Eva Bohrmann
Ein Winterspiel

Roman, 2007, 242 S., ISBN (10) 3-89626-607-1, ISBN (13) 978-3-89626-607-1, 13,80 EUR

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Eigentlich hatte der Journalist Christian Wimmer vor, sich – endlich – den dunklen Momenten seiner Vergangenheit zu stellen, als er im Winter 1999 in seine Geburtsstadt Freiburg zurückkehrt. Doch was er am Neujahrsmorgen in seinem Nachtquartier, einem kleinen, einsam gelegenen Hotel im Schwarzwald, vorfindet, ist nicht der dringend gesuchte Seelenfrieden, sondern eine bestialisch zugerichtete Leiche.
Fünf Jahre später fehlt vom Täter noch immer jede Spur. 
Dann gibt es abermals brutale Morde und der Kreis seiner Opfer ist denkbar klein: offenbar hat es der Mörder nur auf Personen abgesehen, die damals in dem Schwarzwaldhotel nächtigten. Beunruhigt macht sich Wimmer auf  die Suche nach der Wahrheit, doch jede Antwort, die er findet, wirft neue Fragen auf. Schließlich ist er nicht einmal mehr sicher, ob die Toten wirklich in Frieden ruhen …

 

LESEPROBE

1. Teil
Dezember 1999


Jetzt war er also wieder hier.
Die schneebedeckten Kronen der Bäume zu beiden Seiten der Autobahn glitzerten grell in der Wintersonne. Der alte Kadett hatte Offenburg hinter sich gelassen und rollte gemächlich auf der rechten Spur dahin. Sein Nacken war steif von der langen Fahrt, und Kopfschmerzen begannen unangenehm hinter den Schläfen zu po­chen. Vorsichtig bewegte er die Schultern. Wimmer verzog gequält das Gesicht, als ihm ein beißender Schmerz in den Nacken fuhr. Wurde Zeit, dass er sein Ziel erreichte. Sein Körper schrie nach einer Paracetamol und einer heißen Dusche.
Der Opel passierte das Schild, vor dem sich Wimmer die ganze Fahrt über gefürchtet hatte. ›Freiburg‹ stand auf dem Hinweisschild, das die nächste Ausfahrt ankündigte. Spätestens jetzt hatte Wimmer erwartet, dass ihn die alten Bilder einholen würden.
Wimmer ordnete sich rechts ein und fuhr von der Autobahn ab. Er schaltete in einen niedrigen Gang und brachte den Wagen vorsichtig an der roten Ampel zum Stehen. Die Straßen waren glatt, und schmutziges Eis hing an den Leitplanken. Das regelmäßige Klicken des Blinkers kam ihm unnatürlich laut vor. Wimmer spielte mit dem Gedanken, das Radio einzuschalten.
Als sie an dem einen Tag vor fünf Jahren vom Besuch bei Marias Eltern zurückgekommen waren, hatte das Autoradio gespielt. George Michael hatte in jener naiven Entrüstung, die heterosexuelle Männer zum Augenrollen verleitet, »Last Christmas« über den Äther gehaucht. Erinnerungen waren etwas Eigenartiges. Wimmer konnte sich an die wenigsten Dinge erinnern, aber daran, dass Wham im Radio lief, erinnerte er sich genau.
Sie waren in ausgelassener Stimmung gewesen, wie immer, wenn sie einen förmlichen Besuch bei den Karsdorfs mit Anstand und ohne besondere Vorkommnisse hinter sich gebracht hatten. Marias liebevoll streichelnde Finger in seinen Nacken und ihr ausgelassenes Lachen ließen ihn wissen, wie froh sie war, die bedrückende Enge ihres Elternhauses einmal mehr hinter sich gelassen zu haben.

Christian bemerkte die junge Frau erst, als es schon zu spät war. Wie aus dem Nichts tauchte sie plötzlich vor dem Wagen auf. Dann geschah alles sehr schnell. Marias Schrei. Der dumpfe Aufprall. Das Blut, das auf die Windschutzscheibe spritzte. Das Ruckeln des Wagens, als er den Körper überrollte. Christian musste den Wagen angehalten haben und ausgestiegen sein, er konnte sich spä­ter nicht erinnern. Unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben war ihm dagegen der Gesichtsausdruck des alten Mannes auf der anderen Straßenseite, der mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf eine Stelle einige Meter hinter ihm starrte. Christians Blick folgte dem des Mannes.

Seine Knie sackten unter ihm weg, als er den blutüberströmten Körper auf der Straße liegen sah. Das rechte Bein und der Kopf standen in abstrusen Winkeln vom Körper ab. Christian rappelte sich hoch und taumelte einige Schritte auf die Stelle zu, um die sich bereits eine Menschentraube bildete. Irgendwer schrie: »So ruf’ doch jemand einen Krankenwagen!«
Eine Frauenstimme hinter Christian wisperte hysterisch: »Oh mein Gott, sie ist tot, oder nicht?«

Ungeduldiges Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Die Ampel war auf grün umgesprungen, ohne dass Wimmer es bemerkt hatte. Mit zitternden Fingern schaltete er in den ersten Gang. Jetzt hatten ihn die Bilder doch eingeholt. Noch dazu mit einer Brutalität, auf die er nicht gefasst gewesen war. Aber wenn er damals eines gelernt hatte, dann, dass keine Phantasie der Welt mit der Brutalität der Realität Schritt zu halten vermochte.
Wimmer wischte sich fahrig über die schweißbedeckte Stirn und versuchte sich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren. In den letzten Jahren hatte er sich zu einem wahren Meister entwickelt, wenn es darum ging, die Erinnerungen an den Unfall zu verdrängen. Doch heute hatte er nicht viel entgegenzusetzen.

Christian konnte das Gesicht der jungen Frau nicht sehen. Sie lag halb auf der Seite, aber das Gesicht war dem Boden zugewandt. Blutige Haarsträhnen klebten wirr am Hinterkopf und aus einer hässlich klaffenden Wunde am Hals sickerte unablässig neues Blut auf den Asphalt. Seine Beine gaben wieder nach und er fiel vornüber auf Hände und Knie. Das Nächste, woran er sich erinnern konn­te, war der säuerlich stechende Geruch des eigenen Erbrochenen. Jemand legte eine Decke um seine Schultern und half ihm aufzuste­hen. Seine Beine wollten augenblicklich wieder wegsacken, doch ein fester Griff um den Brustkorb hielt ihn aufrecht. Er wurde zu einem Krankenwagen geschleppt.

»Ich habe sie nicht gesehen.«
Die wispernde Stimme kam von weit her. Nur mit Mühe erkannte Christian sie als seine eigene.
»Ich habe sie wirklich nicht gesehen.«
Dann ging das raue Flüstern in heiseres Schluchzen über. Eine Bahre wurde an ihm vorbei zu einem zweiten Krankenwagen gerollt.
»Warum beeilen die sich nicht?«

Das weiße Tuch ließ nichts von dem Körper erkennen, den es bedeckte. An einigen Stellen sickerte dunkles Blut durch das Laken. Langsam machte sich die Gewissheit in seinem Bewusstsein breit, und heiße Panik stieg in ihm auf.
Es war totes Blut.