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Till Sailer

In Liebe – Ihr Johannes Brahms

Roman, trafo verlag 2005,  466 S., ISBN 978-3-89626-548-7, 24,80 EUR

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Zu den Rezensionen

Zur Hörprobe: Till Sailer liest, Michael Stöckigt am Klavier. Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4

An den Leser 

Bei einem der vielen Gespräche mit Freunden und Sachverständigen, die sich während der Arbeit an diesem Roman über Johannes Brahms ergaben, äußerte eine Berliner Literaturwissenschaftlerin, es sei verwunderlich, daß noch kein derartiges Buch existiere. Das Romanhafte der Brahmsschen Existenz liege doch auf der Hand. Diese Einschätzung fand der Autor bei seinen Recherchen immer wieder bestätigt. Der junge Brahms und sein Weg ins Leben, das ist eine erzählenswerte, vielseitige Geschichte. Jener Komponist, dessen Musik den Verfasser seit der Pubertät immer besonders berührt hat, machte eine Entwicklung durch, die verdient, aufmerksam nachgezeichnet und literarisch aufgehoben zu werden. Das vorliegende Buch möge Sie, lieber Leser, von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen. Es ging bei der Gestaltung nicht um das Stöbern in der Privatsphäre eines berühmten Künstlers und schon gar nicht um voyeuristische Einblicke aus der Schlüssellochperspektive. Es ging darum, den Lebensentwurf eines jungen Mannes nacherlebbar zu machen, der aus bescheidenen Verhältnissen aufbrach, in seinen Lehr- und Wanderjahren Rat und Bestätigung suchte, der Freundschaft und Liebe fand und sich in Konflikten durchzusetzen wusste. Damit avanciert allerdings gerade jener Mann zur Romanfigur, dem die Preisgabe von Persönlichem so außerordentlich zuwider war. Diese unvermeidliche Nebenwirkung sollte in den Hintergrund treten, sobald es gelingt, die kritische Teilnahme heutiger Leser zu wecken.

Der Roman über den jungen Brahms stützt sich auf sehr viele Zeugnisse, von denen nur wenige zitiert wurden. Die Zitate, die lediglich verknappte Auszüge sein konnten, wurden durch Kursivschrift hervorgehoben und bewußt ohne Auslassungszeichen gedruckt. Dadurch soll die Lesbarkeit erleichtert und die Homogenität der Handlung nicht gestört werden. Das gilt auch für die literarischen Anleihen, die der Autor bei einigen Stücken der Lieblingslektüre des heranwachsenden Komponisten gemacht hat. Es sind neben vertonter Poesie von Eichendorff, Hölty, Mörike, Uhland u.a. vor allem Auszüge aus zwei Prosawerken, dem phantastischen Roman von E.T.A. Hoffmann über die „Lebensansichten des Katers Murr“ mit der eingefügten „Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler“ sowie dem Briefroman von J.W.v. Goethe über „Die Leiden des jungen Werther“.

Die Neugier der Leserschaft ist bei historischen Romanen oft auf die Frage konzentriert, wie es der Verfasser wohl mit Dichtung und Wahrheit gehalten habe. Im Mikrokosmos der zahllosen biographischen Publikationen über Clara und Robert Schumann sowie über Johannes Brahms und dessen Freundeskreis – man denke nur an die umfangreiche Korrespondenz - ist derart viel dokumentiert, daß für Erfindung nur wenig Raum blieb. Dennoch ist der Charakter dieses Buches vor allem dadurch geprägt, daß die Geschichte aus der persönlichen Sicht des Verfassers erzählt wurde.

Vielen Menschen, die mich bei der Arbeit unterstützt haben, schulde ich Dank. In erster Linie möchte ich mich bei dem Lektor und Musikwissenschaftler Thomas Frenzel bedanken, der die Anregung für einen Roman über Brahms und Clara Schumann gab und ihn in allen Etappen engagiert begleitete. Gedankt sei dem Brahms-Museum in Hamburg, dessen unermüdliche Leiterin Frau Zinnow mir wichtige Quellen erschloß und darüber hinaus freundlichen Zuspruch schenkte. Besonders dankbar bin ich der Stadt Otterndorf an der Elbmündung, als deren Stadtschreiber ich 2003 im Gartenhaus am Süderwall einen unvergeßlichen Brahms-Sommer verleben durfte. Bedanken möchte ich mich bei der Pianistin und Pädagogin Gudula Senftleben, die zahlreiche Überlegungen, musikalische Ergänzungen und erhellende Literaturhinweise eingebracht hat. Dankbar bin ich Helmut Riemer aus Cuxhaven, der mir, gemeinsam mit seinen Freunden, bei der Gestaltung der plattdeutschen Passagen mit Rat und Tat zur Seite stand. Zu danken habe ich der leider still entschlafenen Stiftung Kulturfonds sowie dem Ministerium für Kultur des Landes Brandenburg für einen fruchtbaren Arbeitsaufenthalt im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf, bei dem der georgische Komponist und Dirigent Schawleg Schilakadse einfühlsam meine Bemühungen unterstützte, in die Psyche eines Komponisten einzudringen. Symbolisch danken möchte ich der großen Schar von Autoren aus Vergangenheit und Gegenwart, deren Arbeiten ich ausgiebig genutzt habe. Stellvertretend seien hier Renate und Kurt Hofmann genannt. Das Lübecker Professorenpaar hat sich mit der Sammlung von Brahmsiana sowie durch wichtige Publikationen nachhaltig um den Komponisten verdient gemacht.

Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich meiner Frau Sybille, die mir über Jahre hinweg Rückhalt gab und durch kreatives Mitdenken maßgeblich dazu beitrug, mein Vorhaben zu verwirklichen.

Am Schluß sei Ihnen, lieber Leser, eine gute Zeit mit diesem Buch gewünscht. Möge Ihnen die Lektüre den Menschen Johannes Brahms näher bringen, seine Leiden und Freuden, die den Hintergrund für ein unsterbliches musikalisches Werk bilden.

Till Sailer

Bad Saarow, im August 2005

 

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog                                                                                                 

Hamburg, 4. Januar 1865

 

1. Kapitel

Fußreise zum Ich                                                                              

1853

 

Rückblick                                                                                         

Hamburg, 26. Januar 1865

 

2. Kapitel

Neue Bahnen                                                                                    

1853/54

 

Rückblick                                                                                            

Hamburg, 27. Januar 1865

 

3. Kapitel

Liebe im Schatten

1854/55

 

Rückblick           

Hamburg, 28. Januar 1865

 

4. Kapitel

Ende und Neubeginn                                                                               

1856/57

 

Rückblick                                                                                           

Hamburg, 29. Januar 1865

 

5. Kapitel

Eine Ahnung von Glück                                                                    

1857/58

 

Rückblick                                                                                        

Hamburg, 30. Januar 1865

 

6. Kapitel

Klavierkonzert                                                                                     

1858/59

 

Epilog                                                                                                  

Hamburg, 5. Februar 1865

 



 

Prolog

Hamburg, 4. Januar 1865

An diesem kalten Winterabend wäre Johanna Christiane Brahms am liebsten zu Hause geblieben. Sie war nicht mehr gut zu Fuß, und mit den Augen wurde es immer schlechter. Doch wenn einer ihrer zwei Söhne öffentlich auftrat, durfte sie nicht fehlen. Das würde so bleiben bis zum Lebensende. Fritz, der Jüngste, gab im großen Wörmerschen Saal Konzert. Mit zwei Herren vom Philharmonischen Orchester spielte er ein Klaviertrio seines Bruders. Vor einem Jahr, als der Junge schon einmal hier eine Soiree veranstaltet hatte, war die Familie gemeinsam gekommen. Diesmal war von der Verwandtschaft nur Elise unter den zahlreichen Zuhörern. Mutter Brahms spürte den aufkommenden Ärger, der sie seit Monaten heimsuchte. Jakob, ihr Mann, glänzte mal wieder durch Abwesenheit. Seit Tagen hatte sie nichts von ihm gehört. Johannes lebte das dritte Jahr im fernen Wien und kam immer seltener nach Hamburg. Das bedrückte sie.

Während das ungebärdige Trio ihres Sohnes erklang, mußte die kleine alte Frau fortwährend grübeln. Sie spitzte die Lippen und strich sich über die eingefallenen Wangen. Warum nur war der Familienfrieden im vergangenen Jahr so hoffnungslos zerbrochen? Jahrzehntelang kam man doch zurecht. Und wie oft war sie hell begeistert von den Künsten ihrer drei Männer. Besonders gern erinnerte sie sich an die beiden Auftritte im März 1859. In ihre wasserblauen Augen kam ein Leuchten. Sie wußte den Zeitpunkt genau, weil damals der Dirigent vom Philharmonischen Orchester erstmals in Hamburg auftrat. Der Name fiel ihr nicht gleich ein, obwohl der Mann ihren Jakob eingestellt hatte. In letzter Zeit suchte sie oft nach Namen. Dabei war das Gedächtnis immer ihre große Stärke gewesen.

Richtig, Stockhausen, der Sänger. Und Herr Joachim war damals auch mit von der Partie. Erst hatte Hannes sein Klavierkonzert gespielt. Ein paar Tage darauf wurde hier in diesem Saal seine Serenade gegeben. Dort, auf der Bühne rechts, hatte Jakob den Kontrabaß gestrichen und mit ein paar Kollegen ein Stück seines Ältesten aufgeführt. Und hinterher standen Vater und Sohn einträchtig auf der Bühne und verbeugten sich. Das war einer der schönsten Tage ihres Lebens und ein Freudentag für die Familie.

Die Erinnerung hatte sie belebt. Sie nestelte an dem Knoten, zu dem ihre spärlichen Haare gesteckt waren, und wandte sich wieder der erklingenden Musik zu. Eigentlich hätte ihr das wild auffahrende Stück in der Manier des jungen Kreisler vertraut sein müssen. Es war noch zu Lebzeiten von Herrn Schumann entstanden, und damals behielt sie stets die Übersicht. Doch an diesem Abend konnte sie den verschlungenen Linien der drei Instrumente nicht recht folgen. Es war, als wollte sie Wasser mit einem Sieb schöpfen. Die Töne gingen nicht ins Ohr, geschweige ins Herz. Sicher lag es an ihr. Mit fünfundsiebzig Jahren war man eben nicht mehr so gut beisammen.

Sie nahm den Programmzettel zur Hand und las: Konzertgeber – Friedrich Brahms, Kompositionen – Johannes Brahms. Wer hätte sich das träumen lassen? Und das mit einem vollen Saal. Sie sah die Stuhlreihen entlang. In der Mitte saß Professor Marxsen in Begleitung seines Neffen. Viele berühmte Leute waren gekommen und hörten andächtig zu. Wieder fehlte ihr der eine oder der andere Name. Doch sie ließ es dabei bewenden und widmete sich wieder dem Geschehen auf dem Podium. Mit welchem Elan ihr Jüngster musizierte. Wie immer war er akkurat gekleidet, passend zum Flügel, eine tadellose Erscheinung. Sie lehnte sich ein wenig zur Seite und berührte vorsichtig den Arm ihrer Tochter.

Was ist? flüsterte Elise, den Blick nach vorn gerichtet.

Christiane erkannte an ihren schmalen Augenschlitzen, daß sie noch immer unter Kopfschmerzen litt.

Schön, daß wir gefahren sind, Kleines, sagte sie und schenkte ihr ein Lächeln. Dabei schloß sie den Mund, um die Zahnlücken zu verbergen. Sie wollte noch anfügen, wie sehr ihr die anderen Familienmitglieder fehlten. Doch von beiden Seiten kamen böse Blicke, und so schwieg sie.

Vor allem war es Johannes, der ihr fehlte. Es war nicht allein, daß er in unerreichbarer Ferne wohnte. Seit dem heillosen Zerwürfnis mit ihrem Mann benahm sich ihr Liebling so merkwürdig. Er schien mehr zum Vater zu halten als zu seiner gebrechlichen Mutter. Wahrscheinlich hatte er kein Vertrauen mehr zu ihr. Das kränkte sie bis ins Innerste. Ihr Mann, das sagten alle, hatte jeden Kredit verspielt. Er betrieb selbstsüchtig die Scheidung, offiziell vor Gericht. Natürlich besaß er ungleich mehr Lebenskraft als sie. Aber warum hatte er eine Frau geheiratet, die siebzehn Jahre älter war als er? Dazu mußte er nun stehen. Stattdessen klagte er überall in der Stadt, wie sehr er unter Weib und Kind gelitten hätte. Wo war er überhaupt? Kam nicht einmal, wenn sein eigener Sohn spielte. Ein feiner Vater.

Seit ihr Mann zu Hause ausgezogen war, konnte man nicht mehr mit ihm reden. Vor allem die leidigen Geldgeschichten. Wo es ging, knauserte er am Haushaltsgeld. Wie sollten denn zwei erwachsene Menschen mit dem lausigen Zuschuß auskommen? Der Umzug im Herbst hatte sie in Schulden gestürzt. Elises Rechnung für den Zahnarzt stand aus. Die Miete wurde fällig. Das kümmerte ihn alles nicht. Zum Glück war Frau Dr. Schumann vor Weihnachten in Hamburg gewesen und hatte bei ihrem Besuch eine schöne Summe vom Hannes überbracht. Wenigstens eine kleine Zeit war keine Not.

Christiane Brahms fand zu der musikalischen Darbietung zurück. Fritz machte seine Sache gut. Wie er es den beiden älteren Mitspielern gleichtat, darauf konnte die Familie stolz sein. Doch was hieß hier noch Familie? Die Harmonie war seit langem getrübt. Im letzten Jahr ging es hoch her, wie in diesem ausgedehnten Musikstück, das sie angestrengt verfolgte.

Fritz hielt sich meist aus allem heraus, da kam er nach seinem Vater. Er hatte sein Einkommen als Klavierlehrer, seine Wohnung in der Theaterstraße, Zugang zur besseren Gesellschaft. So einer verirrte sich kaum mal in die Vorstadt von St. Georg. Doch Jakob kam gar nicht mehr. Wieder klopfte bei ihr der Ärger an. Seit ihr Mann im Philharmonischen Orchester spielen durfte, hatte er nur noch seinen Kontrabaß im Kopf gehabt. Elise mit ihrer Migräne konnte das ewige Üben eines Tages nicht mehr aushalten. Es kam zum Krach, ein heftiges Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter. Sie als Mutter mußte zu ihrem Kind halten, das verstand wohl jeder. Doch der alte Dickkopf war auf den Boden geflüchtet, im tiefsten Winter, hatte lieber gefroren als nachzugeben. Wahrscheinlich wollte er im Sinfoniekonzert den jungen Damen imponieren. Er drehte sich doch nach jedem Weiberrock um.

Und dann hatte ihr Hannes bestimmt, daß die Eltern auseinanderziehen. Ihre Hände verkrampften sich unwillkürlich. Die Wohnung in der Hohen Fuhlentwiete hatte sie gern gehabt. Nun, An der langen Reihe, lebte man wieder so beengt. Gewiß, es hätte alles nicht so weit kommen müssen. Aber in ihrem Alter verließen einen die Kräfte. Vorigen Winter war sie gestürzt, hatte sich den Arm gebrochen. Das Augenlicht ließ nach. Das Atmen fiel schwer, vor allem beim Laufen. Dann die aufreibenden Zwistigkeiten, schließlich der Umzug. Doch das Schlimmste war, daß der geliebte älteste Sohn ihr so fremd geworden war. Sie mümmelte mit den schmalen Lippen und schluckte. Bis dahin hatte es nie etwas Trennendes zwischen ihr und ihm gegeben. Sie konnte sein Mißtrauen einfach nicht ertragen.

Es hatte ganz unscheinbar begonnen. Zwölf Jahre lag das nun zurück. Das Leiden fing 1853 an, als Johannes mit dem ungarischen Geiger loszog, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Niemand konnte ihn aufhalten. Dieser Abschied war der Anfang, und dann folgte nur noch Trennung auf Trennung. Es wurde höchste Zeit, ihm zu erklären, warum sich mit den Jahren alles so verknotet hatte. Da er Weihnachten nicht nach Hause gekommen war, mußte sie ihm eben einen Brief schreiben. So viel Kraft würde sie noch aufbringen.

Das Klaviertrio ging auf den Schluß zu. Christiane Brahms beobachtete ihren Jüngsten mit Wohlgefallen. Sie hatte alle ihre drei Kinder gleich lieb. Es waren gute Kinder. Keiner durfte sie ihr wegnehmen.

Durch den Beifall schrak sie hoch. Wegen ihrer abschweifenden Gedanken sah sie schuldbewußt in die Runde. Sie wollte nur mit ihrem Leben zufrieden sein, mehr nicht. Doch an ihr nagte etwas, das sich schwer ausdrücken ließ. Im Brief würde es gelingen.

Schön hat der Jung’ gespielt, meinte Elise befriedigt.

Und alles so schwer auf dem Klavier, erwiderte die Mutter. Unser Hannes hätte seine Freude gehabt.

 

 

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