[= Abhandlungen der Leibniz-Sozietät, Bd. 17], trafo verlag 2005, 230 S., ISBN (10) 3-89626-531-8, ISBN (13) 978-3-89626-531-9, 24,80 EUR
Vorwort
Diese
Festschrift ist nach dem aus einem Kolloquium zum 65. Geburtstag des Jubilars
hervorgegangene Band "Gibt es erledigte Fragen an die Geschichte (1996) die
zweite größere Publikation, in der Freunde und Kollegen das Lebenswerk von
Walter Schmidt mit Beiträgen aus ihren eigene, oft von ihm direkt oder indirekt
angeregten Forschungen würdigen. Diesmal sind erfreulicherweise mehr als damals
Autoren aus Ost und West beteiligt –
was im nun 15 Jahre neu vereinten Deutschland immer noch keine Selbstverständlichkeit
ist und daher besondere Hervorhebung verdient. Festgaben
versammeln zumal bei Jubilaren mit breitem fachlichen Spektrum zumeist Beiträger
sehr unterschiedlicher Forschungsgebiete und damit auch weit verzweigte
Themenfelder. Das ist in unserem Fall nicht anders, trotz der übergreifenden
Problematik von Revolution und Reform vor allem im 19. Jh., dem Walter Schmidts
Forschungsinteresse in erster Linie gilt. Es würde zu weit führen, eingangs
alle Themen einzuführen und ihre Beziehung zum Werk Walter Schmidts
aufzuzeigen. Genannt seien lediglich die thematischen Schwerpunkte frühe
Arbeiterbewegung und Revolution von 1849/49, die auch im Zentrum seiner eigenen
Arbeiten stehen, und eine Erläuterung bedarf auch die Einteilung in zwei Bände,
die uns angesichts der erfreulich großen Zahl der beteiligten Autoren
angemessen schien, um statt eines allzu voluminösen Bandes zwei handliche
Teilpublikationen vorzulegen. Außerdem ergab sich eine klare inhaltliche
Differenzierung nach Beiträgen über das Geschehen selbst, und solche, die es
mehr von der Metaebene aus betrachten, d.h. in "Ereignisse und
Prozesse" einerseits, "Ideen und Reflexionen" andererseits.
Erstere haben die großen Spannweite von den unter napoleonischen Protektorat
angeregten bürgerlichen Reformen bis zur Revolution von 1918/19. Bei letzteren
reicht das Angebot vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den Nürnberger
Prozesse und der Darstellung der DDR-Geschichte in aktuellen Schulbüchern.
Wir
haben allen Autoren für ihre Mitarbeit und besonders dem Verleger Wolfgang
Weist für vorbildlich engagierte und kurzfristig ermöglichte Herstellung zu
danken. Ohne das sehr disziplinierte Zusammenwirken aller Beteiligten wäre die
Publikation in so kurzer Frist – die Idee hatten wir etwa ein Jahr zuvor –
sicher nicht zustande gekommen. Bei
der Gestaltung der Anmerkungen wurde auf eine strenge Vereinheitlichung
verzichtet und lediglich auf Konsistenz innerhalb der einzelnen Beiträge und
darauf geachtet, daß die bibliographischen Angaben eindeutig sind. Berlin,
im April 2005 Helmut
Bleiber und Wolfgang Küttler |
Wolfgang
Küttler – Laudatio
Helmut
Bock: Das Königreich Westphalen. Napoleonisches Protektorat und liberalistische
Reformen
Helga
Raschke: Von der mittelalterlichen Stadtverfassung in Gotha bis zur
Verfassungsreform 1832
Jörg
Roesler: Mit Blick auf den Weltmarkt? Preußens
Außenhandelspolitik zwischen 1818
und 1870
Gunther
Hildebrandt: Franz von Stadion und die Reform der österreichischen Gemeinden
Heinz
Warnecke: Zum Verzeichnis der 1848er Märzgefallenen Berlins
Kurt
Wernicke Als Trojanisches Pferd in der Berliner Bürgerwehr? Ludwig Urban
Blesson (1790–1861)
Wolfgang
Büttner: Der Tod des Louisdorus von Rechtsboden. Politische Annoncen anno 1848
François
Melis:
Wer schrieb die
Artikelserie über den belgischen “Riesenprozess” “Affäre Risquons-Tout”
(1848)?
Helmut
Bleiber: Zur Wirkungsgeschichte der “Neuen
Rheinischen Zeitung” – Nachdrucke in der preußischen Provinz Schlesien
Susanne
Schötz: Von 1848 nach 1865? Bausteine zur Kollektivbiographie der Gründerinnen
und Gründer der deutschen Frauenbewegung
Wolfgang
Schröder: Eroberung eines legalen Aktionsfeldes: Wie Wilhelm Liebknecht in die
II. Kammer des sächsischen Landtags kam
Gerd
Fesser: Zur Reformpolitik im deutschen Kaiserreich 1890 bis 1914
Reinhold
Zilch: Bürokratie in der Revolution – aus der Geschichte des preußischen
Kultusministeriums 1918
Bibliographie
Walter Schmidt 1995–2005
Autorenverzeichnis
von
Wolfgang Küttler
Walter
Schmidt gehört zweifellos national und international zu den profiliertesten
Historikern für die Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und die
Geschichte der Revolution von 1848/49. Sein Lebenswerk ist auf das engste mit
der Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der DDR verbunden, an der er nicht
nur durch seine wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch wissenschaftspolitisch
und organisatorisch bedeutenden Anteil hatte.[1]
Geboren
am 11. Mai 1930 in Protsch-Weide, Kreis Breslau, besuchte er 1936–1942 die
Volksschule in der Kleinstadt Auras an der Oder und dann bis zum Vordringen der
sowjetischen Truppen im Januar 1945 eine private Oberschule in Breslau, wo ihn
sein Vater trotz der damit verbundenen finanziellen Aufwendungen anmeldete, um
ihn vor der Aufnahme in eine Napola zu bewahren. Der Vater Josef Schmidt
(1895-1943) war gelernter Elektroinstallateur und seit Anfang der 1920er Jahre
politisch in der KPD tätig. Er blieb auch nach 1933 seiner antifaschistischen Gesinnung treu, wurde im Jahr 1942
wegen "heimtückischer" Agitation zunächst in Breslau zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt und dann, nachdem dieses Urteil von Berlin aus kassiert
worden war, wegen "Wehrkraftzersetzung" und "Vorbereitung zum
Hochverrat" zum Tode verurteilt und im November 1943 hingerichtet.
Walter
Schmidt berichtet in zwei seiner jüngsten Arbeiten über das Leben, den Prozeß
und den Tod des Vaters [2005a] sowie über den Auraser Pfarrer Martin Scholl
[2005b], bei dem er ab 1942 Unterricht hatte und der ihn und seine Mutter, so
gut er konnte, in dieser schweren Lebensphase unterstützte. Diese gründlich
recherchierten Arbeiten, die zugleich autobiographische Erinnerungen an diese
schwere Zeit enthalten, beeindrucken durch die unaufgeregte, quellennahe
Darstellungsweise, die um so mehr emotional bewegt, als sie auch nicht
verschweigt, daß durch die Kriegshandlungen der sowjetischen Truppen auch
Unschuldige umkamen wie der Pfarrer Martin Scholl, der im Januar 1945 erschossen
wurde. Wer heute vom verordneten oder oktroyierten Antifaschismus in der DDR
leicht dahinredet, möge in diesem und ähnlichen Berichten nachlesen, ehe
sicher auch berechtigte kritische Beobachtungen späterer Ausdrucksformen und
Tabus (z.B. wäre es in der DDR nicht möglich gewesen, so schonungslos über
die damaligen Ereignisse zu schreiben) vorschnell generalisiert und vor allem außerhalb
eines angemessenen beiderseits kritischen Bezugsrahmens für den Umgang mit dem
Faschismus in Ost und West nach 1945 angestellt werden.
Wie viele Gleichaltrige
und Gleichgesinnte aus der maßgeblich an der Gestaltung einer sozialistischen
Gesellschaft in Deutschland beteiligten "Aufbaugeneration" erhielt
somit auch Walter Schmidt - und
in seinem Fall unmittelbar mit dem tragischen Familienschicksal
verbunden- entscheidende Impulse für die Lebensentscheidung, sich mit ganzer
Kraft für die Gestaltung einer anderen, zum bisherigen, in der Katastrophe
endenden Weg alternativen Gesellschaftsordnung einzusetzen, aus persönlichen
Erfahrungen mit Faschismus und Krieg.
Den
harten anderthalb Jahren nach dem Kriegsende, in denen es für ihn und seine
Mutter oft genug ums nackte Überleben ging - er arbeitete 1945 als Krankenträger
und Schmiedegehilfe in einem sowjetischen Frontlazarett, später 1946 als Mühlenarbeiter
bei der polnischen Verwaltung in Auras -
folgte schließlich die Umsiedlung nach Thüringen. An
der Theodor-Neubauer-Schule in Greiz, wo er 1947–49 die durch Krieg und
Umsiedlung unterbrochene Schulzeit fortsetzte, bestand er 1949 das Abitur. Hatte
er schon durch seinen Vater und die dem faschistischen Ungeist zumeist
fernstehenden Lehrer in Auras viele Anregungen für geschichtliche Interessen
erhalten, so gaben in diesen Jahren der Einfluß eines engagierten Neulehrers
und des später im Archivwesen profilierten Fritz Beck, der als junger
Praktikant in Greiz unterrichtete, den Ausschlag, daß er sich für den Beruf
des Historikers entschied. Erstudierte 1949 bis 1953 Geschichte, Slawistik,
Philosophie und Pädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Akademische Lehrer waren hier u.a. der Historiker Karl Griewank, bei dem er auch
seine schon die Richtung künftiger Forschungen weisende Examensarbeit über das
Verhältnis der Neuen Rheinischen Zeitung zu Polen schrieb [1961], Hugo Preller,
Friedrich Schneider, Karl Heussi und Felix-Heinrich Gentzen, der Philosoph Georg
Klaus, der Pädagoge Karl Schrader und die Slawisten Reinhold Trautmann und
Gertrud Pätzsch.
Schon
diese Namen verweisen auf eine anregende und zugleich konfliktreiche Atmosphäre
des Nebeneinanders progressiver bürgerlicher und marxistischer Wissenschaftler.
Hier erwarb er ein solides Fachwissen als Historiker und engagierte sich
zugleich schon streitbar für den Marxismus und politisch in der SED. Dieser Weg
führte ihn nach dem Studium an das Institut (später Akademie) für
Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in Berlin, wo er bis 1984 zunächst
als Assistent (1953–1962), dann als Dozent (1962), Professor mit
Lehrauftrag(1965) und seit 1969 als Ordentlicher Professor am Lehrstuhl für
Geschichte der Arbeiterbewegung tätig war, den er von 1964 bis 1984 leitete.
Forschungsschwerpunkt
war hier zunächst die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Marxismus in
ihrer Entstehungszeit und in der Revolution von 1848/49; 1961 promovierte er mit
einer biographischen Arbeit über "Wilhelm Wolff- sein Weg zum
Kommunismus" (als Buch erschienen 1963), zu dessen Wirken auch später noch
mehrere Veröffentlichungen folgten [u.a.1976] und 1969 habilitierte er mit
Studien zur Marx-Engels-Forschung und zur frühen Arbeiterbewegung.
Von
Anfang an verband er die Liebe zur quellengesättigten historischen Forschung
mit theoretischer Begabung und konzeptionellem Weitblick - Eigenschaften, die
ihn zusammen mit der führenden Position in einem der Parteiinstitute frühzeitig
auch für Leitungsaufgaben im Rahmen der Geschichtswissenschaft der DDR
disponierten. In den 1970er und 1980er Jahren wurde er einer der einflußreichsten
Historiker der DDR. Er wirkte in wichtigen Leitungsgremien und in den
Herausgeberkollegien zentraler Geschichtswerke wie der "Geschichte des
deutschen Volkes" und der "Geschichte der Arbeiterbewegung" und
wurde schließlich 1984 zum Direktor des Zentralinstituts für Geschichte an der
Akademie der Wissenschaften der DDR berufen, die ihn 1981 zum korrespondierenden
und 1985 zum ordentlichen Mitglied wählte.
Diese
Funktionen, noch mehr aber der Impetus, die einmal als richtig erkannte Sache
durchzusetzen und voranzubringen, ließen ihn in vieler Hinsicht weit über die
eigenen Forschungsgebiete hinaus auch interpretationsmächtig werden. Das betraf
nicht nur theoretisch-methodologische Fragen der Periodisierung, des Verhältnisses
von Revolution von unten, Reformen und Revolution von oben im 19. Jahrhundert,
der Hegemonie in der bürgerlichen Revolution von 1848/49 [1990,1994] und schließlich
historiographiegeschichtliche Forschungen zur
Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der DDR. Er wirkte auch aktiv
und z.T. maßgeblich mit bei der Ausarbeitung allgemeiner Konzeptionen zu
Grundfragen der deutschen Geschichte und zu geschichtspolitisch relevanten
Themen wie z.B. der Frage, ob das Volk der DDR mit der Gestaltung einer
sozialistischen Ordnung auch im Begriffe sei, sich als selbständige Nation zu
konstituieren. [1974]
Wohl
hat er in diesen Zusammenhängen vorgegebene und selbst mit konzipierte
Prinzipien und Entscheidungen konsequent und manchmal auch rigoros vertreten. In
Streitfragen suchte er aber, so weit es im Rahmen gegebener Verhältnisse als möglich
erschien, die argumentative Auseinandersetzung mit anderen Positionen, und dies
auch in der internationalen Auseinandersetzung mit der westlichen
Geschichtswissenschaft, in der er zwar den prinzipiellen Gegner, aber auch den
ernstzunehmenden Partner in der scientific community anerkannte.
Die
Intention, auf gesellschaftliche Veränderungen wie auf neue
Wissenschaftsentwicklungen zu reagieren und solche selbst anzuregen, leitete ihn
besonders bei der aktiven Beteiligung an der Diskussion des Verhältnisses der
DDR-Gesellschaft zum nationalgeschichtlichen Erbe.[1988a, Einleitung] Dabei ging
es vor allem um die realgeschichtliche und subjektive Wechselbeziehung der
Existenz und der Reflexion der zuvor oft schematisch einander konfrontierten
progressiven und reaktionären Entwicklungslinie deutscher Geschichte[1986]. Die
Einsicht in die Unteilbarkeit des geschichtlichen Erbes bei positiver
Hervorhebung der eigenen Tradition war das wohl wichtigste Ergebnis dieser
Debatte, an dessen Zustandekommen der Jubilar wesentlichen Anteil hatte.[1988b]
Seine
eigenen Forschungsgebiete - die Arbeiterbewegung und die Revolution von 1848/49
- standen von Anfang an im Zentrum dieses Streits um kritische Veränderungen.
Hier vor allem bemühte sich Walter Schmidt in den 1970er und 1980er um eine
Ausweitung der Forschungsfragen und des Geschichtsbildes [1973]. Zum einen ging
es um die Differenzierung und Historisierung des bisher als zentraler Maßstab für
das Gesamtbild der Revolution geltenden Einflusses der Kommunisten und besonders
des entstehenden Marxismus[1987], um eine realistische Analyse ihrer Möglichkeiten
und Grenzen im Revolutionsgeschehen [1979]. Daraus folgte andererseits ein verändertes
Herangehen an die Rolle der Bourgeoisie und der bürgerlichen Demokratie im Verhältnis
von Revolution und Konterrevolution. Die These vom Verrat an der Revolution
wurde nicht aufgegeben, aber nunmehr konkret an den eigenen liberalen Zielen vor
und in der Revolution, an den Erfordernissen der bürgerlichen Umwälzung und
ihren möglichen "Wegen" bzw. Typen [1978,1979] gemessen, ohne diese
von vornherein einseitig auf proletarisch-sozialistische Fernperspektiven zu
beziehen [1984b]. Deren Relativierung ergab sich nicht nur aus der genaueren
Analyse der Revolutionsgeschichte, sondern auch dann, wenn die Ansichten der
Begründer des Marxismus in ihrer Entwicklung und Veränderung betrachtet
wurden[1989].
Wichtige
kritische Anregungen holte sich Walter Schmidt auf diesem Felde bei dem
Diskussionskreis zur allgemeinen Revolutionsgeschichte um Walter Markov und
Manfred Kossok in Leipzig, an dem er sich schon frühzeitig sehr aktiv
beteiligte[1982]. Hier wurden stellvertretend, aber streng auf ältere Epochen
bezogen, auch Grundfragen der allgemeinen Revolutionsgeschichte verhandelt- daß
es kryptisch und nicht offen dort geschah, wo es hätte wirken müssen, ist
wiederum den gegebenen, aber auch selbst gesetzten und so verinnerlichten
Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses in diesem Sozialismus geschuldet. [Küttler/Middell/Zeuske
2000, S. XXXVII–XL]
Für
die Würdigung eines Historikers, der nunmehr auf ein gelebtes Dreiviertelsäkulum
und auf gut ein halbes Jahrhundert sehr fruchtbarer wissenschaftlicher Arbeit
zurückblicken kann und dabei einen Umbruch erlebt hat, der vieles vom eigenen -öffentlichen
und privaten- Lebensprogramm zunichte machte, ist eine Frage von besonderem
Belang, die von Freunden und Kollegen in Anspielung auf eine ältere Veröffentlichung
des Jubilars als Motto des zu seinem 65. Geburtstags veranstalteten Kolloquiums
gestellt wurde: "Gibt es erledigte Fragen an die Geschichte?" [Küttler/Meier
1996] – er hatte sie selbst anderthalb Jahrzehnte zuvor in bezug auf das
nationalgeschichtliche Erbe für die DDR-Geschichtswissenschaft aufgeworfen
[1981] Sie wurde nunmehr im Jahre1995, noch unmittelbar unter dem Eindruck der
Epochenwende von 1998/90 und der folgenden "Abwicklung" von Staat und
Institutionen der DDR, die auch Walter Schmidt sehr direkt betroffen hatte,
absichtsvoll gestellt. Es galt nämlich gerade für die Betroffenen, kritische
Bilanz zu ziehen über eigene Fragen, die von der marxistischen Historiographie
zuvor gestellt und erforscht und auf die geschichtsbildliche Antworten gegeben
worden waren, die nun allesamt auf dem harten Prüfstand des realgeschichtlichen
Umbruchs be- und zumeist verurteilt wurden.
Was
damals besprochen und geschrieben wurde, hat sich seither durch neue historische
Erfahrungen erhärtet: Vieles hat sich tatsächlich mit dem Zusammenbruch dieses
Sozialismus erledigt, und der Jubilar selbst hat in sehr ehrlichen Bilanzen des
eigenen Tuns [ z.B. zum Nationskonzept 1993 u.1996] und der
Geschichtswissenschaft der DDR insgesamt [1992, für die Revolutionsforschung
1994]Abschied genommen von Illusionen, Fehlern und wie auch immer bedingten
Beschränkungen kritisch-wissenschaftlicher Vernunft, wie sie nicht nur von außen
auferlegt, sondern auch innerlich mitgetragen, d.h. je nach Position und Wirkung
auch mitverantwortet wurden. Die Hegelsche "List der Geschichte"
erweist sich nun aber auch daran, daß es - sehen wir von unverwechselbaren
ideologischen Riten des Geschichtsbetriebs in den sozialistischen Ländern
einmal ab - unmöglich ist, Erledigtes und Unerledigtes fein säuberlich zu
trennen, Richtiges und Falsches auszusondern und in spezielle Speicher
einzugeben. Vielmehr wechseln Perspektiven und Einfärbungen, und sie werden
sich mit fortschreitender Entwicklung und deren neuen wie auch alten Widersprüchen
weiter verändern. Wer also was künftig rezipiert, sollte
folgenden Generationen bei der Bewältigung ihrer Geschichte und dem
Aufwerfen ihrer Fragen an die Geschichte überlassen bleiben.
Was
schließlich das Geleistete betrifft, so hat der Jubilar mit ungebrochener
Arbeitskraft und Forscherleidenschaft nach der "Abwicklung" selbst überzeugend
dafür gesorgt, daß sein Lebenswerk in anderem Rahmen und mit modifizierten
Themen, gleichwohl auf den vertrauten Gebieten der Arbeiter- und
Revolutionsgeschichte keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Davon zeugt die
in diesem Band nachzulesende Bibliographie der letzten zehn Jahre sehr
eindrucksvoll.
Wenn
runde Gedenktage oder -jahre ein Gradmesser dafür sind, dann war es in seinem
Fall das Jubiläumsjahr "seiner" Revolution 1998. Daß hier kaum etwas
erledigt, aber vieles neu zu bedenken und zu erforschen sei, bewiesen die vielen
Gedenkfeiern, auf denen von 1998 auf 1848 zurückgeblickt wurde, und noch mehr
die Masse der erschienenen wissenschaftlichen und populären Literatur zu einem
Phänomen, das der Zeitgeist im Westen ein Jahrzehnt zuvor schon als erledigt
abtun wollte. Walter Schmidt hatte in den 1990er Jahren selbst und im fern von
staatlicher Förderung aktiv gebliebenen Kollegenkreis vorgearbeitet [1994]und
konnte jetzt und in der Folgezeit neue biographische, editorische und
monographische Arbeiten vorlegen bzw. anregen. Auf dieser Basis konnte er sich
auch kompetent in die Bilanzliteratur zur Revolutionsforschung einmischen und
etwas leisten, was jüngere und vor allem im Westen sozialisierte Kollegen so
kaum überblicken: nämlich die Problemverknüpfungen aufzuzeigen, die alte und
neue Fragen an die Revolution, vor 1989 in Ost und West und nach 1990 in veränderten
gesellschaftlichen Zusammenhängen miteinander verbinden. [1998]
Dank
Walter Schmidts Initiative bildete sich im Jahre 1992 ein Arbeitskreis zur Vormärz-
und 1848/ 49er Revolutionsgeschichte, der – seit 2002 unter Schirmherrschaft
der Leibniz- Sozietät – bis heute von ihm geleitet wird. Eine Reihe von
Buchpublikationen, darunter „Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution.
Studien zur deutschen Revolution von 1848/ 49 (1998) und „Akteure eines
Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution 1848/ 49“ (2003) zeugen von der
wissenschaftlich anregenden und fruchtbaren Atmosphäre, die in diesem Gremium
herrscht. Die Beobachtung, daß zu Schlesien im Unterschied zu den meisten
anderen Regionen im 1848er Revolutionsgedenkjahr 1998 kaum etwas veröffentlicht
wurde, sowie wohl auch emotionale Bindungen an des Land seiner Kindheit und frühen
Jugend veranlaßten Walter Schmidt, sich in den letzten Jahren mit mehreren Veröffentlichungen
zur Geschichte insbesondere der schlesischen demokratischen Bewegungen im Umfeld
von 1848 zu Wort zu melden. Von bewundernswürdiger Arbeitskraft zeugt nicht
zuletzt seine Mitarbeit am „Biographischen Lexikon der Deutschen
Burschenschaft“, an dessen bis zur Zeit erschienenen Bänden er als Autor oder
Mitautor mit annähernd 500 Beiträgen beteiligt ist.
Besondere
Erwähnung verdient, daß er sich nach
frühzeitigem Rücktritt von Leitungsämtern, mit denen er der
"Abwicklung" des Instituts zuvorkam, 1990-93 mit aller Energie der
Rettung der textkritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe widmete, indem er deren Überführung
in die Obhut der Akademie der Wissenschaften mit bewirkte und dann als
Vorsitzender der MEGA-Kommission der Akademie sowie seit 1993 als
Beiratsmitglied der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam sich tatkräftig
für die Weiterührung einsetzte. Als die Akademie der Wissenschaften auch als
Gelehrtensozietät abgewickelt worden war, engagierte er sich sogleich in deren
Weiterführung als Leibniz-Sozietät, der 2002 auch sein Arbeitskreis zur
Geschichte der 1848er Revolution affiliiert wurde.
Summa
summarum: Wer Walter Schmidt als Disputanten in der Wissenschaft, als Repräsentanten
offizieller Gremien, als Kollegen "inter pares" und vor allem auch als
Vorgesetzten erlebt hat, wird eine seltene Konsistenz von Charakter und
Professionalität erkennen: Eine glückliche persönliche Disposition hat ihn
von vornherein vor dem Nimbus ideologischer Unfehlbarkeit und leitungsgewaltiger
Unnahbarkeit bewahrt. Führungsstark und ausstrahlungskräftig, offen, ja
extrovertiert und mitunter heftig aufbrausend, dabei aber nie nachtragend und
vor allem - wenn nicht sofort, so doch mindestens im weiteren Überdenken -
kritisch gegenüber eigenem Verhalten und eigenen Leistungen, trotz der
Hemmnisse einer früh hindernden chronischen Krankheit stets fröhlicher
Geselligkeit zugetan- hat er sich die Zuneigung vieler, mindestens aber die
Achtung aller Kollegen und Mitarbeiter erworben. Diese Eigenschaften
erleichterten ihm auch, sich jenseits der Institutionen und gesellschaftlichen
Bedingungen, für die er ein Leben lang gewirkt hatte, über die Kontinuität
wissenschaftlichen Strebens und mit kritischem politischem Engagement nach 1990
neu zu orientieren. Mögen ihm diese sehr vitalen Kräfte noch möglichst viele
Jahre unvermindert erhalten bleiben!
Wolfgang
Küttler/Matthias Middell/Michael Zeuske 2000: Manfred Kossok - Wege zur
Weltgeschichte, in: Manfred Kossok Ausgewählte Schriften, Bd.1, Leipzig.
Wolfgang
Küttler/Helmut Meier (Hgg.) 1996: Gibt es erledigte Fragen an die Geschichte.
Wiss. Kolloquium zum 65. Geburtstag von Walter Schmidt, Berlin.
1961:
Der Kampf der "Neuen Rheinischen Zeitung" um ein festes Kampfbündnis
der polnischen und deutschen Biographie, in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR
und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 5, 1961
(Publikationsfassung der Jenaer Examensarbeit von 1953)
1963:
Wilhelm Wolff- sein Weg zum Kommunisten, Berlin.
1973
(Leiter des Autorenkollektivs): Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution
1848/49, Berlin. Weitere Auflagen 1975 u. 1988.
1974
zus. mit Alfred Kosing: Zur Herausbildung der sozialistischen Nation in der DDR,
in: Einheit 29.
1976
Wilhem Wolff. Kampfgefährte und Freund von Marx und Engels, Berlin.
1978:
Zu den Wegen der bürgerlichen Umwälzung, in_ ZfG Jg. 26, H.3
1979:
Zu Problem der europäischen bürgerlichen
Revolutionen von 1848/49. Hegemoniefrage, Typologisierung, Ergebnisse, in: ZfG
Jg.27, H.7.
1981:
"Das Gewesene ist nie erledigt." Worauf muß sich eine
Nationalgeschichte der DDR stützen?, in Sonntag Jg.35, Nr.27, S.9.
1982
mit Margot Hegemnann u.a.: Die europäischen Revolutionen 1848/49, in: Manfred Kossok (Hrsg.), Revolutionen der Neuzeit
1500-1917, Berlin.
1984a:
Waren die preußischen Reformen eine "Revolution von oben?", in: ZfG
Jg. 32,H.11.
1984b
(Leiter des Autorenkollektivs): Deutsche Geschichte Bd.4: Die bürgerliche Umwälzung
von 1789 bis 1871, Berlin.
1986:
Das Erbe- und Traditionsverständnis in der Geschichte der DDR
(=Sitzungsberichte der Akadenie der Wissenshgcaften der DDR G 1985,5), Berlin.
1987:
(Hg.) Der Auftakt der deutschen Arbeiterbewegung. Beiträge zur ersten Periode
ihrer Geschichte 1836-1852, Berlin.
1988a
Hg. mit Helmut Meier: Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der
Historiker, Berlin.
1988b:
Aspekte der Erbe- und Traditionsdebatte in der Geschichtswissenschaft, in:
Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR 1 G /Berlin.
1989:
1789, 1848 und der bürgerliche Revolutionszyklus in Marx' und Engels' Sicht
(1852-1895], in: Walter
Schmidt/Wolfgang Küttler/Gustav Seeber (Hrsg.), Große Französiosche
Revolution und Arbeiterbewegung, Berlin.
1990:
Bürgerliche Revolution und proletarische Eamanzipation in der deutschen
Geschichte.
1992:
DDR-Geschichtswissenschaft im Umbruch. Leistungen - Grenzen - Probleme, in:
Rainer Eckert/Wolfgang Küttler/ Gustav Seeber, Krise- Umbruch- Neubeginn. Eine
kritische und selbstkritische Dokumentation der DDR-Geschichtswissenschaft
1989/90, Stuttgart.
1993:
The Nation in German Historiy, in: Mikulas Teich/Roy Porter, The National
Question in Europe in Historical Context, Cambridge.
1994
Die 1848er Revolutionsforschung in der DDR. Historische Entwicklung und
kritische Bilanz, in: ZfG 42, H.1.
1996
mit Alfred Kosing: Das Zwei-Nationen- Konzept der SED und sein Scheitern ( hefte
zur ddr-geschichte, 38), Berlin.
1998:
Das Erbe der Revolution von 1848 in den Jubiläumsjahren 1948-1998, in:
Sitzungsberichte der Leibnizsozietät Bd. 27, 1998,8
2005a:
Josef Schmidt (16. März 1895 bis 8. November 1943). Erinnerungen an meinen
Vater), in: Antifaschismus als humanistisches Erbe in Europa. Festschrift zum
60. Geburtstag von Rolf Richter. Hrsg.v. Roland Bach u.a., Berlin.
2005b:
Martin Scholl (1898-1945). Pfarrer in Auras in nationalsozialistischer Zeit, in:
Archiv für schlesische Kirchengeschichte Jg.63, Münster (im Druck)
[1]
Biographische Daten vgl. in: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 2003,
Bd. II, S. 2953, und Horst Haun,in: Jochen Cerny
u.a. (Hg.), Wer war wer- DDR. Ein biographisches Lexikon, Berlin
1992, S.400, und: Wer war Wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch,
Berlin 1994, S. 648, u. stark erweiterte Ausgabe Frankfurt/Main 1995. Das
vollständige Schriftenverzeichnis bis 1995 in: Küttler/Meier 1996; die
Fortsetzung bis Anfang 2005 in diesem Band. Im folgenden Text beziehen sich
die in Klammern gesetzten Jahreszahlen ohne Autorangabe auf Arbeiten von
Walter Schmidt, die unten im Literaturverzeichnis ausgewiesen sind.