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Merten, Hans-Rüdiger

Vergessene Theater im alten Berlin. Eine Spurensuche

[= Berliner ZeitLäufe, Bd. 1], trafo  2006, Tb, 42 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-599-9, 5,80 EUR

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Wer Berlin durchwandert auf den Spuren vergangener Geschichte, muß wach sein. Oft wird der Wanderer nichts von dem finden, was er sucht. Dafür aber trifft er auf Überraschungen, die er nicht erwartet hat.

Das kann ihm auch in den
»Berliner ZeitLäufen« widerfahren.

 

Auf den Spuren folgender Berliner Theater:

Rose-Theater / Wallner Theater / Volkstheater / Thalia Theater / Theater des Jüdischen Kulturbundes / Central-Theater / Berlin Theater / Apollo-Theater / Walhalla-Theater / Casion-Theater / Victoria-Theater /Königstädtisches Theater

 

 

 

LESEPROBE

Neben dem geöffneten Fenster meines Büros in der Berliner Marchlewskistraße rattert eine Zementmischmaschine. In der Stadt wird gebaut. Tag und Nacht wird gebaut und ist ein Gebäude fertiggestellt, wird es nach einigen Jahren wieder abgerissen. Dann wird wieder gebaut und schon nach wenigen Monaten haben die meisten Einwohner vergessen, was an dieser Stelle einst stand.

Wer Erinnerung sucht, muß schon auf Spurensuche gehen in Büchern, Zeitungen und vor Ort. Ab heute gehe ich auf die Suche zu den Orten vergessener Theater des alten Berlin.

Hieran sind eine nervende Baumaschine und mein neuer Verleger schuld.

Meine Frau, die Ehrenwerte, hat keine Mühe und Kraft gescheut und meinen Wunsch erfüllt. Aus dem Bestand der Berliner Stadtbibliothek hat sie zwölf Bücher angeschleppt zum von mir gewünschten Thema. In mein Büro konnte ich nur fünf von ihnen mitnehmen. Ich bin nicht so kräftig.

Informativ für die Theaterlandschaft des 19. Jahrhunderts ist das Buch »Geschichte der Berliner Theater« von Otto Weddigen aus dem Jahr 1899. Er listet rund dreißig Einrichtungen auf, die oft durch Besitzerwechsel zu neuen Namen kamen. Ich fürchte, in den anderen Büchern stehen noch mehr und werde mich begrenzen. Zu viel Bewegung an der frischen Luft kann schaden, sagte früher mein Großvater. Er hatte seine Erfahrungen. Vier Jahre begleitete er seine MG-Kompanie im Ersten Weltkrieg zu Pferd.

Die wärmende Septembersonne lockt mich aus dem Büro. Ich will zur Karl-Marx-Allee. Hier stand in der einstigen Großen Frankfurter Straße 132 bis zu seiner Zerstörung in den Straßenkämpfen im April 1945 und dem später erfolgten Abriß das »Rose-Theater«. Der kürzeste Weg führt mich durch die immer trübsinnig aussehende Marchlewskistraße. Auf dem Fahrweg sitzt eine Gruppe Spatzen, die mit ihren Schnäbeln emsig auf das Pflaster klopfen. Seltsam, seit Jahrzehnten haben hier keine Pferdeäpfel mehr gelegen und sie picken noch immer.

Im kleinen Tümpel an der Weberwiese badet ein Rottweiler. Genußsüchtig und ausdauernd. Dann stehe ich auf der Karl-Marx-Alle, die einst auch nach Stalin benannt war. Der Architekt Hermann Henselmann zeichnete für diese Bauten mitverantwortlich und entwarf mit seiner Arbeitsgruppe das Hochhaus an der Weberwiese.

In Richtung Alexanderplatz muß ich laufen, die Straße der Pariser Kommune überqueren und hier, kurz vor der Koppenstraße stand einmal das Objekt meiner Begierde. Wenn alle Angaben stimmen, lag das Haus mit Garten zwischen der Karl-Marx-Buchhandlung im Haus Nr. 78 und dem Café Sibylle. Eine Informationstafel gibt Auskunft über den Architekten von Block C der Allee, Richard Paulick, das Theater findet keine Erwähnung.

Mich lockt das Kaffeehaus und bei einem Glas Rotwein kann der geplante Ausflug in die Geschichte beginnen.

Auf dem Eckgrundstück Koppenstraße/Große Frankfurter Allee wurde im Dezember 1877 unter starkem Anteil der Presse die Eröffnung eines neuen Theaters am Rand von Berlin gefeiert, Ostend-Theater genannt. Zwei Tage später wurde es mit der Premiere von Shakespeares »König Lear« eingeweiht. Der Zuschauerraum hatte 1200 Plätze, das Repertoire war klassisch, die Besucher blieben aus und mit ihnen die dringend benötigten Einnahmen. Bereits 1882 war der Besitzer Grünfeld bankrott und mußte das Haus der Hamburger Kredit-Bank überlassen.

Nach einigen Interimstadien übernahm im September 1886 August Kurz die Direktion. Er begann erfolgreich, inszenierte ein Stück des Theaterdichters Ernst von Wildenbruch, Enkel des bei Saalfeld 1806 im Kampf gegen Napoleon gefallenen preußischen Prinzen Louis Ferdinand von Hohenzollern und konnte sich über den Ansturm der Besucher freuen. Dennoch, irgendwie war der Wurm im Hausgebälk, Kurz kapitulierte nach zwei Jahren und ab September 1888 hieß der neue Direktor Witte-Wild.

In seine Zeit fielen die Bühnenauftritte des legendären Schauspielers Josef Kainz, die 1890 die Berliner Theaterfreunde magisch in ihren Bann zogen und die Presse der Reichshauptstadt erfreuten.

Witte-Wild gab dem Haus den Namen »Volkstheater« und hielt vier Jahre durch.

Im Oktober 1892 versuchte Carl Weiß sein Glück als Direktor, verlieh der Bühne den leicht übertriebenen Namen »Nationaltheater« und verabreichte dem Publikum eine leichte Kost. Er ließ auch den zum Theater gehörenden Garten auf einer Sommerbühne bespielen und konnte sich zufrieden zurücklehnen, als er 1906 Bernhard Rose den Theaterbau verkaufte.

Mit Bernhard Rose und nachfolgend seinen Söhnen begann nun die Glanz- und Blütezeit des von den Berlinern schon liebevoll »Millionengrab« genannten Hauses.

Um die weiteren Spuren zu sichten, muß ich zu meinem Büro wandern. Das umfassende Buch von Ruth Freydank »Theater in Berlin« ist durch sein Format zu gewaltig, mit ihm Berliner Straßen genußvoll zu durchstreifen.

Der Besuch bei »Sibylle« hat mich beflügelt. Im Inneren eine Tresen-Bar, eine kleine Ausstellung moderner Gemälde und eine winzige in den Raum gebaute Holzbühne für Lesungen und Musik. Im Innenkern eine informative Ausstellung über Kriegszerstörung und Neuaufbau der Großen Frankfurter Straße mit einigen gelungen eingesetzten Exponaten. Die andere Raumseite bietet in einer Doppelvitrine zeitgeschichtliche Schaustücke der fünfziger Jahre und eine Wand mit vier originalen Plakaten.

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