der rätselhaften "Zwerge" auf seine Reise und möglicherweise bis in seine deutsche Heimat mitzunehmen, "um ihn als lebenden Beweis für die Wahrheit tausendjähriger Mythe der Wissenschaft vorzuführen". Im Tausch gegen einen seiner Hunde wurde Schweinfurth tatsächlich ein etwa 14 Jahre alten Pygmäe mit Namen Nsewuë übereignet. Dieser junge Reisegefährte war der Forschung weit bekannter, als alle anderen jungen Afrikaner, die Schweinfurth begleiteten, denn er zeichnete ihn und veröffentlichte sein Bild in seinem Reisebericht.
Um Nsewuë dem Alter entsprechende Gesellschaft zu verschaffen, erwarb er noch zwei weitere Kinder auf dem afrikanischen Kontinent, einen von der Ethnie der Niam-Niam und eben den schon erwähnten Allagabo Tim. "Ich betrachtete ihn fortan als mein neues Adoptivkind. Er wurde bekleidet, und meine Leute mussten ihn bedienen, als wäre er mein eigener Sohn"38, beschreibt der Afrikaforscher sein Verhältnis zu Allagabo Tim.
An anderer Stelle berichtete er über Nsewuë: "Unter meiner Pflege vortrefflich entwickelt und an meine Person attachiert wie ein Sohn, hatte ich mich 1½ Jahre lang seines Besitzes zu erfreuen." Nicht ohne Widerstand ließ sich der kleine Junge aus seiner Heimat weglocken: "Es war nicht leicht gewesen, Nsewuë zum Mitkommen zu bewegen."
Die ganze Macht des Heimwehs schien dem kleinen Jungen dann zu überwältigen, als er mit Schweinfurth aus seiner Heimat fortreisen sollte: "Sein seltsames Klagen machte mich eine Weile unschlüssig, ob ich ihn mitnehmen sollte, aber bald wich besonnenere Überlegung diesem unklaren Herzenszuge, nur den Uneingeweihten konnte sein Anblick rühren. Nicht den Verlust der Heimat beklagte (er), nicht die Trennung von seinen fraglichen Angehörigen, denn was wusste er, wo diese geblieben ... Nur die Furcht vor dem Fremden war es, die den Kleinen bewegte, die Angst, gefressen zu werden. Nach landesüblicher Vorstellung musste jede Schenkung eines Menschen nur im kulinarischen Sinn aufgefasst werden ... Wenige Tage an meiner Seite und in meinem Zelte mit den ausgesuchtesten Speisen des Landes versehen, ließen ihn bald seine ganze Vergangenheit vergessen."
Wenngleich Schweinfurth in seinen Reisenotizen ab und an seinen "Adoptivsohn" oder seine Diener bzw. Reisegefährten erwähnte, kann nicht daraus die Schlußfolgerung gezogen werden, daß er sich den afrikanischen Kindern an seiner Seite in seinem schriftlich verfassten Report ausführlich widmete. Nur gelegentlich war Allagabo Tim Gegenstand von Schweinfurths Reisebericht, so als er schrieb: "Allagabo Tim, so hieß mein neues Adoptivkind, hatte in Dir seine Angehörigen. Ich erhielt daher die Besuche von Vater, Onkel und Tante, die von mir ... reich beschenkt und in meiner Zeichenmappe verewigt wurden. Da sie längst über Allagabo keine Macht mehr besaßen ..., konnten sie sich über sein glückliches Geschick nur freuen, indem sie wohl begriffen, daß er als zivilisierter Mensch einem weit besseren Leben entgegen ging, als seine wilde Heimat ihm je dargeboten haben würde. Die Mutter war vor einigen Jahren ... in die Sklaverei nach Chartum geschleppt worden. Sie war die einzige, nach der Allagabo Sehnsucht empfand, und er erzählte noch später, als er bereits in Europa sich einzubürgern begann, wie ihm das Bild der Mutter im Traum gefolgt sei, um ihn mit tränenden Augen zu umschweben. – Leider waren in Chartum alle Anstrengungen vergeblich, die Mutter ausfindig zu machen. Gegen den Vater legte mein Schützling wenig Liebe und Anhänglichkeit an den Tag, ja, er verlangte sogar, als ich ihn beschenkte, daß ich alles dem Onkel geben sollte, der Vater verdiene nichts. Als ich nach der Ursache dieser Abneigung forschte, erfuhr ich, daß der Vater zu einer Zeit, da Allagabo an einer Kinderkrankheit schwer darniederlag, sich nicht im geringsten um ihn gekümmert, wohl aber habe der Onkel der Schwester bei der Pflege ihres Sohnes treulich zur Seite gestanden."