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Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 84 (2006)

Geschichtliche Erfahrungen aus dem Wechselspiel der Religionen – Chancen für die Entfaltung der Toleranz?

trafo verlag 2006, 133 S., ISBN (10) 3-89626-577-6, ISBN (13) 978-3-89626-577-7, 17,80 EUR

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Inhalt

 

Siegfried Wollgast: Vorwort 7

 

Lothar Ebner: Eröffnung und Begrüßung

Wirtschaft, Toleranz und Religion - sind das Termini, die zusammenpassen? 13

 

Beiträge

Siegfried Wollgast: Christliche Religion und Toleranz - gestern und heute 21

Gert Wendelborn: Kirchengeschichte als langer Weg zu mehr Toleranz 69

Christian Staffa: Auf dem Weg von Intoleranz zu Toleranz - Aktion Sühnezeichen Friedensdienste - Geschichte und Begriffe eines Praxisbeispiels 85

 

Aus der Diskussion

Adolf Laube: Zum Toleranzproblem in der frühen Reformation 93

Lothar Kolditz: Zwei thematische Grundfragen 107

 

Weitere Materialien zum Gegenstand

Gerhard Banse: Was Technik mit Toleranz zu tun hat 109

Rolf Löther: Was ist Bioethik? 123

Reingard Nisse/Ingo Wirth: Können Staat und Polizei den Drogenkonsum tolerieren? 129

 

 

Vorwort

Dieser Band enthält die wichtigsten Referate und Materialien der 4. Toleranz-Konferenz der Leibniz-Sozietät e.V. Berlin und des Mittelstandsverbandes Oberhavel e.V. (MVO), die am 24. September 2005 in Oranienburg stattfand. Beigegeben sind drei Kurzfassungen von Referaten bei Schülerkolloquien, die aus unseren bisherigen Toleranz-Konferenzen erwachsen sind.

Die abgedruckten Beiträge basieren auf unterschiedlichen Toleranzdefinitionen. Das ist auch Ausdruck der Bewegung, der diesem Untersuchungsfeld eigen ist. Es ist zudem Ausdruck der Tatsache, daß Toleranz wie Intoleranz noch immer vereinseitigt, nicht in ihren unterschiedlichen Komponenten erfaßt, benutzt und verstanden werden. Schon unsere bisherigen drei Toleranz-Konferenzen/1/ haben belegt, daß wir Toleranz wie Intoleranz interdisziplinär fassen. Die Konferenz vom 24.09.2005 hat das noch unterstrichen und dabei neben der Philosophie die Rolle der Theologie besonders betont. Weitere Konferenzen zu wichtigen Aspekten der Toleranz sind geplant. Toleranz wie Intoleranz sind ein unendliches Feld!

Auch bei dieser Konferenz mußte mancher Wunsch offen bleiben, vieles Gesagte war auch diesmal lediglich als Anregung zur weiteren Diskussion zu verstehen. Dies auch, weil die Begriffe von Toleranz und Intoleranz nach wie vor unscharf sind. So besteht z.B. die Gefahr, daß Bekenntnisse zur Toleranz unglaubwürdig werden. Zudem ist Toleranz wie Intoleranz bei den mehr als 400 akademischen Fächern zumeist höchstens ein Randproblem. Dabei haben Toleranz, Freiheitsrechte und Menschenwürde eine gemeinsame Basis. Es hat aber auch schon Vorschläge gegeben, auf den Toleranzbegriff zu verzichten. „In der Alltagskommunikation Deutschlands sind die Ausdrücke 'Toleranz' und 'Intoleranz' nach wie vor schwammige Begriffe; ihre Inhalte sind unklar und ihre Funktionen umstritten."/2/

Jedenfalls ist Toleranz im epistemischen, im normativ-juristischen und im anthropologischen Bereich unabdingbar. Aber: „Der Bereich, in dem die häufigsten Toleranzkonflikte auftreten, ist zweifellos der des Alltagsverhaltens, wo Hierarchien, Vorurteile, Doktrinarismus, psychische Empfindlichkeiten und vieles andere mehr zur Trübung des Verständnisses von Vernünftigkeit führen oder tatsächlich die Feststellung von Vernünftigkeit erschweren. Angesichts der speziellen Kasuistik im Felde des Individuellen werden Probleme dieser Art wohl immer nur in pragmatischer Einstellung gelöst (oder entschärft) werden können. Jedoch ... wird auch da, wo die scharfen Scheidelinien der normativen Disziplinen nicht auszumachen sind, die Erinnerung an deren Distinktionen für das eigene Verhalten hilfreich sein."/3/

Diese Toleranzkonflikte sind auch sehr stark mit der Geschichte des Christentums verbunden. Das Christentum hat unsere Kultur weitgehend geprägt, auch wenn gerade in den neuen Bundesländern Deutschlands seit Jahrzehnten eine dominierende Verweltlichung zu konstatieren ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jhs. hat die Globalisierung sehr zugenommen. Damit treten auch andere Religionen, wie etwa der Islam, sehr stark in den Mittelpunkt europäischen, bzw. deutschen Alltagsverhaltens./4/ Bei der auch künftig zu führenden Wertediskussion in Deutschland spielten und spielen auch Religionen eine beachtliche Rolle. Es gibt aber keine Wertediskussion und keinen Versuch, Werte zu realisieren, ohne eine feste Haltung zu Toleranz und Intoleranz. Der Glaube spielt dabei auch eine große Rolle, der philosophische, nicht der Offenbarungsglaube, wie schon Werner Heisenberg oder Karl Jaspers sahen./5/ Und der Mensch ist letztlich ein egoistisches Wesen! Also sieht er auch Toleranz wie Intoleranz weitgehend aus der Nutzenposition. Wieweit ist das zu tolerieren? Ist der Wunsch Realität oder Utopie?

Heute ist auch zu fragen, „ob Toleranz gegenüber der Natur als dem Anderen unter Einschluß ökologischer Gerechtigkeit überhaupt möglich ist ... Denn es zeigt sich, daß das wissenschaftlich-technisch gemacht wird, was Profit bringt. Die Privatisierung von Wissenschaft und Technik schreitet rasant voran und damit die Privatisierung der Natur inklusive unseres eigenen Lebens und über die Gentechnologie auch des Lebens der zukünftigen Generationen. Wie also soll ... Tolerierung des Anderen unter dem Kriterium selbstbestimmten Eigenwerts möglich sein, wenn alles kreatürliche Leben der Herrschaft der profitorientierten wissenschaftlich-technischen Methode unterworfen werden kann?"/6/ Das sagt bzw. fragt ein Systematischer Theologe, Mitbegründer und Leitungsmitglied des europäischen Basisnetzwerks „Kairos Europa - unterwegs zu einem Europa für Gerechtigkeit"! Auch heute und morgen gilt die Formel „cuius oeconomia, eius regio" (wer die Ökonomie beherrscht, herrscht auch (indirekt, politisch) vor der anderen Formel oder Möglichkeit: „cuius regio, eius oeconomia", die das Gegenteil besagt! Wo bleibt da die Ökologie?

Entwicklung und Evolution werden häufig synonym gebraucht. Doch Entwicklung ist ein philosophischer Begriff. Evolution ist seit Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jhs. die Bezeichnung für Entwicklungsvorgänge im Bereich des Biotischen, zumeist als synthetischer Darwinismus bezeichnet. Bleiben werden sicherlich die vielen Anknüpfungspunkte für die Entwicklungstheorie in der Vergangenheit, etwa ihre unterschiedlichen Varianten bei Charles Robert Darwin (1809-1882), Henri Louis Bergson (1859-1941) und Herbert Spencer (1820-1903). Auch künftig wird es unterschiedlichste philosophische und naturwissenschaftliche Entwicklungsmodelle geben. Sie hängen von den realen Bedingungen ab, in unserer Zeit vom Gegensatz von Ökonomie und Ökologie. Die Bedingungen verändern sich, wie schon U. Duchrow hinsichtlich der Folgen sagte, folglich die Art des Gegensatzes und seiner Bewältigung. Jetzt wird die menschliche Entwicklung „maßgeblich durch einen ökologischen Faktor reguliert: die menschliche Populationsgröße, die über Klimaänderungen, das Artensterben und das Ende natürlicher Ressourcen entscheidet. Diese mögliche E.(ntwicklung) wird seit drei Jahrzehnten mathematisch in Entwicklungs)modellen simuliert, ohne daß diese Modelle bisher die reale E.(ntwicklung) selbst verändert hätten; sie zeigen vielmehr nur ein verändertes Bewußtsein über die künftige E. Wie man wann oder überhaupt „die weitere Evolution mit schädlichen Intoleranzphasen" (L. Kolditz) erzwingen soll oder muß, ist m.E. heute noch nicht sagbar. Es gibt viele Ansätze, auch immer wieder Leugnung der Entwicklungstheorie: „Die Glaubensaussage, die Welt sei vor 6000 Jahren geschaffen worden ... läßt sich nur halten durch so merkwürdige Gedanken wie die Schellings, der etwa ... sagte: Vor 6000 Jahren ist die Welt geschaffen worden, und zwar so, daß zugleich mit ihrer Schöpfung eine Vergangenheit in den Versteinerungen geschaffen wurde, die als Vergangenheit niemals Gegenwart gewesen ist. Also eine geschaffene Vergangenheit. Heute hat alle Theologie die Schöpfungsgeschichte nicht mehr als Glaubensinhalt festgehalten, sondern hat sich auf die These zurückgezogen: Die Bibel enthält keine Naturwissenschaft." Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Und jeder Staat in jeder Gesellschaftsordnung setzt Normen und Zwänge, bietet damit in seinem Wirken Ansätze auch für Intoleranz im negativen Sinne.

An der Toleranz-Konferenz vom 24.09.2005 nahmen 60 Personen teil. An der Diskussion zum Hauptreferat von Siegfried Wollgast beteiligten sich Lothar Ebner, Wolfgang Eichhorn, Erich Hahn, Lothar Kolditz, Adolf Laube und Dr. sc. Hannelore Lehmann. Der Diskussionsbeitrag von A. Laube ist in erweiterter Form in dieses Heft aufgenommen worden, auch die gezielten Anfragen des Vizepräsidenten der Leibniz-Sozietät L. Kolditz. Sie erfahren eine gewisse Beantwortung im ebenfalls erweiterten Hauptreferat und im Vorwort. In den anderen Diskussionsbeiträgen ging es z.B. um Intoleranz anderer Religionen, warum gerade das Christentum in seiner Entstehung so große Wirkung erlangt hat, um ratio und fides, um G. W.F. Hegels Position zur Vernunft, um Pietismus und Toleranz, um einen Dualismus von Toleranz und Intoleranz, um Wahrheit und Gewißheit. Die Diskussionen bewegten sich auf einem hohen Niveau. Sie belegten, daß Toleranz und Intoleranz Probleme sind, die weitere Aufmerksamkeit verlangen und wohl niemals als endgültig geklärt verstanden werden können.

Daß die Konferenz ohne zeitliche Verzögerungen und andere „Pannen" ablief, ist auch den Moderatoren geschuldet, also Erich Hahn, Lothar Kolditz und Detlef Wendel. Ihnen sei hier herzlicher Dank gesagt. Auch allen, die sich bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung unserer Toleranz-Konferenz eingebracht haben, sei herzlich gedankt! Herrn Vizepräsident Lothar Kolditz danke ich zudem herzlich für seinen aktiven und uneigennützigen Einsatz bei der Realisierung dieses Bandes. Dank gebührt weiter Mitgliedern und Mitarbeitern des Mittelstandsverbandes Oberhavel e.V., die für ein angenehmes Konferenzumfeld sorgten und auch diesen Band sponserten.

Dresden, Dezember 2005

Siegfried Wollgast

_________________________

1 a) Siegfried Wollgast (Hrsg.): Toleranz: Ihre historische Genese, ihre Chancen und Grenzen im 21. Jahrhundert. Gemeinsame Wissenschaftliche Konferenz...am 26. Oktober 2002 in Oranienburg (Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Berlin 56 (2002), H. 5; b) Jörg Roesler (Hrsg.): Toleranz und ethische Minderheiten in Deutschland und Europa. Gemeinsame Wissenschaftliche Konferenz...am 25. Oktober 2003...(Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Berlin 65 (2004); c) Erich Hahn (Hrsg.): Toleranz im Spannungsfeld religiöser, sozialer und kultureller Pluralität. Gemeinsame Wissenschaftliche Konferenz...am 23. Oktober 2004.. .(Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Berlin 77 (2005).

2 Vgl. Alois Wierlacher: Zur Verknüpfung von Toleranz- und Intoleranzforschung in: Kritik und Geschichte der Intoleranz, hrsg. von Rolf Kloepfer und Burckhard Dücker, Heidelberg 2000, S. 393-405, zit. 297; Kurt Biedenkopf: Toleranz in der Demokratie, in: Uwe Schultz (Hrsg.): Toleranz. Die Krise der demokratischen Tugend und sechzehn Vorschläge zu ihrer Überwindung, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 162-174.

3 Hans Heinz Holz: Toleranz in einer pluralen Weltgesellschaft, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Berlin 77 (2005), S. 21-30, zit. S. 29f.

4 Vgl. z.B. Günther Lachmann: Tödliche Toleranz. Die Muslime und unsere offene Gesellschaft, München-Zürich 2005.

5 Karl Jaspers: Der philosophische Glaube, München 1954, S. 57: „Der philosophische Glaube...hl der Glaube des Menschen an seine Möglichkeit. In ihr atmet seine Freiheit." Vgl. Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, Reinbek bei Hamburg 1955, S. 44-^6; Karl Jaspers: Provokationen. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Hans Saner, München 1969, S. 24-27, 69-73; ders.: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 3. Aufl., Darmstadt 1984.

6 Ulrich Duchrow: „Keine anderen Götter neben mir." Ist Toleranz mit Klassenherrschaft und Imperium vereinbar?, in: Kritik und Geschichte der Intoleranz (wie Anm. 2), S. 165-183, zit. 173f.

7 Volker Schurig: Entwicklung, in: Enzyklopädie Philosophie. Unter Mitwirkung von Detlev Pätzold, Arnim Regenbogen u. Pirmin Stekeler-Weithofer hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Bd. 1, Hamburg 1999, S. 339. Vgl. Thomas Junker/Uwe Hoßfeld: Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte, Darmstadt 2001.

8 Jaspers: Provokationen (wie Anm. 5), S. 71. Vgl. Junker/Hoßfeld: Die Entdeckung der Evolution (wie Anm. 7), S. 142-148.