Hedwig Dohm

Sibilla Dalmar, Roman

[= Edition Hedwig Dohm, Bd. 1], Roman, hrsg. von Nikola Müller & Isabel Rohner, trafo verlag 2006, 305 S., ISBN (10) 3-89626-560-1, ISBN (13) 978-3-89626-560-9, 24,80 EUR

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ZU DEN REZENSIONEN

 

Als der Roman SIBILLA DALMAR 1896 erscheint, löst er in der großbürgerlichen Gesellschaft Münchens einen Skandal aus. „Ganz München erkannte sich wieder", schreibt der Thomas Mann-Biograf Peter de Mendelssohn, „es gab einen rechten Skandal, der dem Lübecker Buddenbrooks-Ärgernis nicht viel nachgab." Die Identifizierung der Protagonistin Sibilla mit Hedwig Dohms ältester Tochter Hedwig Pringsheim-Dohm, der Mutter von Katia Mann, greift allerdings zu kurz und steht einer Lesart, die die künstlerische Qualität in den Mittelpunkt rückt, im Wege. Hochintelligent, geprägt von den Ideen revolutionärer Vor-Denker, sind Sibilla Dalmar dennoch alle Türen zu sinnvoller Betätigung verschlossen. Nicht bereit, „Märtyrerin für eine Gesellschaft der Zukunft" zu sein, wird sie mehr und mehr zur Misanthropin und scheitert schließlich an ihrem letzten Versuch, aus dem Salonleben in eine neue Existenz auszubrechen.

Inhaltsverzeichnis

 

Zwischen Tochter-Abbild und Nietzsche-Karikatur:

Die Rezeption von Sibilla Dalmar 7

Eine Vorbemerkung zur Edition 19

Hedwig Dohm über Sibilla Dalmar 23

Hedwig Dohm: Selbstanzeige zu Sibilla Dalmar (1896) 23

Hedwig Dohm: Vorwort in Schicksale einer Seele (1899) 25

 

Sibilla Dalmar

Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts 27

(2. Auflage, 1897)

Zeitgenössische Rezensionen zu Sibilla Dalmar 279

Helene Stöcker: Neue Frauenliteratur (1896) 279

Nana Düsen: Hedwig Dohm: „Sibilla Dagmar" (1896) 281

N. N.: Sibilla Dalmar (1896) 282

Heinrich Hart: Neues vom Büchertisch (1896/1897) 284

Julie Engell-Günther: Aus: „Sybilla Dalmar" von Hedwig Dohm (1897) 287

N. N.: „Sybille Dalmar" (1897) 291

N. N.: Sibilla Dalmar (1897/1902) 292

Richard Specht: Unliterarische Literatur (1898) 293

Danksagung 303

Über die Herausgeberinnen 305

Die Edition Hedwig Dohm 307

 

 

 

Zwischen Tochter-Abbild und Nietzsche-Karikatur: Die Rezeption von Sibilla Dalmar

„Also sprach Sibilla Dalmar"
Hedwig Dohm

 

Als der Roman Sibilla Dalmar 1896 im S. Fischer Verlag veröffentlicht wird, löst er in der Münchener Gesellschaft einen regelrechten Skandal aus. Die Romanheldin scheint Hedwig Dohms Tochter Hedwig Pringsheim-Dohm, Gattin des wohlhabenden Mathematikers Alfred Pringsheim und Mutter von Katia Mann, wie aus dem Gesicht bzw. Leben geschnitten. Darüber hinaus sehen KritikerInnen weitere Persönlichkeiten des Münchener Großbürgertums abgebildet, karikiert und bloßgestellt. Thomas-Mann-Biograf Peter de Mendessohn schreibt in Der Zauberer:

„Ganz München erkannte sich wieder, und es gab einen rechten Skandal, der dem Lübecker Buddenbrooks-Ärgernis nicht viel nachgab."1

Das Publikumsinteresse ist so groß, dass bereits 1897, ein Jahr nach dem Ersterscheinen, eine zweite, nur leicht veränderte Auflage des Romans erscheint – obgleich die zeitgenössischen Rezensionen mit Urteilen von „moralisch bedenklich"2 über „zu pädagogisch"3 bis „stilistisch gelungen"4 und „künstlerisch mangelhaft"5 alles andere als einheitlich positiv sind. Die Wellen, die der Roman in München schlägt, und die Identifizierung von Hedwig Pringsheim-Dohm mit der Figur der Sibilla Dalmar sind für die Verkaufszahlen ohne Zweifel eher zuträglich als schädlich.

Nicht nur die ZeitgenossInnen – allen voran die vermeintlich Porträtierten – erliegen der durchaus voyeuristischen Versuchung, in Dohms Protagonistin ein Abbild ihrer ältesten Tochter zu sehen. Bis zum heutigen Tage trägt die Rezeption dieses Vorurteil weiter – und nicht nur dieses: So schreibt Peter de Mendelssohn 1975 über die Entstehung des Romans und über Dohms schriftstellerisches Vorgehen:

„‚Miemchen‘ [so wurde Hedwig Dohm von ihrer Familie genannt; N.M./I.R.] liebte ihre älteste, schönste und begabteste Tochter aufs innigste, und Mutter und Tochter schrieben einander regelmäßig und ausführlich zwei- bis dreimal in der Woche. Hedwig Dohm bewahrte alle langen und detaillierten Berichte aus München sorgfältig auf und verarbeitete alles, was darin über die Münchner Gesellschaft stand, beinahe Wort für Wort in ihrem Roman, dessen Hauptfigur ihre eigene Tochter war. Sie war eine bei aller Klugheit im Grunde sehr naive Frau und hatte sich gar nichts dabei gedacht, daß sie neben allem anderen dieser Figur ein Verhältnis mit einem baltischen Adeligen andichtete, was Professor Pringsheim ganz besonders ärgerlich fand."

Und Inge und Walter Jens stimmen 2005 in ihrer Biografie über Hedwig Pringsheim-Dohm mit ein:

„Es war kein Zufall, dass Hedwig Dohm Sibilla Dalmar über weite Passagen hin als Briefroman angelegt hatte, denn diese Form bot der Autorin Gelegenheit, die töchterlichen Episteln ohne große Retuschen, in der authentischen Ich-Form und oftmals, wie es scheint, unter bloßer Veränderung der Namen zu benutzen."6

Dass die hier angesprochene Korrespondenz zwischen Hedwig Dohm und ihrer Tochter Hedwig Pringsheim verschollen, bislang kein einziger Brief der Tochter an die Mutter entdeckt worden ist, findet hingegen keine Erwähnung. Und so entpuppt sich die vermeintliche „Tatsache" bei näherem Hinsehen als bloße Behauptung, als unbewiesene Wiederholung des De Mendelssohnschen Vorurteils. Immerhin räumen Inge und Walter Jens ein, dass die „Tatsache", Hedwig Dohm habe die Briefe ihrer Tochter „ohne großen Retuschen" in den Roman übernommen, nicht bedeute, dass Sibilla Dalmar in allen Einzelheiten Hedwig Pringsheim entspreche, auch wenn „die biographischen und charakterlichen Ähnlichkeiten unübersehbar" seien. Die Jens’sche Interpretation des Romans setzt diese Erkenntnis jedoch nicht um:

„Sibilla Dalmars Eisenacher und Weimarer Erlebnisse zum Beispiel, die Begegnung mit Franz Liszt, die Charakteristik ihres Vaters, des lebensfreudigen und bis zur Genusssucht leichtsinnigen Musikers Franz, der in jeder Gesellschaft durch seine geistreichen Causerien brilliert, sind reale Fakten aus dem Leben von Vater und Tochter Dohm; und zumindest die Umstände, unter denen Franz Dalmar Sibillas etwas farbloser Mutter auf einer Reise begegnet und sie „beim Duft der Linden" lieben lernt, erinnern an Episoden aus dem Leben der Autorin selbst."7

Gewiss haben reale Begebenheiten Hedwig Dohm zu bestimmten Szenen und Figurenkonstellationen inspiriert – bei welchem Werk und welchem Autor wäre dies auch nicht der Fall? Darauf aber die „Tatsache" zu stützen, dass Hedwig Dohm bei den realen Briefen ihrer Tochter einfach nur die Namen geändert habe, um so ihren Roman zu schreiben, ist ein Trugschluss, der an Rufmord grenzt, bezweifelt er doch Dohms schriftstellerische Eigenständigkeit, Kreativität und Gestaltungskraft. Und während man im selben Fall bei einem männlichen Autor von „Inspiration" und „Anregung" sprechen würde, führt das Urteil bei Dohm zu dem Ergebnis, sie sei eine schlechte Schriftstellerin und des Plagiats an ihrer Tochter schuldig.

Interessant ist auch die Frage, wo bei einer solchen Lesart die Grenze des Autobiografischen gezogen werden müsste. Ist doch die Figur des Franz Dalmar, in der Inge und Walter Jens Ernst Dohm wiedererkennen wollen, nicht nur „lebensfreudig […] und bis zur Genusssucht leichtsinnig […]" – Eigenschaften, die auch Ernst Dohm charakterisieren mögen –, sondern im Roman auch durchaus eine tragische Gestalt, indem er jahrelang behauptet, die „letzte Feile"8 an seine Oper „Merlin" anzulegen, das große Werk aber nicht vollbracht hat, als er stirbt. Von einem solchen Schubladenwerk in Ernst Dohms Leben wissen wir nichts. Und auch die Jens’sche Darstellung, das Kennenlernen von Vater und Mutter Dalmar „beim Duft der Linden" erinnere an „Episoden aus dem Leben der Autorin selbst", entpuppt sich schlussendlich als Behauptung, hat doch Hedwig Dohm nie, an keiner Stelle, über ihr erstes Rendezvous mit Ernst Dohm geschrieben. Es existiert jedoch eine ganz ähnliche Szene in Dohms Roman Schicksale einer Seele.9 Offenbar werden auch in diesem Fall Werk und Wirklichkeit nicht auseinander gehalten, einfacherweise bezieht man sich hier auf einen anderen Roman.

Die Problematik einer solchen Lesart besteht nun – wie bei jeder Lesart, die nur auf biografische „Tatsachen" aus ist und einen Text in erster Linie als Quelle vermeintlicher Fakten liest –, darin, dass gerade die künstlerischen, gestalterischen Qualitäten des Textes nicht ins Blickfeld geraten, ja förmlich über-lesen werden. Dies ist in der Folge besonders bedauerlich, da gerade Sibilla Dalmar ein vielschichtiges Werk mit einem dichten intertextuellen und intermedialen Netz ist, mit einem für die Romankonzeption zentralen Wechselspiel zwischen Inhalt, Form und Stil.

Durch eine Rezeptionshaltung, die sich nur auf Informationen aus Hedwig Pringsheims Leben konzentriert, wird nicht nur der Roman verkannt, sondern auch die Autorin: Aus einer kreativen und klugen Schriftstellerin wird eine naive Abbildnerin. Dass Hedwig Dohm eine „bei aller Klugheit im Grunde sehr naive Frau" war und sich bei der Veröffentlichung von Sibilla Dalmar „gar nichts dabei gedacht" habe, wie Peter De Mendelssohn schreibt, ist ähnlich – und ähnlich falsch – gemutmaßt wie die populäre Meinung, Hedwig Dohm hätte aus Schüchternheit nicht an der organisierten Frauenbewegung teilgenommen.10 Beide Behauptungen widersprechen den Fakten und zeichnen ein Bild Hedwig Dohms mit der Feder des Verfechters eines konservativen Weiblichkeitskonzeptes.

Sibilla Dalmar ist durchaus nicht der einzige Roman im erzählerischen Werk Dohms, der eine biografische Reduktion erfuhr. Insbesondere im Roman Schicksale einer Seele aus dem Jahr 1899 wollte man die „naturgetreue" Abbildung von Hedwig Dohms eigenem Werdegang erkennen, was neben mehreren hartnäckigen Gerüchten über ihre Ehe schließlich auch dazu führte, dass die biografischen Daten ihrer Protagonistin Marlene in der öffentlichen Meinung zu Dohms eigenen wurden.11

Doch was geschieht, was verpasst man, reduziert man einen Text wie Sibilla Dalmar auf die vermeintlich darin enthaltenen Fakten aus dem Leben Hedwig Dohms und ihrer Tochter?

Zunächst geht verloren, worum es inhaltlich geht: Die Autorin schafft in ihrer Hauptfigur eine begabte und kritische Frau mit einem zeitgebundenen Schicksal. Das Kind Sibilla bekommt eine für Bürgerstöchter typische Schulbildung, die Mädchen zu zukünftigen Hausfrauen und Müttern erzieht, nicht aber zu selbstständig Denkenden, verantwortlich Handelnden. Intelligenz und Kreativität werden nicht gefördert, sondern für Zwecke kanalisiert, die Bürgerinnen zukommen: Mann angeln, heiraten, Kinder und Haushalt versorgen, bestenfalls dem Mann zur Unterhaltung dienen und seinen Rang repräsentieren. Jede ernsthafte Beschäftigung mit Literatur, Philosophie und Gesellschaft, jede Regung, die den Geist öffnen und den Widerspruch gegen das vorgezeichnete Frauenleben wecken könnte, wird von der Mädchenschule im Keim erstickt. Doch Sibillas Neugier und ihr Talent zum Denken lassen sie nicht ruhen, und über die Jahre verschlingt sie, was sie an Geistesnahrung finden kann. Ohne eine vernünftige Bildung, ohne Anleitung zum Denken und Umsetzen der Ideen versickert jedoch ihr Talent.

Es ist nicht nur mangelnde Schulbildung, der Sibilla zum Opfer fällt, vielleicht noch schwerer wiegt die Unmöglichkeit, einen – selbst gewählten und ihr entsprechenden – Beruf zu ergreifen. Obwohl geprägt von den Ideen revolutionärer Vor-Denker, sind Sibilla doch alle Türen zu sinnvoller und existenzsichernder Betätigung verschlossen. In der gesellschaftlichen Fülle mit Pomp und Prunk, im Treiben und Schwirren um sie herum empfindet sie zunehmend Leere und bleibt unausgefüllt.

Sibilla erkennt, dass sie in einer Übergangsepoche, „im Vorfrühling der großen Frauenbewegung"12 lebt, und sieht die Möglichkeit neuer und freierer weiblicher Existenzen jenseits der alten Verhaltensmuster voraus, Möglichkeiten der Selbstentfaltung und individuellen Persönlichkeitsbildung, die ihr selbst verschlossen sind und die für sie, Sibilla Dalmar, tragischerweise zu spät kommen werden: „Gewohnheit und Erziehung lassen sich doch nicht rückgängig machen. Sie konstruieren uns Seele und Körper und schaffen uns eine zweite Natur, die stärker ist als die erste, angeborene."13

Diese Einsicht macht deutlich, warum auch der Ausblick auf eine freiheitliche Zukunft Sibilla nicht zum Handeln aktivieren, zum Kampf mobilisieren kann. Sie hat nicht gelernt, in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen, Theorie in Praxis umzusetzen, und gleichzeitig sind ihr die Felder, auf denen sie handeln könnte, zu armselig und zu rückschrittlich.

So macht Sibilla zwar den Versuch, dem Sozialisten Kunz zu folgen, weil sie seine sozialistischen Ideen teilt, doch das Experiment gelingt nicht, Sibilla liebt mehr seine Gedanken als den Mann selbst, und die Aussicht, Geliebte und Gefährtin eines Sozialisten zu sein, verspricht ihr wiederum kein selbstbestimmtes Leben. Im Gegenteil: Ihr jetziger sozialer Status und der Reichtum, in dem sie mit ihrem Ehemann lebt, ermöglichen ihr mehr Freiheit. Und Sibilla sieht durchaus keinen Sinn darin, sich als Märtyrerin zu opfern: „Und wollte ich auch mit Taten größeren Stils an meiner Sozialisierung arbeiten, lohnen sich denn solche Kämpfe mit sich selbst? Nicht eine Vergeudung von Kraft? Warum sich die Beine ausreißen für den Sieg einer Idee? Ist es an der Zeit, wird die Idee ja doch Wirklichkeit, bald langsamer, bald schneller, meistens allerdings langsamer. Aber der Sieg kommt, unabänderlich, unaufhaltsam. Erst sind einige wenige dafür, dann viele, dann sehr viele, schließlich die Majorität, und die Sache ist abgemacht. – So lange man zu den Einzelnen gehört, ist man Ketzer und wird verbrannt."14

Auch die Wohltätigkeit – gesellschaftlich akzeptiertes Handlungsfeld wohlhabender Bürgerinnen – bietet Sibilla keine sinnvolle Beschäftigung: Sie wendet sich erschüttert und angewidert von den rigorosen und frauenverachtenden Moralvorstellungen der „Armenpflegerinnen" ab und erkennt, wie wenig tatsächlich Not gelindert, wie sehr aber die „Pfleglinge" menschlich korrumpiert werden.

Und schon gar nicht kann sich Sibilla für die Veränderung ihrer eigenen Lage oder der der Frau im Allgemeinen einsetzen: „Soll ich Dir’s gestehen, Mutti, ich kann mich nicht einmal so recht lebhaft für die Frauenfrage interessieren. […] Ich bin ihnen ja hundert Jahre voraus."15

1896, als Sibilla Dalmar erscheint, beschäftigt sich die bürgerliche Frauenbewegung vorwiegend mit Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Frauen, – politische Teilhabe, das Stimmrecht gar, gehört noch nicht zu den erklärten Zielen der konservativen Mehrheit. Der radikale Flügel formiert sich gerade erst, auch durch Hewig Dohms Mitarbeit,16 das Stimmrecht wird vereinzelt zum öffentlichen Diskussionsthema, doch in organisierter Form existiert noch keine Stimmrechtsbewegung.17 Wer weiß, vielleicht hätte Hedwig Dohm ihrer Protagonistin ein anderes Urteil in den Mund gelegt, hätte sie den Roman zehn Jahre später, auf der Höhe der politischen Wirkungsmacht der Radikalen, geschrieben.

Die bürgerlich-gemäßigte Frauenbewegung, die Sibilla jedoch vorfindet, ist die, die auch Dohm als zu harmlos und zu wenig radikal, im Sinne von „an die Wurzel gehend", einschätzte. Sibilla kritisiert die Machtlosigkeit der Frauen und die Folgenlosigkeit ihres Kampfes, ihr Urteil ähnelt dem über die sozialistische Bewegung. Sie selbst ist zu keinem Kompromiss bereit: Wenn sie nicht alles haben kann, was sie will, will sie lieber gar nichts haben, als sich umsonst anzustrengen.

Ebenso bietet auch der Gestus des Romans mehr, als eine biografische Lesart erkennen wollte: Trotz der Begrenzungen, die Sibilla erfährt, nimmt sie interessanterweise von Anfang an die Position der Überlegenen ein, schildert sie ihr Leben mit kompromisslosem Blick und nicht ohne Ironie und Sarkasmus. Sprachlich gehört Sibilla Dalmar, zusammen mit der Novelle Werde, die du bist, zweifellos zu den kraftvollsten Arbeiten in Dohms Erzählwerk.

Doch Dohm schafft nicht nur auf der Ebene der Charaktere mit Sibilla Dalmar eine außergewöhnliche, kraftvolle Figur, sondern gerade auch durch das dichte intertextuelle Netz zu Nietzsche und seinem Werk:18 Durch die steten Bezugnahmen auf Nietzsche – Sibilla liest Nietzsche, zitiert ihn, philosophiert indirekt und direkt seine Thesen, leidet wie er immer wieder an Kopfschmerzen – werden seine Werke in einem Raum rezipiert, für den sie nicht geschrieben sind: Die Divergenz zwischen Nietzsches Philosophie und der Lebenswirklichkeit einer Sibilla Dalmar, einer bürgerlichen Frau mit dem typisch weiblichen Bildungsgang und adäquater Rollenzuweisung, springt förmlich ins Auge. Durch diese Verwebung mit Nietzsche, den Dohm als Philosoph der „Umwertung aller Werte" zutiefst verehrte und dessen antifeministische Äußerungen sie deswegen noch mehr enttäuschten,19 wird mit Sibilla Dalmar auch eine neue Lesart seines Werks geschaffen und seine Subjekt-Konzepte als rein männlich entlarvt. Auch die zeitgenössische Rezeption bemerkt diesen Bezug bereits, z.B. die folgende anonyme Kritik, die in der Protagonistin eine Nietzsche-Karikatur erkennt:

„Die Gigantenfigur eines Nietzsche als Boudoirstatuette, das ist Sibilla Dalmar, ein capriciöser Tausendsassa, der alles versteht und nichts kann, alles Große ans Herz drückt und es in der Umarmung zermürbt, zu einer Fratze zerdrückt und dann wegwirft."20

Gegen die biografische Deutung jedoch, die in Sibilla Hedwig Pringsheim-Dohm erkennen wollte, hatte und hat es dieser sehr viel komplexere, dem Text Intelligenz und Intention zusprechende Ansatz schwer. Dass der Roman mehr schildert als das mehr oder weniger wilde Treiben des Münchener Großbürgertums an der Wende zum 20. Jahrhundert, geriet zunehmend in den Hintergrund, und so wird es im 20. Jahrhundert still um Sibilla Dalmar. Als die Frauenbewegungen der 1970er und 80er Jahre neben anderen Vordenkerinnen des Feminismus auch Hedwig Dohm wieder entdecken und ihre Werke neu publizieren, erfahren mehrere Texte Dohms eine Neuauflage, nicht aber der Roman Sibilla Dalmar.21 In Dohms Werk wird er unter „ferner liefen" subsumiert.

Das ändert sich erst in den 1990er Jahren und ist in erster Linie der Germanistin Gaby Pailer zu verdanken, die unter anderem auch den Nietzsche-Bezug analysiert und den Ansatz weitergeführt hat. Ihre Arbeit hat maßgeblich bewirkt, dass Dohms Ruf als „schlechte Roman-Schriftstellerin" wenigstens im begrenzten universitären Raum in Frage gestellt und als haltlos befunden worden ist.

Ein weiterer Punkt, auf den in dieser Einleitung eingegangen werden muss, ist die Einbindung von Sibilla Dalmar in Dohms Romanwerk. Hedwig Dohm verfasst insgesamt vier Romane: den frühen Roman Plein Air, von dem sie sich später distanziert, sowie die Trilogie Drei Generationen, bestehend aus Schicksale einer Seele, Sibilla Dalmar und Christa Ruland, über die sie 1899 in ihrer Selbstanzeige zum Roman Schicksale einer Seele in der Zeitschrift Die Zukunft Folgendes schreibt:

„In drei Romanen wollte ich drei Frauengenerationen des neunzehnten Jahrhunderts schildern, deren Repräsentantinnen, den Durchschnitt zwar überragend, doch Typen ihrer Zeit sein sollten.

[…] Meine drei Frauengenerationen würden also die Lebensbilder von Großmutter, Tochter und Enkelin entrollen. Alle drei Romane dienen der Illustration des pindarischen Spruches: ‚Werde, die Du bist!‘"22

Dieser Trilogie-Charakter der drei Romane wird in der Forschung immer wieder betont, allerdings ohne ihn um eine wichtige Information zu ergänzen: In der Selbstanzeige zu Sibilla Dalmar, am 3.10.1896 ebenfalls in der Zukunft veröffentlicht, formuliert Hedwig Dohm noch nicht die Absicht zu einer Trilogie. Sie hat demnach erst später, vor oder während ihrer Arbeit an dem Roman Schicksale einer Seele, ebenfalls erschienen im S. Fischer Verlag,23 begonnen, ihr Drei-Generationen-Konzept zu verfolgen, mit dem sie dann die trilogische Reihenfolge ändert: Schicksale einer Seele, so schreibt sie in der Selbstanzeige 1899, solle der erste Band dieser Trilogie sein, der drei Jahre zuvor erschienene Roman Sibilla Dalmar, der eine Frau aus der Generation ihrer Töchter beschreibt, der zweite, Christa Ruland 24 schließlich solle mit der Generation ihrer Enkelinnen die Trilogie – jeweils eine weibliche Protagonistin dreier aufeinanderfolgenden Frauengenerationen stellt sich ihrer gesellschaftlichen Situation – abschließen.

So erstaunt auch nicht, dass sich das Motto, unter das sie Sibilla Dalmar zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung stellt, von der pindarschen Aufforderung „Werde, die du bist!" deutlich unterscheidet:

„‚Und so soll ich, die Brahmane, Mit dem Haupt im Himmel weilend, Fühlen, Paria, dieser Erde Niederziehende Gewalt.‘ Dieser goethische Vers, den ich zum Leitmotiv meines Romans gewählt habe, – ist er nicht das Leitmotiv im Leben aller Elitemenschen?"25

Den konstruktiven und optimistischen, in die Zukunft gerichteten Appell „Werde, die du bist!" gibt es hier noch nicht, das ursprüngliche Roman-Motto bezieht sich sehr konkret – und damit weitaus pessimistischer – auf die Lebens- und Leidensgeschichte der Protagonistin Sibilla Dalmar, der Hedwig Dohm in den Mund legt:

„Mir ist manchmal, als wäre ich gar kein Geschöpf von Fleisch und Blut, sondern nur ein Begriff mit einem Zettel im Munde, ‚das ist ein Stück Geschichte der Frau‘."26

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Vgl. Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. 2 Bände, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1975, S. 558f.

2  Vgl. die Rezension von Heinrich Hart: Neues vom Büchertisch. In: Velhagen und Klasings Monatshefte, Bielefeld/Berlin/Darmstadt, 11. Jg., 1896/1897, Nr. 2, S. 73. In diesem Band S. 284–287.

3  Vgl. die Rezension: N. N.: Sibilla Dalmar. In: Deutsche Roman-Zeitung, Leipzig und Berlin, 33. Jg., 1896, Nr. 4, Beiblatt, Sp. 141–142. In diesem Band S. 282–284.

Vgl. die Rezension: N. N.: „Sybille Dalmar" [sic!]. In: Die Gesellschaft, Monatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik, Dresden und Leipzig, 13. Jg., 1897, Bd. 13/2 (III), S. 401–402, Rubrik Kritik. Romane und Novellen. In diesem Band S. 291.

5  Vgl. die Rezension von Nana Düsen: Hedwig Dohm: „Sibilla Dagmar" [sic!]. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik, Dresden und Leipzig, 12. Jg., 1896, Bd. 12/2 (III), S. 1097. In diesem Band auf S. 281–282.

Inge Jens und Walter Jens: Katias Mutter. Das außergewöhnliche Leben der Hedwig Pringsheim. Reinbek: Rowohlt, 2005, S. 99.

7  Inge Jens und Walter Jens, a.a.O., S. 99f.

Hedwig Dohm: Sibilla Dalmar. Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts. Berlin: S. Fischer, 1897, S. 40: „Seit Jahren schon legte er immer die letzte Feile an seinen Merlin." In diesem Band vgl. S. 56.

9  Dort küssen sich die Protagonistin Marlene und ihr späterer Mann Walter zum ersten Mal in einer „Gaisblattlaube". Vgl. Hedwig Dohm: Schicksale einer Seele. Berlin: S. Fischer, 1899, S. 110.

10 Dass Letzteres eine geradezu lächerliche Behauptung ist, da es zu der Zeit, als Dohm anfing zu schreiben, noch gar keine organisierte Frauenbewegung gab, die auch nur annähernd so radikal gewesen wäre wie sie, wurde in der Einleitung zu Hedwig Dohm – Ausgewählte Texte ausführlich dargestellt.

11 Vgl. hierzu auch die Einleitung Hedwig Dohm – Ein Wiedersehen zum 175. Geburtstag von Nikola Müller und Isabel Rohner in dieselben (Hg.): Hedwig Dohm – Ausgewählte Texte. Berlin: trafo Verlag, 2006, S. 9–23.

12 Hedwig Dohm: Sibilla Dalmar. Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts. Berlin: S. Fischer, 1897, S. 145. In diesem Band S. 124.

13 Hedwig Dohm, a.a.O., S. 263f. In diesem Band S. 204.

14 Hedwig Dohm, a.a.O., S. 288f. In diesem Band S. 221.

15 Hedwig Dohm, a.a.O., S. 307f. In diesem Band S. 234f.

16 1888 ist Dohm Mitglied des Gründungskomittees von Hedwig Kettlers Frauenverein Reform, und seit 1889 nimmt sie das Amt der Beisitzerin in Minna Cauers radikalem Verein Frauenwohl ein und behält es bis 1902.

17 Detailliert ist die Entwicklung nachzulesen bei Ulla Wischermann: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2003, Kapitel 3.

18 Die intertextuellen Bezüge und Anspielungen auf Nietzsche in Dohms Werk hat Gaby Pailer in ihrer hervorragenden Dissertation herausgearbeitet: Gaby Pailer: Schreibe, die du bist. Die Gestaltung weiblicher „Autorschaft" im erzählerischen Werk Hedwig Dohms. Pfaffenweiler: Centaurus, 1994.

19 Vgl. hierzu auch Hedwig Dohms Feuilleton Nietzsche und die Frauen. In: Nikola Müller und Isabel Rohner (Hg.): Hedwig Dohm – Ausgewählte Texte. Berlin: trafo Verlag, 2006, S. 124–136.

20 N. N.: Sibilla Dalmar. Roman. 2. Auflage, Rezension aus dem Neuen Wiener Tagblatt. In: Hedwig Dohm: Christa Ruland. Roman, Berlin: S. Fischer, 1902. In diesem Band vgl. S. 292.

21 Im Gegensatz zu Dohms Roman Schicksale einer Seele, der 1988 wiederaufgelegt wurde. Dazu vgl. die Einleitung im nächsten Band: Nikola Müller und Isabel Rohner (Hg.): Hedwig Dohm: Schicksale einer Seele. Berlin: trafo Verlag, 2006.

22 Hedwig Dohm: Schicksale einer Seele. In: Die Zukunft vom 13.5.1899, 27. Band, S. 316f.

23 Der S. Fischer Verlag hatte bereits in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine „Frauenreihe". Vgl. Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1970. S. 270ff.

24 Interessant ist, dass der dritte Roman der Trilogie, von dem Dohm in der Selbstanzeige zu Schicksale einer Seele spricht, zu diesem Zeitpunkt noch „Christa Rubens" heißen soll. Vgl. die Selbstanzeige vom 13.5.1899. Im Vorwort zu Schicksale einer Seele nennt sie den geplanten Titel „Anne Marie Rubens". Vgl. Hedwig Dohm: Schicksale einer Seele. Berlin: S. Fischer Verlag, 1899.

25 Hedwig Dohm: Selbstanzeige Sibilla Dalmar. In: Die Zukunft vom 3.10.1896, 17. Band, S. 41. In diesem Band S. 23.

26 Hedwig Dohm: Sibilla Dalmar. Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts. 1897, S. 356. In diesem Band S. 266.

 

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