[= BzG – Kleine Reihe Biographien, Bd. 15], trafo verlag 2005, 68 S., ISBN (10) 3-89626-544-X, ISBN (13) 978-3-89626-544-9, 8,80 EUR
Zurück zur letzten Seite Zur Startseite des Verlages
Von
Paul Schäfer erfuhr ich 1980 zum ersten Mal etwas und zwar durch Zufall. Ich
war für einige Tage in Dresden und tat, was ich immer machte, wenn ich „in
der Republik“ war: Ich las die lokale Presse. Hier und diesmal war es die
UNION von der CDU, die mir in die Hände fiel und die SÄCHSISCHE ZEITUNG, das
Organ der SED-Bezirksleitung. Beide Blätter unterschieden sich nur geringfügig.
Ich war schon beim Zusammenfalten, als mir eine Notiz in die Augen sprang: Die
Bezirksleitung gratuliert ihrem Genossen Paul Schäfer zum 85. Geburtstag. Im
Text stand, dass der Jubilar Matrose in Kiel war und anschließend in Berlin bei
der Volksmarinedivision Dienst getan hatte. Das reichte, um meine Versessenheit
auf Augenzeugen der Geschichte zu wecken. Ich rief sofort in der Zeitung an,
aber dort weigerte man sich, mir die Adresse Paul Schäfers zu geben. Nach
Berlin zurückgekehrt, schrieb ich mit dem Kopfbogen meiner Redaktion an den
verantwortlichen Redakteur in Dresden, bat ihn um die Anschrift, endigte den
Brief „Mit sozialistischen Grüssen“ und ließ unsern Chefredakteur
unterschreiben, denn mir als einfachen Kollegen stand es nicht zu, wichtige
Briefe selbst zu zeichnen.
Zwei
Tage später kam die Antwort: Paul Schäfer, erfuhr ich, wohne in Großenhain.
Nun setzte ich mich ordnungs- und sittengemäß mit der zuständigen
Veteranenkommission in Verbindung –
diesmal selbst, denn mein Chefredakteur war genau so erpicht auf die Lebensumstände
des Mannes wie ich. Er drängte mich angesichts des hohen Alters von Paul Schäfer
sogar zur Eile.
Im
August 1980 war alles geregelt: Ich hatte zur Sicherheit noch einmal über die
Details der Kieler Rebellion nachgelesen, über die Revolution in Berlin und vor
allem über das Wirken der Volksmarinedivision. Bei meiner Recherche war ich
sogar auf einen Artikel in der Roten Front Nummer 42 des Jahrgangs 1928
gestoßen, in dem Paul Schäfer seine Erinnerungen an die Revolution
niedergeschrieben hatte. Die Nachforschungen fasste ich in mehr als fünf Seiten
Fragen zusammen und fuhr mit ihnen nach Großenhain. Aber Paul Schäfer benötigte
weder Denkanstöße noch Neugier. In seinen Sessel gelehnt, erzählte er sein
Leben. Routiniert und geschickt, ohne zu stocken. Gelegentlich hatte ich
Schwierigkeiten, ihn zu unterbrechen, um eine vertiefende Nachfrage zu stellen
oder mehr über eine Einzelheit zu erfahren, die – wenn überhaupt –
in den mir bekannten Büchern anders dargestellt wurde. Ich gewann den
Eindruck, dass mein Nachhaken den Erzählenden stört, nicht nur im Fluss seiner
Rede – er fand bei seiner Antwort nicht
sofort in den gewohnten mühelosen
Tonfall seines Vortrags zurück – sondern
auch im Lauf seiner Biographie, die er wahrscheinlich jede Woche einmal vor
Soldaten, Pionieren oder in Jugendweihestunden erzählen musste. Wie ein D-Zug
rasselten seine Worte. Während des Erzählens musste sein Leben wie ein Gedächtnisfilm
vor ihm abrollen. Manchmal schloss er die Augen, um die nächste Etappe seines
Daseins, seines Kampfes, seines Triumphes zu sehen. Dann ballte er schon im
voraus die Faust oder lächelte überlegen in sich hinein: Er wusste bereits,
was er erzählen würde noch ehe er die Worte dafür fand. Er sprach zupackend,
etwas abgehackt und sehr einfach. Seine Sprache überzeugte mich derart, dass
ich sie bei der Niederschrift seines Lebensweges weitestgehend behielt.
Außer
seiner Dorfschule und ein paar wochenlangen Lehrgängen nach dem Krieg hatten
ihm „nur Lebenserfahrungen und Klassenbewusstsein“ geholfen, die Aufgaben
bei der Volkspolizei der DDR zu erfüllen. Die Polizei war sein Leben. In ihr
ging Paul Schäfer vollkommen auf. Er brauchte nichts neben ihr, keine andere
Beschäftigung, kein Hobby. Ich denke noch heute, dass er sehr stolz auf sich
war, auf den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Jungen, der es immerhin
zum Major der Polizei gebracht hat. Es muss nicht gesagt werden, dass es Paul
Schäfer keine Gewissensbisse bereitete, der Staatsmacht mit allen seinen Kräften
zu dienen, denn wenn er je von etwas überzeugt war, dann davon, dass in diesem
Staat DDR die Gewehre von den richtigen Leuten gehalten und gebraucht werden.
Sein einziges, bestes und bestechendstes Argument in dieser Richtung: „Schließlich
trage ich selbst eine Waffe. Und das ist gut so.“
Im
Gegensatz zu anderen Zeitzeugen hatte ich nicht oft Gelegenheit, mit Paul Schäfer
über den Lauf seines Lebens zu sprechen. Er starb reichlich ein Jahr nach
unserer ersten Unterhaltung. Es war mir also nicht möglich, nach einer längeren
Zeit des „Sackens und Nachdenkens“ vertiefende Fragen zu stellen oder
weitere Einzelheiten aus seiner Biographie herauszukitzeln. Aber ich denke, das
war vielleicht auch gar nicht nötig. Mehr als er mir ohnehin schon erzählt
hatte, musste man über sein Leben nicht wissen. Davon war er ganz sicher überzeugt.
Ich jedenfalls bin es.
Klaus Kühnel
Zurück zur letzten Seite Zur Startseite des Verlages